Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Wir brauchen die Kraft der Hoffnung. Wir sollten aber nicht blind sein“

Mai 2023
Im Mai findet in Götzis der Kongress „My Hope. Mut zur Hoffnung“ statt, einer der Referenten ist Wilhelm Schmid (70). Im Interview mit „Thema Vorarlberg“ spricht der deutsche Philosoph vorab über die Zwiespältigkeit der Hoffnung. Der Bestseller­autor sagt: „Wir können uns nicht eine Welt zurechtmachen, in der es immer nur die positive und nie die negative Seite gibt.“

Herr Schmid, gegenwärtig folgt Krise auf Krise. Ist denn der, der hofft, dass alles gut wird, letztlich nur ein naiver Mensch? 
Nein. Es wird auch alles wieder gut werden. Die Gegenwart ist auch nicht so schlimm. Sie wird nur deshalb als so schlimm empfunden, weil viele Menschen die Maßstäbe verloren haben. Mich würde interessieren, was ein Mensch über diese Krisen denkt, der gerade den Zweiten Weltkrieg hinter sich gebracht hat. Wir waren verwöhnt von einigen Jahrzehnten großer Ruhe und von Frieden, haben in dieser Zeit allerdings auch ein paar Dinge übersehen. Das soll uns nicht schon wieder passieren.

Was haben wir übersehen?
Also speziell in unseren Breiten haben wir übersehen – oder nicht sehen wollen –, dass die billige Energie, die wir aus einem fremden Land bezogen haben, politische Implikationen hatte. Wir hatten gehofft, dass alles gut geht, doch in dem Fall war die Hoffnung trügerisch. Die Erfahrung zeigt, dass Hoffnung sehr häufig berechtigt ist, aber eben nicht in jedem Fall. Und deswegen sollten wir nicht so gutgläubig sein. 

Das Motto des Kongresses „Mut zur Hoffnung“ scheint dennoch eminent wichtig zu sein.
Ja. (Pause) Ich zögere, weil ich die Gefahr sehe, dass wieder nur die positive Seite der Hoffnung hervorgehoben wird. Und es beim großen Plädoyer bleibt: ‚Ihr hofft doch, bitte!‘ Aber wenn wir nur die positive Seite sehen, dann laufen wir ins nächste Messer.

Weil Hoffnung zwiespältig ist, weil sie positiv und negativ sein kann?
Genau! Hoffnung ist zwiespältig. Wir sollten Hoffnung in ihrer Widersprüchlichkeit sehen. Wir brauchen ihre positiven Seiten, aber sie kann auch trügen und uns in die Irre führen. Es ist wie im Privaten: Je größer die Hoffnung ist, desto größer kann auch die Enttäuschung sein. Und ich möchte uns gerne die nächsten großen Enttäuschungen ersparen. Deshalb …

Ja, bitte?
Deshalb bedarf Hoffnung der kritischen Überprüfung. Wir müssen im Leben ein Gespür dafür bekommen, wo Hoffnung am Platz ist und wo wir sie besser fahren lassen.

In einem Essay zum Thema schreiben Sie: „Ein Problem ist, dass eine Hoffnung auch eine Vertröstung auf ewig sein kann, sodass Menschen ewig hoffen, und ewig vergeblich.“
Das ist die Realität in nicht wenigen privaten Beziehungen. Dass zum Beispiel eine Frau hofft, dass der Mann, den sie liebt, sie auch wieder lieben möge. Und darüber vergehen Wochen und Monate und sogar Jahre und letztlich ist die Hoffnung vergebens. Da würde ich schon sagen, ein Mensch sollte für eine Hoffnung auch einmal eine Deadline setzen. Bis zu dieser Deadline zu hoffen, ist in Ordnung. Darüber hinaus ist es Leichtsinn.

Sie sagen auch mit Blick auf den Klima­wandel, in Bezug auf die junge Generation:
‚Es ist vieles angekündigt worden, und nur wenig ist geschehen.‘ Und das zerstört Hoffnung.

Das ist so. Darüber lässt sich schwerlich streiten. Wir wissen seit Jahrzehnten, was in Fragen des Klimas auf uns zukommt. Seit Jahrzehnten hatten wir die Möglichkeit, gegenzusteuern, erforderliche Technologien waren bereits in den 1990er Jahren vorhanden. Wir haben es dennoch nicht getan. Und dafür müssen wir uns vor der jungen Generation verantworten. Für die Älteren ist die Zeit, die sie aushalten müssen, nur eine kurze, für die Jüngeren ist es das ganze Leben. Daher kann ich die Wut und Verzweiflung junger Generationen sehr gut verstehen. Was ich nicht teile, ist, was einige sich dann einfallen lassen, um Menschen zur Einsicht zu zwingen. Das ist völlig kontraproduktiv.

Aber zurück bleibt eine desillusionierte Jugend.
Ja. Und es wird ihnen leider nichts anderes übrig bleiben, als die Arbeit zu erledigen, die unsere Generation sich sparen wollte. Ich darf mich persönlich ausnehmen, ich habe schon in den 1990er-Jahren darüber publiziert. Alle Daten waren damals schon verfügbar, alles, was damals vorausgesagt worden ist, ist so eingetroffen. Aber was hilft’s, wenn ich persönlich meinen Kindern sagen kann: ,Ich hab’s versucht, aber es war vergebens.‘

Apropos. Sie zitieren Albert Schweitzer, wonach hoffen Kraft sei, schreiben im weiteren Verlauf aber auch, dass Schweitzer „das nach unseren Begriffen Sinnlose des Weltgeschehens“ beklagt hatte, das Sinnlose, das Anlass zum Pessimismus sei….
Ja. Man darf aber nicht vergessen, er kam gerade aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges. Das Sinnlose des Weltgeschehens lag damals offen. Das war das, was die Welt eben erst hinter sich gebracht hatte. Was ist, wenn ein Verrückter andere Länder überfallen kann? Auch damals musste die Welt zur Einsicht kommen, dass so etwas mit guten Worten nicht zu beenden ist. Und zu dieser Einsicht müssen wir in der Gegenwart leider wieder kommen. Das ist das Sinnlose des Weltgeschehens, das nicht bewältigbar zu sein scheint. Wir werden auch in einhundert oder in eintausend Jahren nicht sicher sein können, dass nicht immer wieder Verrückte auftauchen, die alles zerstören wollen.

Und was bedeutet das nun für die Hoffnung? Dass sie obsolet ist?
Nein. Hoffnung ist immer am Platz. Wir brauchen die Kraft der Hoffnung. Wir sollten aber nicht blind sein und glauben, dass mit Hoffnung allein alle Probleme zu beseitigen sind. Mit Hoffnung hatte sich Hitler damals nicht davon abhalten lassen, die Tschechen zu überfallen und dann noch weiter und immer weiter zu gehen. Das ist die Lehre, die wir damals lernen mussten und die wir heute wieder lernen müssen.

Nietzsche nannte Hoffnung „in Wahrheit das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert“.
Das ist Nietzsche! (lacht) Bei Nietzsche gibt es immer auch das Gegenteil. Aber so ist Hoffnung. Hoffnung hat eine wunderbare Seite. Was wäre denn, wenn zwei Menschen zusammenkommen und keine Hoffnung hätten, ein schönes Leben miteinander haben zu können? Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein Leben lebenswert wäre. Auf der anderen Seite aber kann Hoffnung auch vergeblich sein. Und mit diesem Widerspruch der Hoffnungen müssen wir leben. Wir können uns nicht eine Welt zurechtmachen, in der es immer nur die positive und nie die negative Seite gibt.

Und wenn man sich an Dante hält? „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren?“
Ich habe den Menschen nicht zu sagen, wie sie zu leben haben. Aber ich wünsche mir kein Leben, in dem ich sagen müsste, lass alle Hoffnung fahren. Ich habe vier Kinder, ich werde den Teufel tun, alle Hoffnung fahren zu lassen. Das bin ich ihnen schuldig. 

Hoffnung ist immer nur auf die Zukunft gerichtet, nie auf die Gegenwart …
… und vor allem nicht auf die Vergangenheit.

Als Horizont ist Hoffnung aber essenziell für den Menschen?
Ja. Hoffnung ist eine transzendente Fähigkeit. Transzendenz heißt: Grenzüberschreitend. Wir überschreiten damit die Grenze der Gegenwart, wir überschreiten möglicherweise sogar die Grenzen unserer Endlichkeit. Ich hoffe es für meine Kinder, über mein Leben hinaus, dass sie das Leben und vor allem die großen Probleme in klimatischer Hinsicht, die wir ihnen hinterlassen, bewältigen können.

Sprechen wir nochmals über die Gegenwart. Sie sagten einleitend, alles werde wieder gut. Das werden viele bezweifeln.
Es kommt auf die Perspektive an. Ich habe nicht nur Philosophie, sondern auch Geschichte studiert. Von daher weiß ich, was über Jahrhunderte hinweg mit der Menschheit geschehen ist: Demgegenüber leben wir in einer ziemlich angenehmen Zeit der Geschichte. Ich würde nicht tauschen wollen mit Menschen des Mittelalters, die pausenlos mit Krieg und Bürgerkrieg zu tun hatten und mit Krankheiten wie der Pest und der Cholera. Davon sind wir sehr weit entfernt. Dank schmerzlicher Erfahrung, aber auch aufgrund der Hoffnung, das Leben der Menschen verbessern zu können, leben wir heute in anderen Zeiten. Wobei für diese Hoffnung auch etwas getan wurde. Zur Hoffnung gehören auch Taten.

Man kann den heutigen Generationen, die die Gegenwart als sehr krisenhaft empfinden, aber kaum den Vorwurf machen kann, nicht zu wissen, wie es früher war. Oder doch?
Das Problem ist, dass es so gut wie kein Geschichtsbewusstsein gibt. Aber das ist so, das kann ich nicht ändern. Dann müssen die Menschen halt ertragen, dass sie keine Maßstäbe haben. Wenn ich sehe, welches Leid sich Menschen quer durch die Geschichte und fast pausenlos angetan haben, dann scheint mir das, was heute geschieht, nicht so grauenhaft schlimm zu sein wie im Mittelalter.

Welches Fazit ist also zu ziehen? Was empfiehlt der Philosoph? Was der Historiker?
Der Historiker empfiehlt, die Maßstäbe im Blick zu haben, die wir aus der Geschichte erleben. Und der Philosoph empfiehlt, die Hoffnung in ihrer Gesamtheit zu sehen: Sie hat nicht nur gute, sondern auch schlechte Seiten – und nicht nur schlechte, sondern auch gute Seiten. Der Philosoph empfiehlt, ein Gefühl dafür zu bekommen, was in welcher Situation zu beachten ist. Am besten ist es übrigens immer, das große Gesellschaftliche, das politische und weltgeschichtliche Geschehen auf die eigene Person zu beziehen. 

Auf die eigene Person beziehen? Warum?
Weil dann das, was ansonsten immer sehr, sehr ferne liegt, näher rückt. Alle Handelnden sind Menschen. Also lernen wir das, was zwischen Menschen geschehen kann, am besten, wenn wir sehen, was zwischen zwei Liebenden, zwischen zwei Freunden, zwischen zwei Freundinnen geschehen kann. Was da ist, kann auch im Großen sein. Und so können wir das besser verstehen. Menschen können einander sehr wehtun, Menschen können sehr böse sein. Menschen können aber auch sehr gut sein. Auch mit dieser Widersprüchlichkeit müssen wir zurechtkommen, und am besten ein Gespür dafür entwickeln, mit welchen Menschen wir es jeweils zu tun haben. Das lernen wir nicht in der Ferne, das lernen wir in der Nähe – und dann können wir es vom Kleinen auf das Große übertragen. Dann wird alles fassbarer.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Wilhelm Schmid, * 1953 in Billenhausen/Bayerisch-Schwaben, lebt und arbeitet als freier Philosoph in Berlin. Schmid studierte Philosophie und Geschichte, unterrichtete viele Jahre Philosophie an der Universität Erfurt sowie an weiteren Universitäten, war auch Gastdozent an den Universitäten in Riga und Tiflis. Seine umfangreiche Vortragstätigkeit führte den Philosophen unter anderem nach China, Südkorea, Taiwan und Indien. Schmid ist Autor mehrerer Bestseller, zuletzt von ihm erschienen: „Schaukeln – Die kleine Kunst der Lebensfreude“, Insel Verlag, Berlin 2023; das Buch ist bei Erscheinen dieses Interviews bereits seit sechs Wochen in der SPIEGEL-Bestsellerliste.

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