Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Wir sind schon alle sehr, sehr kritisch geworden“

November 2023

Meinungsforscher Peter Hajek (52) im Interview – über die Politik in Österreich ein Jahr vor der Nationalratswahl, über Kickl und Babler – und den „Dominostein Ibiza“.

Herr Hajek, wenn am Sonntag der Nationalrat gewählt würde: Wie würden die Österreicher gemäß Ihren aktuellsten Daten entscheiden? 
Wir sehen – Stand Ende Oktober – die Freiheitlichen bei 32 Prozent, die Schwarzen bei 22, die Roten bei 21 Prozent, die Grünen bei zehn, die Neos bei neun Prozent. Seriöserweise muss man aber die Bandbreite angeben. Da hätten die Freiheitlichen sehr gute Chancen, auf über 30 Prozent zu kommen, während ÖVP und SPÖ in den niedrigen 20ern liegen. 

Man gewinnt den Eindruck, dass FPÖ-Chef Kickl nichts tun muss, nur vorhanden sein. Den Rest erledigen Schwarz und Rot.
Da tun Sie dem Herbert Kickl jetzt aber etwas Unrecht. Die FPÖ hat in den vergangenen Jahren viel in ihre Markenbildung investiert. Kickl hat es nach Ibiza – erstaunlicherweise, muss man sagen – geschafft, den Anti-Establishment-Charakter dieser Partei wieder aufzubauen. Und gepaart mit dem Freiheitsgedanken bildet dieser Anti-Establishment-Charakter den Überbau, unter dem sich nahezu jedes Thema durchdeklinieren lässt: Von der Pandemie, über die Neutralität, von den Wiener Kleingärten bis hin zu hochemotionalen Themen, bei denen sich Menschen gegängelt fühlen, wie etwa dem Gendern oder der Forderung nach Tempo 100 auf den Autobahnen. Das heißt, Kickl hat viel investiert. Und weil die beiden anderen so schwach sind, geht das halt auf.

Fehlt Schwarz und Rot ein solcher Überbau, unter dem sich alles subsummieren lässt?
Ja. Aber das wäre am Ende des Tages etwas zu kurz gegriffen. Politik besteht ja aus mehr als nur aus Kommunikation und Strategie. Es geht ja auch um Inhalte. 

Tatsächlich? 
Ja. Am Ende des Tages geht es um Inhalte und damit, auch wenn das pathetisch klingt, um unser aller Leben. Und da ist die ÖVP etwas besser aufgestellt als die Sozialdemokratie. Warum? Weil die ÖVP versucht, mehrere Wählergruppen mitzunehmen. Und weil sie sich wieder auf ihre konservativen Werte besinnen will, mit dem Versuch, wieder stärker auf Eigenverantwortlichkeit zu setzen, mit dem Versuch, die – von ihr selbst befeuerte – Ausschüttungs-Mentalität zurückzudrängen, und mit ihrer konservativen Integrations- und Migrationspolitik. 

Und die Sozialdemokratie?
Die Sozialdemokratie hat das Problem, dass sie unter Babler viel zu links positioniert ist. Aber Wahlen in Österreich gewinnt man nur rechts der Mitte. Natürlich kann man gegen Kinderarmut auftreten, das steht ja vollkommen außer Streit. Aber wenn man die Menschen da draußen fragt, ob Kinderarmut in Österreich das drängendste Thema ist, werden die meisten sagen: Nein! Die drängendsten Themen sind Teuerung, Energie, Migration, Gesundheit und Pflege, Klimawandel. Auch die Millionärssteuer ist kein Selbstläufer. Ganz im Gegenteil macht sich die SPÖ damit auch angreifbar, weil die Menschen sagen: Jetzt reden die von einer Millionärssteuer und am Ende landen sie beim Häuslbauer. Und das ist insgesamt das Problem, das die Sozialdemokratie derzeit hat: Sie folgt nicht den Wählern und Wählerinnen, sondern ihrer eigenen Glaubenslehre. Und geht damit an der Bevölkerung vorbei. Die Sozialdemokratie lebt derzeit in einer eigenen Bubble, bedient dort eine gewisse Kernwählerschaft, ist aber nicht großartig im Steigen.

Babler lebt in einer Bubble? Das ist eine nette Formulierung …
Das ist eigentlich schon die Headline zu diesem Interview, oder? (lacht).

Warten wir noch ab. Sie haben zuvor die Themen genannt, die den Wählern am wichtigsten sind. Und da steigt der Zweifel in der Bevölkerung, dass die Politik auch nur irgendeines dieser Themen entscheidend angeht …
Na ja. Wir sind schon alle sehr, sehr kritisch geworden. Ich zitiere jetzt den dieser Tage anlässlich seines 75. Geburtstages gefeierten Gottfried Helnwein, der gesagt hat, als er aus den USA nach Österreich zurückgekommen sei, habe er erst wahrgenommen, welche Lebensqualität es in unserem Land gibt. 

Soll heißen? 
Wir jammern auf einem extrem hohen Niveau. Der große Teil in Österreich ist verwöhnt, im Sinne von: Wir sind ein unglaublich hohes Niveau gewöhnt. Nur vergessen wir das immer. Und dass die Politik in den vergangenen Jahren nichts gemacht hätte, das kann man ihr nun wirklich nicht vorwerfen: Es ist finanzielle Unterstützung ausgeschüttet worden, Ende nie. Ob das gescheit war, ist eine ganz andere Frage. Aber nehmen wir nur die kalte Progression als Beispiel: 40 Jahre lang haben wir über deren Abschaffung geredet, jetzt ist sie abgeschafft. Und alle sagen: Ah ja, was soll’s. Also: Zu gewissen Teilen tut man der Regierung da wirklich Unrecht. Und noch etwas …

Ja bitte?
Wir nehmen – und das ist der Digitalisierung der Gesellschaft geschuldet – jede Krise als unmittelbare Krise vor unserer Haustüre wahr. Wir haben das Gefühl, dass wir seit 2008, also seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise mit dem Fall der Lehman Brothers, spätestens aber mit der Flüchtlingskrise 2015 in einem permanenten Krisenmodus leben. Und weil die Welt wirtschaftlich zusammengerückt ist, sind auch die Auswirkungen auf uns, auf unseren Alltag ganz andere geworden. Das wollen wir alle nicht, auf unserer Insel der Seligen. Das macht die Stimmung schlechter. Und wir haben aktuell niemanden vorne stehen, dem die Menschen unmittelbar vertrauen, auch in schweren Krisenzeiten. Und das ist ja eigentlich das, was man Sebastian Kurz zum Vorwurf machen kann.

Wie ist das zu verstehen?
Dass Kurz seine Popularität nicht genutzt hat, um in der Krise einen wirklichen Leader abzugeben. Anfänglich, als seine Popularität in Umfragen unfassbar hoch war, vor dem ersten Lockdown, sind die Menschen zunächst mitgegangen, in einer regelrechten Hurra-Stimmung. Doch dann, als seine Popularität zu leiden begann, hat er in seiner Kommunikationslogik gesagt: Wir müssen einen Erfolg präsentieren, also werden wir einen Erfolg präsentieren. Und deswegen hat Kurz im August 2020 gesagt, die Pandemie werde schneller vorbeigehen als gedacht, er sehe Licht am Ende des Tunnels. Nur haben die Menschen relativ schnell gesehen: Es gibt schon ein Licht am Ende des Tunnels. Aber das kommt von einem entgegenkommenden Zug. Also letztlich ist dieser kritische Blick der Menschen auf die Politik auch von den Politikern hausgemacht. Wäre nicht nötig gewesen.

Sie sagen: Das Weltgeschehen färbt auf die Stimmungslage ab. Aber spätestens seit Ibiza reiht sich in der österreichischen Politik eine negative Schlagzeile an die andere. Und das sorgt auch für die schlechte Stimmung.
Ja. In dieser miesen Stimmungslage kommt das noch dazu. Aber zum Großteil wurde das durch Ibiza ausgelöst. Auch das vergessen wir immer. Ibiza war ein Demarkationspunkt in der österreichischen Politik, ein erster Dominostein, der fiel, und unglaubliche Auswirkungen nach sich zog. Die anderen Geschichten, wie die Wiener Kleingärten oder der Herr Riedl, das gehört ja fast schon zur politischen Folklore in diesem Land. Dass es sich Politiker da und dort noch immer richten, das verwundert in Österreich ja nun wirklich niemanden mehr. Das Erstaunliche ist nur, dass es so etwas im Jahr 2023 noch immer gibt.

Aber insgesamt ist das Vertrauen in die Politik auf einem historischen Tiefstand angelangt.
Nein! 

Nein?
Nein! Wir sind jetzt nur wieder dort, wo wir schon waren. Die Zufriedenheit mit der Regierungspolitik war unter Faymann auch schon so schlecht. Der Tiefpunkt ist nur ein neuerlicher Tiefpunkt, aber er ist nicht neu. 

Wird Kickl Kanzler? Ist das Rennen um Platz eins ein Jahr vor der Nationalratswahl schon entschieden?
Nein, das würde ich insbesondere deswegen nicht sagen, weil wir wissen, wie beweglich die Wählerschaft ist. Grundsätzlich ist die Ausgangsposition für die Freiheitlichen extrem gut. Passiert kein grober Schnitzer, haben die alle Chancen, Erster zu werden. Passiert ein grober Schnitzer, fallen auch die wieder ins Bodenlose. Und im Übrigen wissen wir nicht, was passiert. Stellen wir uns vor, im Nahen Osten und in der Ukraine einigt man sich auf einen Waffenstillstand, stellen wir uns vor, es stimmt, was die Wirtschaftsforscher sagen, dass wir schon durch sind durch die Rezession, stellen wir uns vor, die Inflation groovt sich auf drei, vier Prozent ein: Dann kann sich die Stimmung auch wieder aufhellen. Wir leben in einer beweglichen Zeit. Es kann viel passieren. Nur hoffen darf man als Politiker nie darauf.

Vielen Dank für das Gespräch!

Peter Hajek, * 1971 in Wien, ist Geschäftsführer und Eigentümer der „Peter Hajek Public Opinion Strategies GmbH“. Der Politikwissenschaftler und Markt- und Meinungsforscher beschäftigt sich seit 25 Jahren mit empirischer Sozialforschung und hat Lehraufträge an Universitäten und Fachhochschulen. Auf „ATV Aktuell: Die Woche“ ist Hajek regelmäßig zu sehen.

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