Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Das Unding.

Dezember 2020

Über Foltergeräte, Puppenküchen und Krippen

Es nimmt die unterschiedlichsten Formen an, kann uns ärgern, verletzen, wütend machen. Gleichgültig lässt es uns nie: das Unding. Es ist ganz sicher mit dem Unmenschen verwandt, nur ist der viel seltener. Wer kennt schon wirklich einen solchen? Mit dem Untier wiederum hat es ganz gewiss nichts zu tun, denn das ist ein Fabelwesen, das es gar nicht gibt. Das Unding gibt es wirklich und zwar in großer Zahl.
Das vorarlberg museum hat vor einigen Wochen eine Ausstellung unter dem Titel „Sehen, wer wir sind. 100 Objekte aus der Sammlung“ eröffnet und auch ein Buch mit wunderbaren Fotos dazu herausgebracht. Zumindest zwei waren darunter, die durchaus als Unding hätten gelten können, als sie noch in Gebrauch waren: Der Schandmantel und eine Leibfessel. Das sind Foltergeräte, die aus der Bregenzer Fronfeste stammen, wo sie auch eingesetzt worden sind. Unter all den Werkzeugen, die aus dem alten Stadtgefängnis ins Museum gekommen sind, sind diese beiden noch die harmlosesten. Aber sie erinnern doch daran, dass unser Rechtssystem bis in die Zeit von Maria Theresia und Joseph II. nicht ohne Folter ausgekommen ist. Die sogenannten Schandstrafen wurden erst 1848 abgeschafft. 
Foltermethoden wurden in Österreich auch während der NS-Zeit angewendet. Und bis heute glauben Menschen, die Anwendung von Folter könne der Wahrheitsfindung dienen. Im Foltergerät steckt das Unding in Form eines moralischen Skandals, der nicht ohne den Unmenschen auskommt. Bei den anderen Objekten ist es nicht immer sogleich ersichtlich, ob sich in ihnen ein Unding verbirgt: Eine alte Fotografie von Franz Beer mit „Heuerinnen bei Au“ (1940) wirkt eigentlich ganz harmlos. Dem einzelnen Bild kann man – abgesehen von seiner Belanglosigkeit – nichts anlasten. Wer sich aber die gesamte Sammlung der publizierten und nicht publizierten Fotos von Franz Beer ansieht, wird über kurz oder lang überwältigt von der Reinheitsvorstellung, die einem hier verdichtet begegnet. Beers Werk ist ein Dokument einer ästhetischen Säuberung: Nichts ist auf den Bildern, was seine Verklärung einer sauberen Bergwelt stören könnte. Es geht hier um Vorarlberg als die totale Heimat, in ein ästhetisches Unding verwandelt, das sich vor allem durch eines auszeichnet: Grenzenlose Langeweile. 
Apropos: Als ein vergleichsweise harmlos-langweiliges Unding entpuppt sich eine Puppenküche von 1860 bei genauerem Hinsehen. Für Kinder war sie schon immer unbrauchbar und hatte schon bei ihrer Herstellung einen üblen musealen Charakter. Man hat hier eine Ansammlung von Küchenutensilien en miniature, die nur den Zweck hatte, ein bestimmtes Bild vom braven weiblichen Kind zu bestätigen, das selbst nichts zu wollen und schon gar nicht zu spielen hatte. In einem dementsprechend guten Zustand ist die Puppenküche, es hat nie jemand mit ihr gespielt. Wer Kinder hat, weiß, dass heute noch viel Spielzeug existiert, das so funktioniert. Abgesehen davon, dass Kinder mit allem spielen können, wenn ihnen danach ist, ist manches Spielzeug und so auch diese Puppenküche denkbar unbrauchbar dafür. Es handelt sich um Unspielzeug und damit um ein schlecht getarntes Unding. Aber wieviel derartiges Zeug und wieviel anderer Schrott wird demnächst wieder unter den Christbäumen liegen? Vieles davon taucht wenig später schon auf Flohmärkten auf oder bei „vorarlberg verschenkt“, einer Social-Media-Gruppe.
Wo ein Christbaum, ist die Krippe nicht weit: Wer hat als Kind nicht mit deren Figuren gespielt oder es zumindest versucht. In der Sammlung des vorarlberg museums befinden sich natürlich auch Krippen, wenige alte und viele neue. Figuren einer besonderen Krippe, vermutlich der ältesten und berühmtesten in Vorarlberg, wurde vom Museumsdirektor für die Top-100 Ausstellung persönlich ausgewählt. Es handelt sich um ein Werk von Erasmus Kern aus dem Jahr 1624, das leider nicht mehr vollständig ist. Erhalten haben sich neben dem heiligen Paar nur zwei Hirten und die Köpfe des Ochsen und des Esels. Das Kind fehlt und es fällt schwer, darin nicht eine höhere Symbolik zu erkennen. Denn dass genau das fehlt, an das Christinnen und Christen glauben sollten, nämlich die Menschwerdung Gottes, verkörpert im Jesuskinde, kann kein Zufall sein. Dass irgendwer diese Figur hat verschwinden lassen, um zum Ausdruck zu bringen, was später als Tod Gottes bezeichnet wurde, ist naheliegend (vgl. dazu Kurt Flasch, Warum ich kein Christ bin, 2013). Denn von selbst verschwindet die wichtigste Figur ja nicht. Von einer Kindesentführung ist nichts bekannt, Lösegeldforderungen sind nicht überliefert. Jedenfalls handelt es sich bei der Meschacher Krippe des Erasmus Kern – so oder so – um einen seit Menschengedenken ungeklärten Kriminalfall: das Fehlen des Jesus-Kindes, das sich so der Anbetung entzieht, ist ein museales Unding. Denn der Verbleib der Figur wird sich leider nicht mehr aufklären lassen. 
Eine Frage, die sich im Zusammenhang mit der Krippe – Symbol für Weihnachten schlechthin – aufdrängt: Gibt es eine Wechselwirkung zwischen der gnadenlosen Verkitschung der Heiligen Familie und der Gewalt in der ganz normalen Familie? Warum gerade die eigenen Liebsten immer wieder daran glauben müssen, ist ein nicht leicht zu lösendes Rätsel. Man sieht: Das Unding gibt nicht nur Rätsel auf, es ist in der Form menschlicher Verhältnisse manchmal selbst eins. In den Sammlungen des Museums scheint es in Gesellschaft mit den neuen, von Vorarlberger Krippenvereinen für das Depot hergestellten Krippen, mit denen nie ein Kind spielen wird, jedenfalls gut aufgehoben und vor missbräuchlichem Einsatz geschützt. 

 

Buch zur Ausstellung

Andreas Rudigier (Hg.) 
Sehen, wer wir sind. 100 Objekte aus der Sammlung des vorarlberg museums. 
vorarlberg museum Schriften 55,
Bregenz 2020

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