Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Die Schönheit der Zerrissenheit

Juni 2015

Kunst und Künstler in der Krise.

Das vorarlberg museum zeigt dieses Jahr als große Sommerausstellung eine von Christoph Bertsch (Universität Innsbruck) zusammengestellte Schau mit dem Titel „Das ist Österreich! Bildstrategien und Raumkonzepte 1914–1938“. Bertsch geht es darum, mit Vorurteilen zur Kunst der Zwischenkriegszeit aufzuräumen und zu zeigen, in welcher Hinsicht österreichische Künstlerinnen und Künstler damals zur Avantgarde ästhetischer Reflexion gehörten.

Warum die Zwischenkriegszeit? Die Epoche war eine Zeit ungeheurer Krisen. Der von Österreich-Ungarn mutwillig begonnene Weltkrieg selbst stellte unter Beweis, dass man sich – nach einem berühmten Wort von Karl Kraus 1914 – als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ profilieren wollte. Und die Hinterlassenschaft des verlorenen Weltkriegs bestand nicht nur im Zerfall des Habsburgerstaats, sondern, viel spürbarer für den Einzelnen, in zerstörten Familienverhältnissen, sozialen Verwerfungen, einer ungeheuren Geldentwertung und politischen, wirtschaftlichen und geistigen Kämpfen. Das Kriegsende und die Errichtung der Republik brachten auch eine große Umverteilung, Krisengewinner waren vor allem die Arbeiter und Angestellten.

Die österreichische Gesellschaft war dementsprechend zerrissen: Der unermessliche Reichtum der alten Hocharistokratie war zwar verringert, aber Grund und Boden wurden kaum angetastet und die sogenannte Bodenreform hatte die Großgrundbesitzer kaum belastet. Die Vermögen des Großbürgertums, der Industriellen, Fabrikanten und Bankiers waren zwar schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, doch nach außen hin vermochten die meisten Repräsentanten dieser Schicht die Fassade ihres bourgeoisen Lebensstils aufrechtzuerhalten. Und es gab Neureiche, Kriegsgewinnler und Spekulanten, deren Zahl schwer abzuschätzen ist. Aber einige von ihnen hatten ein spektakuläres Auftreten, das dazu führte, dass sie in aller Munde waren.

Vorarlberg stellte innerhalb Österreichs insofern einen Sonderfall dar, als es hier keinen ehemaligen Feudaladel gab, keinen Großgrundbesitz, sondern nur eine starke industrielle und gewerbliche Unternehmerschaft, die aber ihrerseits kaum bürgerliche Wurzeln hatte. Und typische Kriegsgewinnler und Spekulanten gab es hier im Lande gar keine, dazu fehlten die kriegswichtigen Indus­trien und die Banken. Natürlich mag es Einzelne gegeben haben, die in Zürich, Wien oder London spekulierten, und gewiss haben gewitztere Unternehmer die Nähe zur Schweiz genutzt, um das Gefälle zwischen Krone und Franken auszunützen.

Die Künstlerinnen und Künstler jedenfalls bekamen zu spüren, dass selbst die vermögende Schicht angesichts von Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise Sparmaßnahmen ergriff. Selbst Kohlenbarone und Fürsten mussten sich einschränken. Die öffentliche Hand beteiligte sich zwar an der Finanzierung von Kriegerdenkmälern, aber die Ankäufe für Museen hielten sich sehr in Grenzen. Die Stellen für Zeichenlehrer waren sehr beschränkt, noch seltener gelang es, eine Professur an einer Kunsthochschule zu erobern. Der einzige Künstler aus Vorarlberg, dem das gelang, war der Bildhauer Albert Bechtold: 1934 wurde er an der Wiener Akademie der bildenden Künste Professor, 1938 wurde er von den Nazis schon wieder hinausgeworfen. Die Träume des Rudolf Wacker, in Wien oder anderswo eine Professur zu bekommen, verwirklichten sich nicht.

Viele Künstler betätigten sich als Gebrauchsgrafiker oder bemühten sich um alternative, neue kommerzielle Möglichkeiten: Alfons Walde (1891–1958) etwa malte die jeweils neue Wintersportmode und gründete 1927 einen Postkartenverlag. Seine „Landschaftsfabrik“ bot Standardmotive in drei verschiedenen Größen, Plakate und Postkarten an. Carry Hauser verband sein Währinger Atelier mit einem Gassenladen, in dem er kleinformatige Drucke und Holzschnitte um zwei Schilling pro Stück verkaufte. Sergius Pauser veranstaltete in seinem Atelier Verkaufsausstellungen.

Das Vorarlberger Landesmuseum, damals noch nicht im Eigentum des Landes, konnte kaum zeitgenössische Künstler ankaufen. Bittbriefe an Industrielle, für das Museum Werke aus Ausstellungen anzukaufen, blieben meist ohne Reaktion. Fast alle Werke, die das Museum heute aus dieser Zeit besitzt, wurden später erworben. Die Künstler in Vorarlberg – die Volkszählung 1934 zählte nur 28 „Bildende Künstler und Lehrer in bildenden Künsten“, 24 Grafiker und neun Kunstgewerbler – waren also auf Aufträge der Kirche, der Gemeinden und von vermögenden Privatleuten angewiesen. Es sind allerdings nicht allzu viele Porträts bekannt. Der Käsehändler und Landtagsabgeordnete Josef Rupp, auf den Nationalsozialisten 1933 ein Böllerattentat verübten, hatte zwei Jahre zuvor sich und seine Gemahlin vom jungen Künstler Herbert Reyl-Hanisch (1898–1937) porträtieren lassen. Reyl-Hanisch, aus einer Offiziersfamilie stammend, kam durch seine Schwester nach Bregenz und wurde hier endgültig 1934 ansässig. Ihm gelang es durch seine Kontakte zu wohlhabenden Kreisen und durch seine gefällige Malweise, zahlreiche Porträtaufträge zu bekommen. Er malte auch Fritz Schindler und Graf und Gräfin Waldburg-Zeil. Zu einem der bemerkenswertesten Maler seiner Zeit wurde er aber aufgrund der Vielschichtigkeit seines Werks, nicht zuletzt auch Ausdruck der inneren Zerrissenheit der damaligen Zeit. Er porträtierte nicht nur die, die es sich leisten konnten, sondern erforschte in einem 1928 entstandenen Bilderzyklus in „altmeisterlicher“ Manier das „Land der Seele“ (mit Darstellungen unter anderem von „Beklommenheit“, „Ekel“, „Staunen“, „Hass“, „Sünde“ und „Andacht“). Aber er stellte auch Kampfszenen dar, etwa die „Straßenschlacht“ (1920). Bemerkenswert ist sein Gemälde „Die Verfolgung“ von 1932, in dem er einen vor dem Arbeitermob flüchtenden Nationalsozialisten in weißem Hemd darstellt. Seine politische Identifikation kommt darin klar zum Ausdruck.

In der Ausstellung von Christoph Bertsch sind zahlreiche Werke österreichischer Künstlerinnen und Künstler zu sehen, die die Kämpfe der Zwischenkriegszeit auf allen Ebenen darstellen. Nur selten wird der Zusammenhang zwischen den katastrophalen ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen und der seelischen Verfassung, dem verzweifelten Kampf um Erkenntnis und Glück, auf eine derartig eindringliche Weise sichtbar. Der Preis allerdings besteht darin, dass gewohnte Zuordnungen wie Expressionismus oder Neue Sachlichkeit fragwürdig werden.

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