Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Verstehen, wer wir sind

Oktober 2015

Von den Bedrohungen des Alemannischen durch das Fremde.

Die Reaktionen auf das Motto des vorarlberg museum sind unterschiedlich, zumeist jedoch positiv. Aber was ist eigentlich damit gemeint? Das „Wir“ der Vorarlberger Bevölkerung ist heute auf interessante Weise zusammengesetzt. Der nationalen Herkunft nach gehören auch viele Deutsche, Türken, Jugoslawen, Italiener zu diesem „Wir“, zumal wenn man es nicht auf die Generationen der Lebenden beschränkt. Und dann ist da noch neben den Generationen der Zugewanderten das eigentliche Volk Vorarlberg, der alemannische Kernbestand, der älteste Teil jenes „Wir“. Dieses „Wir“ und wer dazugehört, war und ist immer umstritten. Sowohl an der werbewirtschaftlichen Oberfläche als auch im geistesgeschichtlichen Untergrund geistert die Legende von der alemannischen Abstammung der Vorarlberger bis heute herum. Vor allem die Dialekte werden als „alemannische“ identifiziert.

1906 forderte der Landtag des immer noch mit Tirol verwaltungstechnisch verbundenen Landes Vorarlberg in einer Denkschrift an die kaiserliche Regierung, der Wunsch nach einer eigenen Landesregierung sei von allen „echten alemannischen Söhnen“ des Landes getragen. 1910 betonte der Rechtsanwalt Otto Ender, der ab 1918 für über eineinhalb Jahrzehnte als Landeshauptmann von Vorarlberg amtieren sollte, man lebe gegenwärtig in einer „Völkerwanderung“. Während man „zur Blütezeit des Liberalismus die möglichste Völkermischung und ein gewisses Weltbürgertum als Gipfel der Kultur“ betrachtet habe, werde das Aufnehmen von „fremdem Volk“ zunehmend als „Bedrohung“ begriffen. Ender sprach sich gegen Mischehen aus, und er meinte damit nicht die konfessionellen Mischehen von Protestanten und Katholiken, sondern zielte auf die damals große italienische Minderheit in Vorarlberg: „Für die körperlichen und geistigen Eigenschaften ist es nicht gut, wenn Romanen und Germanen zusammenheiraten, die Nachkommen sind physisch und moralisch gefährdet.“ Als möglichen Schutz brachte er originellerweise die Tracht ins Spiel: „Die Trachten unserer Gebirgstäler bieten einen Schutz für die Eigenschaften der Talbewohner, heben sich wertvoll ab vom Modetand der Städter und halten viel modernes schädliches Wesen fern. Unsere wahren Volkssitten sind nicht zu verwechseln mit nachgeäfften altheidnischen Gebräuchen, die unserem Alemannenwesen fremd sind und ab und zu in tendenziöser Art eingeführt werden.“

Für Ender, der Jahrzehnte später als Landeshauptmann sich auch dafür aussprach, den Juden bestimmte staatsbürgerliche Rechte zu entziehen, war der Wert der Einigkeit, des Zusammenhalts höchst bedeutsam. Soziale Organismen oder Körperschaften der Verwaltung sollten seiner Auffassung nach möglichst reibungs- und störungsfrei funktionieren, und das schien am ehesten gewährleistet, wenn die Beteiligten möglichst homogen waren, vor allem in ethnischer Hinsicht. Warum wurde gerade der ethnischen Identität ein derart hoher Stellenwert eingeräumt? Weil sie aufgrund einer gemeinsamen Abstammung eine Verbindung zwischen körperlichen und geistigen Merkmalen gewährleistete.

In der ersten wissenschaftlichen Untersuchung der Vorarlberger Geschichte von Josef von Bergmann im Jahr 1853 hieß es dazu, die Bewohner seien größtenteils „alemannischen Stammes“, dann kämen „Romanen (Rhaetier)“ und „Walliser oder Walser“ und später eingewanderte – ethnisch nicht näher spezifierte – „Hirten und Holzarbeiter“. In den nachfolgenden Historikergenerationen kam es zu einem munteren Hin- und Hergeschiebe und unterschiedlichen Gewichtungen. Ein Problem mit den Alemannen war und ist: Sie tauchen relativ spät auf, im 3. und 4. Jahrhundert nach Christus, und es ist heute – wie Alois Niederstätter in seinem Werk „Vorarlberg im Mittelalter“ ausführt – sogar umstritten, ob es sich überhaupt um eine „Ethnie“ handelt oder nicht vielmehr um ethnisch inhomogene Kriegerverbände, die eine „Interessengemeinschaft“ bildeten und dann als „Stamm“ oder „Volk“ interpretiert wurden. Klar ist jedenfalls, dass es vor den Alemannen schon etwas gegeben haben muss, meist werden hier die keltischen Vindeliker ins Spiel gebracht. Ihrerseits sollen sie die hier ursprünglich siedelnden Räter verdrängt haben. Karl Heinz Burmeister stilisierte die „keltischen Brigantier“ zum ersten „staatstragenden Volk“ in Vorarlberg. Wie dem auch sei: Die auf Basis alter Schriftquellen entwickelten Historikermeinungen sind oft schwer mit archäologischen Befunden zur Deckung zu bringen, auch darauf weist Niederstätter hin. Wenn sich auch die Bedeutung der Alemannen im populären Geschichtsdiskurs, der glücklicherweise nicht immer ganz ernst gemeint ist, verfestigt hat, wird man von archäologischen Kollegen darauf hingewiesen, dass es in ganz Vorarlberg keine Funde gibt, die eindeutig eine alemannische Besiedelung nachweisen. Zwar gilt es als unbestritten, dass eine irgendwie germanische Besiedelung gegen Ende des 1. Jahrtausends stattgefunden hat, aber die genauen Umstände sind unklar.

Klar ist dagegen, dass es von Beginn an im Rahmen dieser ethnischen Genese auf dem Territorium des heutigen Vorarlberg zu einer Reihe von Überschichtungen und Vermischungen kam. Genauso trifft das auf die letzten Jahrhunderte und insbesondere die letzten Jahrzehnte zu, sodass heute von einer einheitlichen, ethnisch homogenen Bevölkerung in keiner Hinsicht die Rede sein kann. Jeder Familienstammbaum, egal wie weit er sich zurückverfolgen lässt, belegt Wanderungen aller Art.

Der Name Vorarlberg, der am ehesten eine politische Identität belegt, ist übrigens recht jungen Datums. Er entwickelt sich aus dem Begriff der Herrschaften vor dem Arlberg und wurde erst ab etwa 1720 zum Begriff. Doch die Entwicklung der politischen Identität dauerte noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Im Rahmen dieser Herausbildung wurde immer wieder – gegen den Widerstand mancher seriöser Forscher – die gemeinsame alemannische Abstammung behauptet. Damit verbunden wurde ein alemannischer Volkscharakter mit der Zuschreibung bestimmter Sekundärtugenden. Was das wert war, zeigt wiederum Otto Ender. 1930 behauptete er: „Unsere Verfassung ist demokratisch und entspricht daher dem alemannischen Volkscharakter, entspricht der Vorarlberger Geschichte. Freiwillig werden wir nie die demokratische Grundlage verlassen.“ 1933 wurde Ender als Minister des Kabinetts Dollfuß mit der Ausarbeitung einer ständischen Verfassung beauftragt, und weil er mittlerweile doch überzeugt war, dass das Volk nicht reif sei für die Demokratie, wurde er zum Redakteur der austrofaschistischen Verfassung, die am 1. Mai 1934 wirksam wurde. Die Werte wurden also je nach Situation und Konjunktur interpretiert und reformuliert. Markus Barnay hat in seiner 1988 erschienenen Studie „Die Erfindung des Vorarlbergers“ diesen komplexen Selbsterfindungsprozess sehr gut beschrieben.

Was bleibt? Wohl die Erkenntnis, dass das Verstehen eines „Wir“ immer abhängig ist von den Umständen in ökonomischer, politischer, kultureller und sozialer Hinsicht. Angesichts der gegenwärtigen und wohl auch zukünftigen Herausforderungen durch Migrationsströme, seien sie verursacht durch die Bedürfnisse unserer eigenen Wirtschaft, durch Kriege oder andere soziale und ökonomische Katastrophen anderswo, stellt sich mehr denn je die Frage, wie die Verhandlungen über das „Wir“ aussehen. Wer darf dazugehören, wer nicht? Es scheint nach allen Erfahrungen mit Migration eines zumindest klar zu sein: Eine Gesellschaft, die sich auf Abwehr einer Bedrohung einstellt, um ihre vermeintliche – durch irgendeine ominöse Abstammung gewährleistete – Identität zu schützen, ist weniger stark als eine, die ein offenes „Wir“ formuliert und konstruiert, weil sie sich bewusst ist, dass Vielseitigkeit und Facettenreichtum sie eher stärkt als eine auf Angst vor dem Fremden aufbauende Homogenität.

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