Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Wollen wir verstehen, wer wir sind? Können wir es überhaupt?

Juni 2023

Zehn Jahre vorarlberg museum.

Am 21. Juni 2013 wurde das neu erbaute vorarlberg museum eröffnet und schon damals prangte weithin sichtbar auf der Fassade der Schriftzug: „verstehen, wer wir sind“. Gottfried Bechtold hielt die Festrede „Mein Vorarlberg“, der Landeshauptmann sprach von Identität und der Bürgermeister von Bregenz vom „historischen Gewissen“.
Eine Komposition von Gerold Amann mit dem schönen Titel „Alemannische Urviecher“ erklang erstmals. Der Bischof durfte unter Einbeziehung höherer Mächte den Bau einweihen. Nachdem Tobias Natter 2011 überraschend gegangen war und nur ein sehr dünnes Konzept hinterlassen hatte, musste sein Nachfolger Andreas Rudigier mit seinem Team und externen Experten in knapp zwei Jahren Beachtliches leisten. Von Beginn an waren fünf Ausstellungen zu sehen. „vorarlberg. Ein making of“ war – so der Museumsexperte Gottfried Fliedl – die erste Ausstellung in Österreich, die die Geschichte des Landes dekonstruierte. Der großen Tradition des Hauses, das ja bis 2006 stets von Archäologen und Ur- und Frühhistorikern geleitet worden war, war die Ausstellung „Römer oder so…“ gewidmet. Sie nahm das Gräberfeld von Brigantium ins Visier und thematisierte die Problematik ethnischer Zuschreibungen. Das zehnjährige Jubiläum nimmt das Museum nun zum Anlass, um unter dem Motto „Erleben, wer wir wirklich sind“ gemeinsam mit dem Publikum am 23. und 24. Juni zu feiern.

Ausstellungen, Bücher und was sonst?
Ende 2009 war nach 104 Jahren das im Jahr 1905 eröffnete Vorarlberger Landesmuseum abgerissen worden, das denkmalgeschützte Gebäude der alten Bezirkshauptmannschaft wurde in den Neubau teilweise integriert. Was ist seither nicht alles zu sehen und zu hören gewesen? Der Veranstaltungssaal wurde für zahlreiche Konzerte, Vorträge und Tagungen genutzt, für Veranstaltungen aller Art. Viele weitere Ausstellungen war zu sehen, etwa zu Franz Michael Felder, über die Familie Riccabona, über Rudolf Wacker im Krieg, zu Nikolaus Walter und Norbert Bertolini und zum Werk Angelika Kauffmanns. Und selbstverständlich wurde Brigantium eine Nachfolgeausstellung gewidmet: „Weltstadt oder so …“ 
Bemerkenswert ist die Zahl und die Qualität der Bücher, die vom vorarlberg museum in diesen zehn Jahren herausgegeben wurden. Eines der schönsten, allerdings auch gewichtigsten ist das 2013 erschienene Buch zur Ausstellung „Buchstäblich Vorarlberg“, das 27 Essays zu den präsentierten Sammlungsteilen mit wunderbaren Abbildungen enthält. Dann entstand, nachdem sie schon abgebaut war, ein Buch zur Ausstellung „vorarlberg. Ein making of“ (2022). Doch vieles dort Gezeigte wird darin nochmals präzisiert und reflektiert. Schöne Kataloge wurden zu Franz Michael Felder und Rudolf Wacker gemacht, das Buch „Der Fall Riccabona“ inspirierte das Landestheater 2023 zu einem Stück über Max Riccabona mit dem Titel „Wunsch und Widerstand“. Und nicht zuletzt: Ein preisverdächtiges Kinderbuch zur Geschichte Vorarlbergs entstand. Daneben gab es eine Vielzahl von Kooperationen, bedingt durch die Pandemie wurde ein digitales Programm angeboten, eine Kinderwebsite, inklusive Stationen entwickelt, Forschungsprojekte in Kooperationen umgesetzt und vor allem ein vielfältiges Vermittlungsprogramm realisiert, mit dem sehr beliebten Archäologiebus und der Täler-Tour.
Welches Museum brauchen wir?
Rechtzeitig zum Jubiläum verkündete Direktor Rudigier seinen Wechsel ins Tiroler Landesmuseum: Anlass noch einmal darüber nachzudenken, was das Museum sein soll und was es leisten kann. Im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert waren Museen und zumal Landes- und Nationalmuseen Identitätsmaschinen. Schwache oder problematische „Wir“-Konstruktionen sollten durch die stetige Beschäftigung mit der vaterländischen Geschichte, der Besinnung auf die Leistungen der Vorfahren gestärkt und verfestigt werden. Es wurde an einer kulturellen Identität gearbeitet, die ungemein wichtig schien, um stark zu sein. Einheitlichkeit bedeutete eine Stärkung des Zusammenhaltes. Diese Funktion der Museen wurde spätestens in den letzten Dezennien des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt. In der sich als pluralistisch und – durch starke Migrationsbewegungen bedingten und geprägten – multikulturellen Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts benötigt man kein Museum mehr, das als Identitätsverstärker wirkt, sondern es musste überkommene, veraltete und hemmende Denkmuster in Frage stellen und dekonstruieren. Wichtig war, in der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) ein Verständnis für die komplexen Veränderungen und eine immer stärker fragmentierte Gesellschaft angeboten zu bekommen. Das Museum und auch das vorarlberg museum wandelte sich in eine Verständnisagentur. Daher brachte die Maxime „verstehen, wer wir sind“, das neue Selbstverständnis auf den Punkt. Aber konnte man es einlösen?
Denn ein Verstehen, wer man ist, kann bittere Wahrheiten aufdecken und – wie man sich erinnert – zum entsetzten Ausruf führen: „So sind wir nicht!“ Es gibt in Vorarlberg – wie überall sonst auch – zahlreiche ungelöste Probleme und problematische Konflikte. Welche davon hat das Museum aufgegriffen? Auffallend in den letzten Jahren der Ära Rudigier war, dass Geschichte, Kultur und Gesellschaft des Landes aus dem Museum verdrängt und zunehmend durch Ausstellungen zu Krippen, „Beauty“ und Betonarchitektur ersetzt wurde. Das führt zur Frage: Wollen wir überhaupt verstehen, wer wir sind? Können wir es? Etwa verstehen, was das „wir“ in einer Zeit bedeutet, in der sehr viel von zerfallenden Werten und gesellschaftlichen Spaltungen geredet wird? Jubiläen sollen ausgelassen gefeiert werden. Dennoch ist nach zehn Jahren ein schlichtes, aber ernsthaftes und gründliches Nachdenken über die Frage, welches Museum wir brauchen, sinnvoll. Andernfalls opfert man das Potenzial, das darin bestehen sollte, Denkprozesse in wichtigen Konfliktfeldern anzustoßen, und hechelt irgendwelchen modischen Schlagworten hinterher, von denen es immer genug gibt, um einen (oder ein ganzes Museum) in einen rasenden Stillstand zu versetzen.

10 Jahre vorarlberg museum neu 

Freitag, 23. Juni, 19.00 Uhr
Erleben, wer wir wirklich sind
Überraschungsfest im Atrium, Beine hochlegen im Veranstaltungssaal und Sonnenuntergangs-Sightseeing im Panoramaraum 

Samstag, 24. Juni, 10.00 bis 18.00 Uhr und Sonntag, 25. Juni, 10.00 bis 18.00 Uhr
Erleben, wer wir sind.
10 Jahre vorarlberg museum neu
An zwei Tagen das Museum bei freiem Eintritt in all seiner Vielfalt erleben.
Programm: www.vorarlbergmuseum.at

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