J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Wie soll ich euch benennen?

April 2016

Wer im Museum die Natur dokumentiert, kommt nicht umhin, die Belege in der Studiensammlung gleich wie die im Gelände beobachteten Tiere, Pflanzen und Pilze mit einem eindeutigen Namen zu belegen. Dies ist oft einfacher gesagt als getan!

Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, seine Umwelt zu benennen, zu klassifizieren und zu ordnen. Nicht der Forscherdrang der Wissenschaft gibt dazu den Anstoß. Ohne eine eindeutige und für alle verbindliche Benennung der Dinge ist schlicht keine Kommunikation möglich. Wir klassifizieren die Kleidung und ordnen sie verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu, wir klassifizieren die Fahrzeuge und bestimmen so ihren Verwendungszweck. Und selbstverständlich benennen wir auch unsere Nahrung und deren Bestandteile. Egal, ob man Pflanze oder Tier bevorzugt – es gilt, Gleiches zu Gleichem zu stellen, Ähnliches zu Ähnlichem, und alles in einem in sich widerspruchsfreien System zu ordnen. Aber wie?

Am Anfang war alles ganz einfach. Der Mensch beschränkte sich auf seine unmittelbare Umwelt und auf das, was er mit unbewaffnetem Auge auf den ersten Blick unterscheiden konnte. Dies sollte für das tägliche Überleben genügen. Aber bald siegte die Neugierde. Über die Notwendigkeit von Nahrungserwerb und Handel hinaus wollte und will der Mensch mehr über die Lebewesen um ihn erfahren. Das geschulte Auge des Forschers findet immer neue Details, die das, was bisher als gleich erachtet wurde, in zwei oder mehr Arten trennen. Doch wie weit darf der Unterscheidungsdrang gehen, und wo sind Grenzen zu ziehen?

Carl von Linné gilt als Begründer der modernen Biologie. Wie viele andere vor ihm hortete er in seinem Kuriositäten- und Naturalienkabinett alles, dessen er habhaft werden konnte. In einem aber unterschied er sich von seinen Vorgängern und Zeitgenossen: Er klebte die getrockneten Pflanzen nicht mehr ins Album. Er wollte sie rasch wiederfinden und suchte nach einem System der Ordnung. Sein geordneter Herbarschrank gilt noch heute als Urbild jeder Museumssammlung. Was er in seinen Werken „Species Plantarum“ (1753, für die Pflanzenwelt) und „Systema Naturae“ (1758, für die Tierwelt) festgelegt hat, ist das Grundprinzip für die Benennung und Klassifizierung aller Lebewesen, die biologische Taxonomie und Systematik. Für Linné war klar: Alles, was gleich ausschaut, gehört zur selben Art. Arten, die sich ähnlich sind, hat er zu Gattungen zusammengefasst, Gattungen in Familien geordnet.

Doch das Linnésche System hat Grenzen. Manche Arten lassen sich rein aufgrund äußerer Merkmale gut unterscheiden. Andere jedoch sind in sich so variabel, dass die Zusammengehörigkeit nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Ein neues Kriterium für die Abgrenzung von Arten musste gefunden werden. Obwohl Charles Darwin mit der Evolutionstheorie die Richtung bereits vorgezeigt hatte, sollte es bis ins 20. Jahrhundert dauern, bis der biologische Artbegriff allgemein etabliert war. Eine Art ist eine Fortpflanzungsgemeinschaft, und alle Individuen einer Art sind in der Lage, untereinander fruchtbare Nachkommen zu zeugen. Auch wenn dem vielleicht praktische Überlegungen entgegenstehen: Ein Bernhardiner und ein Chihuahua sind zumindest theoretisch in der Lage, sich miteinander erfolgreich zu paaren, und gehören zur selben Tierart. Die Fortpflanzungsgemeinschaft ist die einzige (mehr oder weniger) stabile und „natürliche“ Kategorie, und bereits die Gruppierung von Arten zu Gattungen ist Interpretation. Alle anderen höheren Hierarchie-Ebenen (Familie, Ordnung etc.) müssen wir als künstliches (wenngleich sinnvolles) System ansehen.

Das macht die Sache keinesfalls einfacher. Unter einer in ihren äußeren Merkmalen gut fassbaren Gruppe können sich zwei unterschiedliche Fortpflanzungsgemeinschaften mit klarer Fortpflanzungsbarriere – also zwei kryptische Zwillingsarten – verbergen. So wurde der Biologe zum Voyeur, der nun Geschlechtsorgane und deren Verwendung studiert. Daneben besteht das alte, morphologische Konzept aus praktischen Gründen weiter. Die immense Zahl der Arten macht es unmöglich, sich mit dem Fortpflanzungsverhalten jeder einzelnen im Detail auseinanderzusetzen. Bei Pflanzen erschwert die Bildung von Mischformen (Hybriden) die Grenzziehung. Und natürlich muss die Frage erlaubt sein: Ist die geografische Isolation eine hinreichende Fortpflanzungsbarriere, um von unterschiedlichen Arten sprechen zu dürfen? In der Evolutionstheorie gelten ja geografische Barrieren als wichtiger Faktor für die Aufspaltung bestehender und die Entstehung neuer Arten.

In jüngster Zeit erhielt die Taxonomie Unterstützung aus der Genetik. Fortpflanzungsbarrieren sind gleich wie das Aussehen eines Tiers oder einer Pflanze in der Erbsubstanz kodiert. Daher sollte es möglich sein, die einzelnen Arten anhand ihres „genetischen Fingerabdrucks“ zu identifizieren. Was auch gelingt: Ein bestimmter Abschnitt aus einem Gen, das für die Zellatmung von großer Bedeutung ist, weist für jede Art einen charakteristischen Aufbau auf. Dieser DNA-Barcode wurde zum weiteren Hilfsmittel in der Unterscheidung und Benennung der Lebewesen. Für die Analyse wird im Labor ein kurzer Abschnitt der DNA entnommen, vervielfältigt und anschließend entschlüsselt. Die Abfolge von 658 Basenpaaren als Bausteine der Erbsubstanz wird ähnlich dem Strichcode auf Verpackungen dargestellt. Analysiert wird immer der gleiche Abschnitt des Gens – damit sind die „Barcodes“ direkt vergleichbar. Voraussetzung für die genetische Bestimmung aber ist eine verlässliche Muster-Datenbank.

So unterschiedlich die einzelnen Ansätze zur Klassifizierung der Lebewesen auch sein mögen, eines ist allen Forschenden klar: Wer sich auf eines der Konzepte beschränkt, verliert leicht den Blick auf das Ganze. Erst in der Kombination von Morphologie, Genitaluntersuchung und Genetik lassen sich neue, bisher unbekannte Arten entdecken, aber auch vermeintlich gut etablierte Arten als ident erkennen. Für eine gültige Unterscheidung, Beschreibung und Benennung sind künftig alle drei Aspekte erforderlich.

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