Alles beginnt mit der Sehnsucht
Alles beginnt mit der Sehnsucht“, schreibt die jüdische Schriftstellerin Nelly Sachs. Denn, so geht das Zitat weiter: „Immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres. Das ist des Menschen Größe und Not: Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.“
Diese Zeilen atmen einen zutiefst adventlichen Geist, auch wenn wir den Advent meist nicht als Idylle erleben. Advent ist in der Tat eine Zeit der Sehnsucht: nach Schönerem, nach Größerem, nach mehr Leben, auch nach Heilung unserer Wunden, nach Frieden, Gerechtigkeit und Freisein. Sehnsucht nach jemandem, der all das Wirklichkeit werden lässt.
Worauf wartest du?
Sehnsüchte werden oft nicht oder nicht gleich gestillt. Wie eine brennende Wunde erinnern sie uns daran, dass nicht alles machbar ist. Offen gebliebene Sehnsüchte mahnen, dass noch etwas ausständig ist. Die Sehnsucht zwingt uns zu warten, das kennen wir aus unserem Alltag. Manchmal warten wir gerne, sogar voller Freude, dann wieder angespannt und Angst breitet sich aus. Auf manche Dinge warten wir ein ganzes Leben. Ist der Advent nicht die Zeit des Wartens und Er-wartens schlechthin? Ist nicht unser ganzes Leben ein Advent, ein Erwarten?
#woraufwartestdu? Unter diesem Hashtag habe ich junge Vorarlberger nach ihren Sehnsüchten und Hoffnungen gefragt. Ihre Antworten sammeln wir jetzt als eine Art Adventkalender auf meinem Instagram-Account [instagram.com/bischofbenno]. Die ganze Bandbreite, die mich da erreicht hat, fasziniert mich. Sie zeigt mir, dass wir alle in unserem Leben unterwegs sind hin zu einem Mehr und zu einer Erfüllung, die wir uns nicht selber geben, sondern uns nur schenken lassen können.
Advent, Zeit der Solidarität
Wer den Sehnsuchtsschrei eines Mitmenschen hört, an sich heranlässt, der kann oft nicht anders, als zu helfen. Darum ist der Advent auch eine Zeit der Solidarität. Banges Warten kann uns niederdrücken. So ist es in dieser Zeit ein besonderes Werk der Solidarität, jene Menschen nicht zu vergessen, die unter dem Warten leiden: Obdachlose in der Schlange der Essensausgabe, Kranke in den Wartesälen der Spitäler, Arbeitslose, Häftlinge, die auf Entlassung harren, Verzweifelte, die nichts mehr erwarten, Geflüchtete an den Grenzen.
Warten – ein Standpunkt für Wirtschaft und Gesellschaft
Wer wartet, braucht vor allem eines: Geduld. Dem Gehetzten und von Stress Geplagten – und das sind doch wir alle – ist geduldiges Ausharren nichts als Zeitverschwendung. Die Devise lautet: möglichst viel haben und erleben. Und zwar sofort! Auf den ersten Blick ist Warten untätiges Nichtstun. Und doch erzeugt es einen Kontrast zur Ungeduld. Sich nicht vorschnell mit etwas zufriedengeben ist eine lobenswerte Eigenschaft, die ich bei jedem Menschen schätze. Und doch steckt in der Ungeduld auch eine Unfähigkeit, den Augenblick auf sich wirken zu lassen und im Jetzt zu leben. „Am Morgen wirst du sagen: ‚Wenn es doch schon Abend wäre!‘ Und am Abend: ‚Wenn es doch schon Morgen wäre!‘“, heißt es in der Bibel (Dtn 28,67). Ungeduld ist also kein Phänomen unserer Zeit, sie ist so alt wie der Mensch selber. Das wirft aber auch Fragen auf: Warum will ich eigentlich, dass es am Morgen schon Abend ist? Warum will ich als Jugendlicher erwachsen und als Erwachsener ein Kind sein?
Oft habe ich den Eindruck, dass wir den wertschätzenden Blick auf das, was gerade um uns herum passiert, verloren haben. In einer träumerischen Nostalgie wünschen wir uns zurück in die Kindertage und verorten dort den Idealzustand. Und eine täuschende Utopie verschiebt das Glück in die Zukunft. Beides bringt nicht weiter: kein Unternehmen, keine Gesellschaft, keine persönliche Entwicklung. Den Augenblick als Chance zu begreifen und jetzt aktiv zu werden hingegen schon. Die adventliche Grundhaltung des geduldigen Wartens kann uns helfen, im Hier und Jetzt zu leben, den Augenblick als Chance zu sehen, die Welt und das eigene Leben mit Freude und Vertrauen zu füllen. Achtsamkeit für das Heute ist eine Haltung, die uns glücklich macht.
Das Warten muss ein Ende haben!
Endloses und in die Verzweiflung treibendes Warten hat Samuel Beckett in seinem Stück „Warten auf Godot“ bis ins Extrem karikiert. Und er hat recht: Wird nach langem Warten die Sehnsucht nicht erfüllt, sind Enttäuschung und Verzweiflung zum Greifen nahe. Deshalb muss das Warten ein Ende haben, um seine fruchtbare Kraft zu entfalten.
Adventliches Warten geht nicht ziellos ins Leere, sondern es wird erfüllt: und zwar von einem Kind. Wie viel an Hoffnung, Freude und Zuversicht kommen bei der Geburt eines Kindes in die Welt, auch wenn seine Zukunft noch nicht erkennbar ist. Adventliches Warten stützt sich auf die Zuversicht, dass im Kind von Bethlehem die Sehnsucht der Menschen nach Heil und Rettung erfüllt sind. Denn der Advent, die Erwartung verliert sich nicht im Nirgendwo, sondern mündet in der Geburt eines Kindes: Ein Kind, in dem nicht nur unsere Sehnsucht nach Gott, sondern Gottes Sehnsucht nach uns zum Ausdruck kommt.
Ich wünsche uns allen, dass wir den Advent als einen Warte-Raum (wieder-)entdecken können, der uns aufatmen lässt und unsere Sehnsucht nach dem Leben neu weckt.
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