Herbert Motter

Technikland Vorarlberg - Wie eine Vision Wirklichkeit wurde

Mai 2019

Vor rund 50 Jahren haben sich die Betriebe der Vorarlberger Elektro- und Metallindustrie – V.E.M. – auf einen gemein­samen Weg in Ausbildungsfragen gemacht, den sie bis heute äußerst erfolgreich partnerschaftlich gehen.

Der Beginn der Erfolgsgeschichte der V.E.M., der Vorarlberger Elektro- und Metallindustrie, liegt fast 50 Jahre zurück. Man schrieb das Jahr 1973, als Vorarlberger Industrieunternehmen und deren Interessenspartner erkannten, welch große Bedeutung die Heranbildung von betrieblichen Experten für das Wirtschaftswachstum Vorarlbergs hat. Zu dieser Zeit ahnte noch niemand, welche Erfolgsgeschichte daraus werden würde. Es trafen sich einige Techniker der Firmen Blum, Hilti, Hirschmann, König und anderer in der Vorarlberger Wirtschaftskammer, um die Lehrlingsausbildung zu erneuern. Damals wurden Werkzeuge und Anlagen noch mit der Hand konstruiert, Maschinen wurden ausschließlich manuell gesteuert. Computer waren Fehlanzeige, Mobiltelefone gab es nicht einmal im Traum und das World Wide Web wurde erst zwanzig Jahre später eingeführt. „Die V.E.M. wurde von einem kleinen Kreis engagierter Techniker gegründet. Alles begann mit der Idee, die Ausbildung junger Techniker zu revolutionieren“, erklärt V.E.M-Geschäftsführer Mario Kempf. Und eine weitere Auffassung oder besser gesagt Erkenntnis war ganz zentral: „Frühzeitig wurde erkannt, dass in einem Miteinander mehr erreicht werden kann als allein. Schon damals nahmen sich die Unternehmer zum Wohl des großen Ganzen zurück“, sagt Kempf. Zu dieser Zeit ein beispielloses Vorgehen. 

Einige – vor allem international tätige – Vorarlberger Unternehmen realisierten Anfang der 1970er-Jahre, dass die anstehenden Qualifikationserfordernisse zur Umsetzung neuer Technologien und der Vermittlung von Managementkompetenz eine große Herausforderung darstellen und neuer Maßnahmen bedürfen. Die Veränderungen der globalen Marktentwicklung erforderten eine ständige bildungsstrategische Orientierung, damit in Vorarlberg auch zukünftig ausreichend Arbeitsplätze vorhanden sind, das soziale Netz finanzierbar ist und die Jugend im Land eine überzeugende Zukunftsperspektive findet. Es wurde erkannt, dass Berufsbilder und Lehrpläne der „Standardqualifikation einer drei bis dreieinhalb-jährigen Lehrlingsausbildung“ nicht ausreichend waren, um den zukünftigen Herausforderungen gewachsen zu sein. Es gab Handlungsbedarf.

Bereits damals – Vorarlbergs Wirtschaft war noch hauptsächlich textil­orientiert – hatten sich in den Bereichen Werkzeug- und Maschinenbau sowie Elektrotechnik und Elektronik Technologieentwicklungen angekündigt, die Potenziale für eine enorme Steigerung der Produktivität erkennen ließen. Um diese Möglichkeiten zu nutzen, mussten die Qualitätsanforderungen an die betrieblichen Fachleute angepasst werden. In den Jahren 1968 bis 1978 hatte sich die Zahl der Arbeitsplätze im Bereich der Vorarlberger Elektro- und Metallindustrie von 4800 auf 9700 verdoppelt. Die Wertschöpfung wurde im gleichen Zeitraum um 150 Prozent von 8,3 Milliarden auf 20,8 Milliarden Schilling, in etwa 1,5 Milliarden Euro, gesteigert. Machte der Anteil der Vorarlberger Elektro- und Metallindustrie (V.E.M.) 1973 noch 18 Prozent an der Industrieproduktion in Vorarlberg aus, erarbeitet die V.E.M. mittlerweile 65 Prozent der industriellen Wertschöpfung. Auf über vier Milliarden Euro stieg der Wert bis heute an. Das entspricht einer Pro-Kopf-Wertschöpfung von rund 250.000 Euro. 

"Wir wollen Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung und in ihren Talenten unterstützen." Johannes Collini, Vorsitzender des V.E.M.-Arbeitgeberkomitees

Firmenübergreifende Ausbildung

Zunächst wurde der „Arbeitskreis Lehrlingsausbildung“ gegründet, der sich aus der Interessensgemeinschaft von Ausbildungsleitern der Industrieunternehmen und der Energiewirtschaft (Vor­arlberger Kraftwerke und Vorarlberger Illwerke) sowie der Wirtschaftskammer und Berufsschulen zusammensetzte. Der Zusammenschluss war erfolgt, um die Lehrlingsausbildung punktgenau und kontinuierlich an die technologischen und unternehmerischen Anforderungen anzupassen. Die Errichtung von weiteren Lehrwerkstätten in der industriellen Lehrlingsausbildung, die Neuorientierung der Berufsbilder und Lehrpläne hinsichtlich der Vermittlung neuer Technologien unter Berücksichtigung der Sozial- und Managementkompetenz, aber auch die moderne Ausstattung für die Vermittlung neuer Technologien in den Berufsschulen, die Qualifizierung der Ausbilder sowie die Überprüfung des Ausbildungsfortschrittes in der Hälfte der Ausbildungszeit sind Zielvorgaben, die bis dato Gültigkeit haben.
„Wenn es uns gelingt, unsere Jugend ihren Fähigkeiten entsprechend zu qualifizieren, werden wir die Zukunft erfolgreich meistern“, hielt Egon Blum, der damalige Vorsitzende und Hauptinitiator des Arbeitskreises Lehrlingsausbildung, die Zielsetzung fest. Es folgten Arbeitskreise für die Bereiche Metall und Elektro. Gegenwärtig arbeitet man auch in Personalarbeitskreisen erfolgreich zusammen. Man ist Konkurrent und gleichzeitig Partner.

V.E.M.-Ausbildungsfonds

Um verschiedene Zielsetzungen in Richtung Förderung von Fachkräftenachwuchs finanzieren zu können, wurde im Jahre 1978 ein Ausbildungsprämiensystem eingeführt. 2,4 Promille der Bruttolohn- und Gehaltssumme wird in Form einer Sondergrundumlage in einen V.E.M.-Fonds eingezahlt. Diese Mittel werden zu einem Großteil dafür eingesetzt die Unternehmen dabei zu unterstützen, eine hochwertige Lehrlingsausbildung anzubieten. Mehr und besser ausgebildete Lehrlinge lautete das Bestreben. Und nicht zuletzt ging es um die Erhaltung und Weiterentwicklung des Betriebsstandortes Vorarlberg, wo modernste Technologien, eine hohe Produktivität, der Export hochwertiger Produktionsgüter sowie die Durchsetzung im internationalen Wettbewerb von entscheidender Bedeutung sind.
Über den Fonds erhalten die Unternehmen für jeden Lehrling in der Ausbildung eine einmalige Unterstützung, wenn dieser einen – nach dem zweiten Lehrjahr angesetzten – Lehrlingsleistungswettbewerb positiv abschließt. Der Unterstützungsbetrag wurde im Laufe der Zeit den jeweiligen Gegebenheiten angepasst und beläuft sich seit 2016 auf 5000 Euro je Lehrling. Seit 1980 wurden 28 Millionen Euro Ausbildungsprämie ausbezahlt. „Die Ausbildungsprämie ist ein sichtbares Zeichen für Unternehmen und Bildungsverantwortliche, wie wichtig der Vorarlberger Industrie eine hochgradige Ausbildung ist. Dass mit dieser Prämie nur ein kleiner Teil der Ausbildungskosten für einen High-Tech-Beruf abgedeckt werden kann, stellt die Richtigkeit der Idee nicht in Frage“, betont der ehemalige Regierungsbeauftragte für Jugendbeschäftigung und Lehrlingsausbildung Egon Blum und meint: „Das Vorarlberger Fondsmodell ist ein richtungweisender Schritt zur Erhaltung des Produktions- und Dienstleistungsstandortes. Es ist ein Beweis, dass es sich lohnt, nicht nur über Konzepte zu reden, sondern Ideen auch umzusetzen.“
Es ging den Initiatoren primär um die quantitative und qualitative Steigerung der Lehrlingsausbildung in den V.E.M.-Betrieben. Zwischenprüfungen und Lehrlingsleistungswettbewerbe dienten, und tun dies heute noch, der Überprüfung des Ausbildungsstandes des Lehrlings am Ende des 2. Lehrjahres. Allfällige Ausbildungsdefizite werden dadurch frühzeitig erkannt und können vor dem Ende der Lehrzeit behoben werden. Die Unternehmen haben im Zusammenhang mit diesem Prämiensystem nachweisbar mehr Lehrlinge eingestellt. Durch die Einführung des Lehrlingsleistungswettbewerbes wurde in überzeugender Art klargestellt, dass nur für eine nachweisbar anspruchsvolle Ausbildung Geld freigemacht wird. Also nicht die Menge, sondern die Ausbildungsqualität stand und steht im Mittelpunkt der Zielsetzung der „Fonds-Idee“.
„Erfolge sind da, um nachgemacht zu werden“, brachte bei der 30-Jahr-Feier 2003 der damals höchste Metallgewerkschafter, Rudolf Nürnberger, die Vorbildfunktion der V.E.M. für das gesamte Bundesgebiet auf den Punkt. 2013 startete der damalige Bundeskanzler Werner Faymann den bis dato letzten Versuch das V.E.M.-Modell österreichweit verpflichtend zu implementieren und erklärte gegenüber den Medien: „Dieses Modell ist vorbildlich. Das kann ich mir gut für ganz Österreich vorstellen“. Doch schnell wurde klar, dass eine derart regional gewachsene und verankerte Struktur nicht auf ganz Österreich übertragbar ist. Es wurde schlichtweg übersehen, dass das System in Vorarlberg deswegen funktioniert, weil man auf das Prinzip der Freiwilligkeit setzt und regionalen Bedürfnissen gerecht wird. Während es damit bundesweit vom Tisch war, blühte die Kooperation in Vorarlberg so richtig auf.
Im Lauf der Jahre wurden über die V.E.M. Kuratorien und Arbeitskreise gemeinsam mit den und für die Vorarl­berger HTL gegründet, Kooperationen mit vielen anderen Schulen wie den Polytechnischen Schulen geschlossen und immer wieder neue Initiativen wie das HTL-Klassen-Mentoring, die E-Learning Plattform ILIAS, Lego MINDSTORMS oder etwa die Lehrgänge V.E.M. Leadership und Future Kolleg ins Leben gerufen. Besonders Augenmerk gilt der Erhöhung des Frauenanteils in technischen Berufen. Durchaus mit Erfolg über die Jahre. Beim Blum macht der Anteil an Technikerinnen in Ausbildung bereits 25 Prozent aus. In diesem gemeinsamen Vorangehen der führenden Persönlichkeiten liegt die große Dynamik, die 2016 in die Exklusivmarke „Technikland“ mündete, branchenübergreifend, da auch das Metallgewerbe weit über den Markennamen hinaus in gemeinsame Projekte miteinbezogen ist.

 

"Alles begann mit der Idee, die Ausbildung junger Techniker zu revolutionieren." Mario Kempf, Geschäftsführer V.E.M.

Plattform innovativer Arbeitgeber

Noch heute entwickelt der Arbeitskreis den Anforderungen entsprechend neue Berufe beziehungsweise aktualisiert bestehende Lehrpläne und Berufsbilder. Diese berücksichtigen alle wesentlichen neuen Technologien und Themen der Sozial- und Managementkompetenz. Über 100 Unternehmen mit rund 20.000 Beschäftigten zählt die Vorarlberger Elektro- und Metallindustrie inzwischen. Viele von ihnen gehören in ihren Branchen weltweit zu den Marktführern, andere erschließen als erfolgreiche Newcomer neue Märkte. Sie gelten als Pioniere der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Region. In den vergangenen Jahren entwickelte sich die V.E.M. so dynamisch wie kein anderer Wirtschaftszweig in Vorarlberg. Ein wesentlicher Grund für ihren Erfolg war und ist die technische Kompetenz der Unternehmen, die faszinierende Dynamik von Forschung und Entwicklung, die hohe Anzahl an Erfindungen und Patenten. Sie entwickeln und produzieren Maschinen und Anlagen, Steuerungssysteme, Kräne, Werkzeuge, Leuchten und Lichttechnologie, Seilbahnen, Möbelbeschläge, Bauteile für Smartphones, Satelliten und Flugzeuge, für Autos und Motorräder und vieles andere mehr. Vor allem aber bieten sie jungen Leuten hervorragende Ausbildungs- und Berufschancen. Ihre globale Spitzenposition haben sie in vielen Branchen auch deshalb erreicht, weil sie eng mit den Schulen, Fachhochschulen, Universitäten und anderen Bildungspartnern des Landes zusammenarbeiten.
„Wir wollen Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung und in ihren Talenten unterstützen, sie mit Sinn und Ziel anleiten, ihnen Vorbild sein, sie anfeuern und begeistern. Das ist eine große Herausforderung. Wenn wir aber die vielen tausend erfolgreichen Lebens- und Karrierewege in der V.E.M. sehen, ist es vor allem eine unglaubliche Befriedigung“, beschreibt Johannes Collini, Vorsitzender des Arbeitgeberkomitees der Vor­arlberger Elektro- und Metallindustrie, das große Engagement der V.E.M. für Bildung und Ausbildung.
Wer, wenn nicht die Menschen machen den Erfolg der Unternehmen aus. Sie sind es, die neue und innovative Produkte erdenken. Sie sind es, die jene Anlagen konstruieren und bauen, auf denen die Produkte rationell hergestellt werden können – so, dass die Unternehmen im globalen Wettbewerb die Nase vorne haben. „Deshalb arbeiten die Unternehmen der V.E.M. jeden Tag daran, die Arbeitswelt so zu gestalten, dass Innovation und Leistung möglich sind“, sagt V.E.M.-Geschäftsführer Kempf. Dahin führen viele Wege und jedes Unternehmen hat seinen eigenen. Trotzdem und weil miteinander eben noch mehr möglich ist, setzen sie auch gemeinsame Initiativen um.
In einigen großen Unternehmen der Vorarlberger Elektro- und Metallindustrie steht der Generationswechsel bevor. Für die Zukunft wird es essenziell sein, wie das Kulturgut dieser vorausschauenden Zusammenarbeit der Betriebe auch über die nachkommenden Unternehmergenerationen hinweg sichergestellt werden kann. Darin liegt das Erfolgsgeheimnis von Technikland Vorarlberg.

 

Die wichtigsten Lehrberufe und Ausbildungsmodule

  • Anlagen- und Betriebstechnik
  • Automatisierungs- und
  • Prozessleittechnik
  • Bautechnisches Zeichnen
  • Betriebslogistik
  • Bürokaufmann/-frau
  • Brau- und Getränketechnik
  • Elektro- und Gebäudetechnik
  • Elektronik – Angewandte Elektronik
  • Elektronik – Informations- und
  • Telekommunikationstechnik
  • Elektronik – Kommunikationstechnik
  • Energietechnik
  • Fahrzeugbautechnik
  • Industriekaufmann/-frau
  • IT-Technik
  • IT-Informatik
  • Kälteanlagentechnik
  • Konstruktionstechnik
  • Kunststoffformgebung
  • Kunststofftechnik
  • Labortechnik
  • Lackiertechnik
  • Landmaschinentechnik
  • Lebensmitteltechnik
  • Maschinenbautechnik
  • Mechatronik
  • Metallbau- und Blechtechnik
  • Metallbearbeitung
  • Milchtechnologie
  • Oberflächentechnik
  • Produktionstechnik
  • Prozess- und Fertigungstechnik
  • Schmiedetechnik
  • Schweißtechnik
  • Seilbahntechnik
  • Stahlbautechnik
  • Technisches Zeichnen
  • Textilchemie
  • Textiltechnologie
  • Wertstofftechnik
  • Werkzeugtechnik
  • Zerspanungstechnik​

 

Zahlen und Fakten

  • Derzeit werden 1800 Lehrlinge im Technikland Vorarlberg ausgebildet.
  • Über 30 Lehrberufe werden in der V.E.M. angeboten
  • Die Elektro- und Metallindustrie ist stärkster Wirtschaftsfaktor im Ländle, die Exportrate liegt bei 95 Prozent.
  • 65 Prozent der industriellen Wertschöpfung des Landes leisten die Unternehmen der V.E.M.
  • 20.000 Menschen in rund 100 Unternehmen in der V.E.M. stellen Waren im Wert von über vier Milliarden Euro her. Damit erbringt jeder dieser Menschen rund 250.000 Euro Wertschöpfung.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.