Brigitte Walk

Schauspielerin, Regisseurin, ausgebildet am Theater an der Wien und an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, Engagements und Inszenierungen im gesamten deutschsprachigen Raum, Lehraufträge an der Universität Innsbruck, PH und FH Vorarlberg, Leiterin von walktanztheater.com, Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, lebt in Feldkirch.

HANNAH ARENDT. OHNE GELÄNDER Eine Zueignung in sieben Bildern

Juni 2021

Eine Produktion von walktanztheater.com zum 20jährigen Jubiläum. Premiere war am 24. April2021 im Alten Hallenbad in Feldkirch.

Seit zwei Jahren beschäftige ich mich nun – im Verbund mit einer Dramaturgin und einer Bühnenbildnerin – mit den Texten und dem Leben von Hannah Arendt und bin dabei in ungeahnte Denk- und Erfahrungswelten eingetaucht. Hannah Arendt hat eine Art, den Dingen sehr genau auf den Grund zu gehen und dabei sprachlich poetische Bilder zu formulieren, die mich zwar sehr fordert, aber auch tief in den Bann von Denken, Schreiben, Lesen, Formulieren gezogen hat. Die Grundzüge ihrer Theorien und Gedankenwelten ziehen sich durch alle ihre Werke, dennoch schlägt sie in jedem Buch einen je sehr eigenen Ton an, der ihre Versiertheit im Umgang mit genauem Denken und Sprechen dokumentiert.

Zugänge zum Werk und zur künstlerischen Umsetzung

Wir wollten die Texte und Thesen von Hannah Arendt mit theatralen Mitteln untersuchen und herausfinden, wie und ob sie im Theater erzählbar sein könnten. Ich entschied mich, sieben Szenen für sieben ausgewählte Themen umzusetzen, die sich für mich als spannend und wiederkehrend herausgestellt hatten und die theatral präsent sein könnten und die sich natürlich auch entlang der Themen ihrer Theorien bewegen. Dies heißt, wir wollten unbedingt dem Publikum eine ähnliche Erfahrung übermitteln, die uns so überzeugt hatte in der Beschäftigung mit Hannah Arendt, nämlich einen Zugang zu finden zu ihrem Denken als Denkraum und damit als Möglichkeit, einen eigenen Prozess anzustoßen.
Den Text haben wir stark gekürzt und verständlich gemacht, indem wir ihn wiederholt in seinem physischen Sprechen im Theaterraum wirken ließen. Nicht alles ist zum Sprechen geeignet, manche Passagen aber sehr wohl und entwickeln dabei jenen Zauber, den man aus den berühmten Interviews von Hannah Arendt kennt. Die Person Hannah Arendt mit all ihrem Witz, ihrer Lebendigkeit, ihrem sprühenden und brillanten Scharfsinn verbindet sich in einer theatralen Figur auf wundersame Weise mit ihren keineswegs trockenen Texten, und eine theatrale Wirklichkeit entsteht, die fasziniert.

Bild 1 / Totale Herrschaft

Hannah Arendt: ‚Das eigentliche Ziel der totalitären Ideologie ist nicht die Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz und nicht die revolutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst, die, so wie sie ist, sich dauernd dem totalitären Prozess entgegenstellt. Was in der totalen Herrschaft auf dem Spiele steht, ist wirklich das Wesen des Menschen.‘

Bild 2 / Körper, Tanz und Raum

‚Das Körpererlebnis, das alle sensualistische Philosophie als einen Dauerzustand voraussetzt, ist keineswegs etwas selbstverständlich Gegebenes; es ist im Gegenteil nur erreichbar durch eine äußerst geschärfte Vorstellungs- und Einbildungskraft.‘

Bild 3 / Verstehen

‚Das Verstehen ist ein komplizierter Prozess, der niemals zu eindeutigen Ergebnissen führt. Es ist eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir Wirklichkeit, in ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen und mit ihr versöhnen, das heißt, durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein.‘

Bild 4 / Denken

‚Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nachdenken. Nicht? Ich lebe in der modernen Welt, und selbstverständlich habe ich in der modernen Welt meine Erfahrungen.‘
Bild 5 / Die Banalität des Bösen
‚Sehen Sie, es gibt Leute, die nehmen mir eine Sache übel, und das kann ich gewissermaßen verstehen: Nämlich, dass ich da noch lachen kann. Aber ich war wirklich der Meinung, dass der Eichmann ein Hanswurst ist, und ich sage Ihnen: Ich habe sein Polizeiverhör, 3600 Seiten, gelesen und sehr genau gelesen. Und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe; aber laut!‘

Bild 6 / Neu anfangen

‚Die Tatsache, dass der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann daher nur heißen, dass er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, und diese Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare wiederum beruht ausschließlich auf der Einzigartigkeit, durch die jeder von jedem, der war, ist oder sein wird, geschieden ist.‘

Bild 7 / Rollen und Masken

‚(…) dass die Masken oder Rollen, die die Welt uns zuteilt und die wir annehmen, ja uns sogar aneignen müssen, wenn wir überhaupt am Spiel der Welt teilnehmen wollen, austauschbar sind; und sie hängen unserem inneren Selbst nicht permanent an.‘

Gegensätze schaffen in der theatralen Umsetzung

Die Inszenierung bediente sich eines künstlerischen Mittels, das mit der lebhaften Körperlichkeit, dem Humor, den vielen Clownfiguren in Arendts Literatur und ihrem eigenen Zugang zum Lachen als Ausdruck von Wahrhaftigkeit zu tun hat und einen lebendigen Gegenpol zum vermeintlich trockenen Text schaffen kann: Wir sind im Zirkus!
Der Kopf ist rund, im Kopf sprühen Gedanken, Leben, auch Emotionen und verwirbeln sich zur Einzigartigkeit dieser scharfen Denkerin und genauen Beobachterin.
Sie hat mich sehr viel gelehrt in diesen langen Lesestunden und ausgiebigen Gesprächen und Proben mit meinem fantastischen Team.

Wer war Hannah Arendt?

Die Denkerin Hannah Arendt zählt zu den Schlüsselfiguren der internationalen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die deutsche Jüdin, die Philosophie in Marburg, Freiburg und Heidelberg studierte, floh 1933 im Alter von 26 Jahren aus Nazi-Deutschland und emigrierte über die Tschechoslowakei, Italien und die Schweiz zunächst nach Frankreich, später in die USA. Dort lehrte sie politische Theorie an renommierten Universitäten und verfasste als Publizistin zahlreiche Schriften, darunter Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, eine Untersuchung der historischen Entstehung und der gemeinsamen politischen Merkmale von Nationalsozialismus und Stalinismus und heute ein Standardwerk der Totalitarismusforschung, sowie ihren hochumstrittenen Prozessbericht Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Sie war beängstigend klug und scharfsinnig, widersprüchlich, streitbar und provokant, mutig und unabhängig – zwischen allen Stühlen.
Auch heute, 45 Jahre nach ihrem Tod, polarisieren ihre Ideen, Gedanken und Urteile noch immer. In einer nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie global in die Krise gestürzten Welt, in der uns die Fragilität von Gesundheitssystemen, Volkswirtschaften, Demokratien und freiheitlichen Grundwerten in einem Stresstest nie zuvor dagewesenen Ausmaßes vor Augen geführt wird, sind Arendts Mut im Denken und Urteilen, ihr unbedingter Wille zum Verstehen, sind ihre leidenschaftlichen Plädoyers für Freiheit, für Pluralität und für die genuin menschliche Fähigkeit des Neu-Anfangens uns Mahnung und Hoffnung zugleich.

Inszenierung: Brigitte Walk

Ausstattung: Sandra Münchow

Schauspiel: Helga Pedross, Suat Ünaldi

Tanz: Silvia Salzmann, Sina Nikolaus, Marina Rützler

Sieben ausverkaufte Vorstellungen, viel Applaus und fantastische Kritiken haben uns gezeigt, dass einiges erreicht werden konnte, was wir erträumt hatten.

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