Im Ausland: Ärztliche Direktorin in Heidelberg
„Damit schaffen wir Klarheit“
Kathrin Yen (55) ist die ärztliche Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin der Universität Heidelberg. Die in Bregenz aufgewachsene Ärztin ist mit ihrem Engagement für die Gründung von Gewaltambulanzen eine Pionierin auf diesem Gebiet. Ein Gespräch über Gewalt und deren weitreichende Folgen und Rechtsmedizin als „Dienst an der Gesellschaft“.
Kathrin Yen verbindet ihre Kindheit mit vielen Orten in Vorarlberg – Bregenz als Wohnort und Mittelpunkt, Familienzeit bei den Großeltern in Frastanz und Gurtis und unbeschwerte Sommer als Jugendliche in Weiler. Eine besondere Bedeutung hat für die 55-Jährige das Bregenzer Gallusstift, zum einen als Gymnasiastin und zum anderen „verbinde ich mit diesem Ort so viel, weil mein Vater Dr. Eberhard Tiefenthaler dort später die Vorarlberger Landesbibliothek aufgebaut und sie bis zu seinem Tod geleitet hat.“
Als die Landesbibliothek geschaffen wurde, verbrachte sie dort oft die Wochenenden. Während der Vater arbeitete, saß sie oben in dem kleinen Glockenturm: „Ich war dort völlig unbemerkt von allen, habe auf die Stadt mit ihren Türmen und auf den See geblickt. Das war großartig.“ In der entstehenden Landesbibliothek konnte sie auch mitverfolgen, welche neuen Bücher und Zeitschriften angeschafft wurden: „Und eines Tages war das ‚Archiv für Kriminologie‘, eine rechtsmedizinische Fachzeitschrift, dabei. Das unscheinbare graue Heft hat mich sofort in seinen Bann gezogen.“ An ein frühes Interesse an allem „Biologischen“ erinnert sie sich generell, lange Zeit wollte sie Tierärztin werden, schließlich entschied sie sich doch dazu, Humanmedizin zu studieren. „Und diesen Weg bin ich konsequent gegangen und habe ihn nie bereut.“
Im Rahmen des Medizinstudiums in Innsbruck nahm sie dann auch mit Begeisterung an Vorlesungen und Praktika der Gerichtsmedizin teil. Noch während ihrer Ausbildung als Turnusärztin in Feldkirch und Hohenems absolvierte sie ein Praktikum am Institut für Rechtsmedizin in Bern. Dort folgte dann nach einem ersten Jahr in Frankfurt ihre Facharztausbildung, die sie im Jahr 2004 abschloss. Im Laufe ihrer medizinischen Karriere arbeitete die 55-Jährige unter anderem an den Universitäten in Graz, Frankfurt und Bern, 2007 habilitierte sie an der Medizinischen Universität Graz.
Beweise sichern, Klarheit schaffen
Im Jahr 2006 gründete die Bregenzerin die erste Gewaltambulanz in Österreich, fünf Jahre später folgte die erste rechtsmedizinische Ambulanz für die Opfer von körperlicher und sexueller Gewalt in Baden-Württemberg. Seit zwölf Jahren ist Kathrin Yen nun ärztliche Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin der Universität Heidelberg. Ihr Engagement in diesem sensiblen Bereich erklärt sie damit, dass Gewalt in unserer Gesellschaft allgegenwärtig ist: „Es gibt Zahlen, die besagen, dass jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens Opfer von Gewalt wird. Man kann in den Zeitungen jeden Tag von Übergriffen auf Frauen, Männer und Kinder lesen“, und damit sind noch nicht einmal die furchtbaren Kriege unserer Tage gemeint.
Eine qualifizierte gerichtsmedizinische Untersuchung sei von großer Bedeutung, um den Betroffenen bestmöglich helfen zu können. „In unserer Gewaltambulanz in Heidelberg kann man sich an allen Tagen rund um die Uhr untersuchen und Beweise nach gewaltsamen Übergriffen sichern lassen. Damit schaffen wir Klarheit, was passiert ist.“
Dieses Angebot wird intensiv genutzt; laut Yen wurden allein im vergangenen Jahr fast 700 Menschen untersucht; darunter waren zahlreiche Kinder nach teilweise schwerster Kindesmisshandlung oder sexuellem Missbrauch, Frauen und Männer nach häuslicher Gewalt oder sexuellen Übergriffen, Menschen nach Schlägereien und Messerstechereien, versuchter Tötung, Folter, oder auch betagte Personen, die unzureichend versorgt oder gepflegt wurden. „So belastend das ist“, sagt Yen, „liegt der Nutzen solcher Untersuchungen darin, dass Beweise vorliegen, wenn es zu einem Strafverfahren kommt, was die Chancen einer Verurteilung deutlich verbessert. Und wir haben dadurch eine Möglichkeit, Menschen, die von Gewalt betroffen sind, früh zu erkennen und ihnen Hilfe und Beratung zukommen zu lassen, damit es hoffentlich gelingt, sie aus dem gewalttätigen Umfeld zu befreien.“
Und die von Gewalt Betroffenen? Für diese Menschen sei es wichtig, dass ihnen geglaubt werde, sagt die Medizinerin, „dass sie mit ihrer Geschichte nicht in Frage stehen“. Aus gerichtsmedizinischer Sicht gehe es letztlich aber auch darum, zu erkennen, wenn sich Dinge anders zugetragen haben als behauptet wird: „Auch durch Falschanzeigen kann viel Leid und Schaden erzeugt werden.“
Dienst an der Gesellschaft
Kathrin Yen ist es ein großes persönliches Anliegen, Menschen helfen zu können, die Opfer von Gewalt geworden sind: „Gewalt hat unvorstellbare Konsequenzen für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft. Es gibt Studien aus früheren Jahren, die von Kosten von über elf Milliarden Euro pro Jahr alleine in Deutschland in Folge von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch ausgehen, wenn man alle Konsequenzen berücksichtigt. Es lohnt sich deshalb, sich anzustrengen, dass Menschen sich aus gewalttätigen Partnerschaften befreien können, und es lohnt sich, sich anzustrengen, dass kein Kind in einem gewaltsamen Umfeld aufwachsen muss.“
Aber auch die Arbeit, die Gerichtsmedizinerinnen für Verstorbene leisten, hält sie für wichtig, denn es sei für Angehörige wesentlich, zu wissen, woran jemand verstorben ist. Auch eine fehlerhafte Beurteilung von Todesfällen habe erhebliche Konsequenzen, da beispielsweise die Unfallversicherung nicht bezahle, wenn fälschlicherweise ein Herztod bescheinigt wurde. Oder dass es gar zu weiteren Tötungen komme, wenn ein Tötungsdelikt übersehen wird. „Rechtsmedizin ist Dienst an der Gesellschaft und an den Menschen.“
Eine besondere Obduktion
Dieser Dienst bringt mitunter prominente Menschen auf den Obduktionstisch; Kathrin Yen hat zum Beispiel den Leichnam von Jörg Haider untersucht. „Das war schon eine ganz besondere Situation, schließlich habe auch ich den Verstorbenen aus den Medien gekannt, und das öffentliche Interesse hält bis heute an. Ich habe vor allem die Stimmung mitbekommen und erlebt, wie vielen Menschen Haider sehr wichtig gewesen ist.“ Für die gerichtsmedizinische Bearbeitung spiele in solchen Fällen aber nicht die Politik oder das Umfeld eine Rolle, sondern ausschließlich die fachliche Klärung der Frage, wie es zum Tod kam und weshalb.
Glaube an das Gute
„Natürlich ist bei meinem Beruf ein Ausgleich wichtig, den ich in meiner Familie finde. Aber auch bei unserem Hund und den Hühnern, die inzwischen den Garten bevölkern.“ Seit einigen Jahren baut die 55-Jährige ihren Garten zu einem kleinen „Bauernhof“ um und züchtet alle möglichen, meist alten Sorten von Gemüse. „Schon früher in Vorarlberg habe ich gerne geerntet, das ist bis heute so geblieben. Allerdings – zum Leidwesen meines Mannes – muss ich auch hier meine Freude an der Wissenschaft ausleben und probiere deshalb jedes Jahr neue Sorten aus, anstatt bei denen zu bleiben, die sich im Jahr zuvor bewährt haben.“
Bleibt abschließend noch die Frage, ob man angesichts der mannigfaltigen Folgen von Gewalt, die in der Rechtsmedizin dokumentiert werden, den Glauben an das Gute im Menschen behält? Für Kathrin Yen ist klar, dass die meisten Menschen nicht gewalttätig werden: „Und ich sehe immer wieder beeindruckende Zeichen der Solidarität und gegenseitigen Hilfe. In meinem Beruf sehe ich tagtäglich, wie sehr sich alle Beteiligten, Ärztinnen und Ärzte, meine Mitarbeitenden, jene der Jugendämter, der Opferhilfe, aber auch der Polizei und Justiz bemühen, Fälle aufzuklären und den betroffenen Menschen Hilfe zukommen zu lassen.“
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