J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Die Schlange(n) mit dem Krönlein

Oktober 2024

Der Mensch neigt zu Übertreibungen. Angaben zur Größe eines Objekts sind nicht selten unglaubwürdig, sei es aus bewusster Übertreibung, sei es, weil man sich schlicht verschätzt hat oder den Wunsch über die Tatsachen stellt: Man sieht, was man zu sehen erwartet. „Armdick und mindestens zwei Meter lang“ schrumpft in der Realität zu etwas mehr als daumendick bei maximal einem Meter Länge. Aber nur in Ausnahmefällen trägt die „angriffslustig züngelnde“ Schlange eine Aufschrift „Made in China“. Und dennoch verunsichert der Anblick einer Ringelnatter – zu Unrecht.
Vor nicht allzu langer Zeit wäre die Aussage, dass in Vorarlberg nur drei Schlangenarten anzutreffen sind, völlig korrekt gewesen. So nennt die erste Auflage der Roten Liste aus dem Jahr 2008 lediglich Ringelnatter (Natrix natrix [im weiteren Sinn]), Schlingnatter (Coronella austriaca) und Kreuzotter (Vipera berus). Doch die Wissenschaft macht auch vor den Schlangen nicht Halt. Schon damals wurden bei der Ringelnatter zwei Unterarten unterschieden: Die (namensgebende) Nominatform, auch Nördliche Ringelnatter genannt (heute Natrix natrix [im engeren Sinn]), sowie die Südliche oder Barrenringelnatter (heute Natrix helvetica). Hat man die Unterschiede in der Musterung einmal erkannt, so sind die beiden Formen meist auch auf Fotos gut unterscheidbar. Aber erst vor kurzem wurde entdeckt, dass sich diese Unterteilung auch im Erbgut nachvollziehen lässt. Und die genetische Distanz ist groß genug, um die ehemaligen Unterarten in den Rang eigenständiger Arten zu erheben. Damit das alles nicht zu einfach wird, unterscheidet man heute bei beiden Ringelnatter-Arten wiederum mehrere Unterarten. In Vorarlberg sind sowohl die Nördliche Ringelnatter als auch die Barrenringelnatter vertreten. Ihre Areale berühren sich in einer schmalen Zone nördlich des Kummenbergs. In dieser Überschneidungszone der Verbreitungsgebiete können sich die beiden Arten untereinander paaren und Hybride bilden. Gelegentlich werden Einzeltiere der Südlichen Ringelnatter über den Rhein bis an den Bodensee geschwemmt, und die (unbeabsichtigte) Verschleppung ins „fremde Revier“ durch den Menschen kann auch nicht ausgeschlossen werden. Bei Natrix helvetica zeigt sich einmal mehr, dass Vorarlberg biogeographisch nach Westen orientiert ist: Bei uns lebt die schweizerische Unterart (für die der Rhein keine Grenze darstellt, sehr wohl aber der Arlberg), während in Tirol und neuerdings auch im westlichsten Salzburg die italienische Unterart der Barrenringelnatter angetroffen wird.
Egal welche Art vorliegt – Ringelnattern sind ungiftig und für uns Menschen völlig harmlos. Dass sie „angriffslustig“ züngeln, findet nur in der Fantasie der Beobachter statt. Für die Schlange ist die Zunge ein Werkzeug, das Geruchspartikel aus der Luft an das eigentliche Sinnesorgan weiterleitet und ihr damit das Riechen ermöglicht. Auch kann sie mit ihr die direkte Umgebung abtasten. Ringelnattern ernähren sich von Fröschen, Mäusen und anderem Kleingetier. Die Beute wird lebend verschlungen. Gelegentlich vergreift sich eine Ringelnatter auch an einer Erdkröte. Diese wiederum will nicht im Schlangenmagen bei lebendigem Leib verdaut werden – sie pumpt Luft in ihren Körper und bläht sich auf. Dadurch versucht sie, dem Gefressenwerden einen möglichst großen Widerstand entgegenzusetzen. Erkennt die Schlange ihr Opfer als zu groß, so lässt sie von der vermeintlichen Beute ab, und die Kröte ist gerettet. Es kann aber auch sein, dass die Kröte auf halbem Wege stecken bleibt, was letztendlich zum Tod beider Tiere führt. Ringelnattern finden sich häufig an Gewässern, wo auch kleine Fische zu ihrem Nahrungsspektrum gehören. Sie können schwimmen, weswegen sie gelegentlich auch als Wasserschlangen bezeichnet werden. Mist- und Komposthaufen wiederum sind bevorzugte Ort der Fortpflanzung: Verrottendes organisches Material erzeugt Wärme, welche die Entwicklung des Nachwuchses im Ei deutlich beschleunigt. Damit verwundert es nicht, dass Ringelnattern auch oft im Umfeld von Bauernhöfen angetroffen werden: Wärme und Nahrung im Überfluss – da kann keine Schlange „Nein“ sagen! 
Ihre Nähe zum Menschen gab Anlass, dass der Ringelnatter sehr merkwürdige Eigenschaften angedichtet wurden. So wird ihr in der Sagenwelt ein gewisser Hang zur Milch sowie eine Zuneigung zu Kindern nachgesagt. Gleich mehrere Sagen – nicht nur aus Vorarlberg – berichten von der Krönleinschlange, die sich ohne Scheu einem Bauernkind nähert und darauf wartet, mit Milch gefüttert zu werden. Nur das Angebot des Kindes, auch das eingebrockte Brot zu kosten, lehnt die Schlange ab. Weil es aber als glücksverheißend gilt, eine Krönleinschlange als Wächterin am Hof zu haben, wurde den Schlangen in früheren Zeiten auch immer ein Schüsselchen mit Milch bereitgestellt. Dass die Schlange dies zu schätzen wusste, zeigte sich am nächsten Morgen: Das Schüsselchen war leer! Selbstverständlich kamen weder Hauskatze noch Igel in den Verdacht, die Milch getrunken zu haben. 
Als „Krönlein“ wurden die goldgelben Flecken am Hals der Ringelnatter interpretiert. Dieses Merkmal macht die Ringelnattern unverwechselbar und kennzeichnet sie als ungefährlich. Doch bei den beiden Arten ist es unterschiedlich ausgebildet. Die Flecken zeigen sich nur bei der Nördlichen Ringelnatter arttypisch goldgelb. Bei der südlichen Barrenringelnatter hingegen sind sie undeutlicher und meist weiß gefärbt. Auch deren schwarze Begrenzung hilft bei der Unterscheidung der beiden Schlangenarten. Und dann gibt es noch die schwarzen, senkrecht länglichen Flecken seitlich am Körper der Südlichen Ringelnatter, die ihr zu ihrem zweiten Populärnamen verholfen haben. So ähnlich sich die beiden Arten auch sind, sie sind im Normalfall anhand dieser Kennzeichen gut zu trennen. Und beide sind völlig harmlos – es besteht nicht der geringste Grund, sich vor ihnen zu fürchten.

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