Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Wer so denkt, macht sich selbst zum Gegner“

April 2025

Paul Schmidt (49) Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, spricht im Interview über die Notwendigkeit Europas, sich mit Blick auf die durchaus dramatische geopolitische Situation weiter zu einen. „Um zu erkennen, was man ist“, sagt Schmidt, „bräuchte Europa dringend mehr Selbstbewusstsein.“ Ein Gespräch über lautstarke Gegner, stillschweigend konsumierte Vorteile – und ungeregelte große Fragen.

Herr Schmidt, mit Blick auf die geopolitische Situation wäre ein geeintes Europa wichtiger denn je. Diesem Argument werden Sie nicht widersprechen, oder? 
Natürlich nicht. Je größer der Druck, desto größer die Dringlichkeit. Wenn es hart auf hart kommt, möchte man nicht allein dastehen. 

Muss sich also Europa Churchills „Never let a good crisis go to waste“ zu eigen machen? Die Krise nutzen, um sich stärker zu einen?
Jede äußere Entwicklung, die den Druck auf weitere innereuropäische Integrationsschritte erhöht, nutzt dem komplexen, vielfältigen Europa, sich zu einen. Das mag absurd klingen, aber die Geschichte zeigt, dass sich die Europäische Union erst in herausfordernden Zeiten, in Krisen, wirklich weiterentwickelt hat. Vor so einer solchen Situation stehen wir jetzt wieder. 

Ist denn die Vision, was Europa sein soll, im Laufe der Jahrzehnte verloren gegangen? 
Nein, das würde ich nicht sagen. Ich glaube aber, dass die Wahrnehmung Europas sehr dynamisch ist und mit den jeweiligen Problemlagen zusammenhängt. Wir alle sind vom Alltag so eingenommen, dass wir uns schwertun, über Kurzfristiges hinauszuschauen. Aber die Vision eines fortschrittlichen, friedlichen Europas mit seiner Vielfalt an Identität, Kultur und Lebensqualität ist trotzdem stets präsent. Vielleicht in unterschiedlicher Ausprägung, in unterschiedlicher Stärke, würde ich sagen. Um zu erkennen, was man ist, bräuchte Europa aber dringend mehr Selbstbewusstsein.

Politikwissenschaftler Herfried Münkler sagte dieser Zeitung vor kurzem, „Europa, dieser überbürokratisierte Regelgeber, muss ein handlungsfähiger Akteur werden“ …
Grundsätzlich gehe ich d’accord mit dieser Aussage, dennoch ist sie eine Simplifizierung. Denn in vielen Bereichen ist dieses Europa ja handlungsfähig und stark, etwa in der Handelspolitik, in der Währungspolitik, in der Wettbewerbspolitik. Im Kampf gegen den Klimawandel ist Europa, bei allem Widerstand, Vorreiter. Daneben aber gibt es Bereiche, in denen noch viel zu tun ist. In der Außen- und Sicherheitspolitik hat Europa großen Nachholbedarf, vor allem in Bezug auf Reaktionsfähigkeit und Handlungsfähigkeit. Was nun die Bürokratie betrifft …

Ja, bitte?
Natürlich ist die Union bürokratisch. Europa ist kein Bundesstaat, Europa ist komplexer und vielfältiger als andere Länder oder Erdteile. Aber ich gebe zweierlei zu bedenken: Zum einen sitzen die Mitgliedsstaaten bei jeder einzelnen Entscheidung, die getroffen wird, mit am Tisch. Das heißt, die Mitgliedsstaaten definieren und beschließen die Regeln, die sie selbst umzusetzen haben. Und dann kritisieren sie etwas als weltfremd, was sie selbst mitbeschlossen haben? Da beißt sich die Katze in den eigenen Schwanz. Und zum anderen sollten europäische Regeln ja eigentlich nationale Regeln ersetzen. Das aber ist vielfach nicht der Fall: Nationale Regeln bleiben in Kraft, europäische Regeln kommen dazu, auch das schafft Bürokratie. 

Ein Kritikpunkt lautet: Die Union regelt das Kleine, lässt das Große aber ungeregelt. Salopp gesagt: Die EU normiert Traktorsitze. Und scheitert an der Migrationsfrage.
Es gibt diese umstrittenen Beispiele tatsächlich, bei denen man über das Ziel hinausschoss, und die auch zu Recht kritisiert werden. Meine Punkte sind andere. Zum einen ist das Kleine manchmal auch das Große, ohne dass uns das bewusst ist. Man empört sich über den europaweit einheitlich geregelten Traktorsitz und vergisst, dass etwa Verbraucherschutz keine Kleinigkeit ist, oder? Und zum anderen: Europäische Verordnungen und Richtlinien entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie werden nicht von irgendeinem Bürokraten im Brüsseler Elfenbeinturm ausgedacht. Nicht selten werden Probleme von nationalen Regierungen an die EU-Kommission herangetragen, und dann, falls man sich auf Lösungen einigt, auch von den Mitgliedstaaten beschlossen. Und genau deswegen ist es ja so schwierig, etwa auf große Fragen wie Asyl- und Migration funktionierende europäische Antworten zu finden. Da hat man innereuropäisch in Ost und West, aber auch im Süden, vollkommen unterschiedliche Betroffenheiten, von Drittstaaten einmal ganz abgesehen. Darüber hinaus existiert auch das durchaus selbstverursachte Problem des übertriebenen Erwartungsmanagements: Politiker, die regelmäßig verkünden, dass die Sache nun endlich gelöst werde, bauen eine Erwartungshaltung auf, die letztlich verschleißt und in negativer Wahrnehmung mündet.

Apropos. In den EU-Institutionen arbeiten laut Agenda Austria mehr als 60.000 Menschen, die pro Jahr mehr als 2000 Rechtsakte beschließen. In Brüssel brodle eine bürokratische Giftküche. Was antworten Sie?
Den Ausdruck „Giftküche“ finde ich despektierlich. Außerdem rechnet die Agenda Austria sämtliche EU-Agenturen mit ein, das verfälscht das Bild. Aber selbst dann schreckt mich diese Zahl nicht. Stellen Sie diese 60.000 ins Verhältnis zu den fast 450 Millionen Europäern und Europäerinnen in der EU! Es ist eine Frage der Relation. Soll ich erwähnen, dass – obwohl die Zuständigkeiten natürlich andere sind – beispielsweise allein die Stadt Wien mehr Beamte und Mitarbeiter hat als die gesamte Europäische Union?

Ja bitte, erwähnen Sie das!
(lacht) Als Vorarlberger dürfte Sie das freuen, oder? Immer diese Wiener …

Sie sagten zuvor, Europa brauche mehr Selbstbewusstsein, wie ist das zu verstehen?
Wir sind sehr kritisch mit uns selbst, und merken gar nicht, dass andere vielleicht auch nicht die Besten sind. Es ist ja nicht so, als ob in den USA alles perfekt funktioniert. Ihr über 200 Jahre altes Wahlsystem kann demokratiepolitisch durchaus problematisch sein. Die Steuerniveaus der einzelnen US-Bundesstaaten sind höchst unterschiedlich, zwölf US-Bundesstaaten klagen mittlerweile gegen Trumps Zollpolitik, es gibt viele weitere Beispiele. Ich würde mir also wirklich wünschen, dass wir uns mehr unserer eigenen Stärken besinnen, als dass wir übermäßig stark darauf fokussieren, was nicht funktioniert. Da fehlt uns Europäern etwas die Balance. Wir sind oft besser als wir selbst meinen.

Die Union hat unbestritten große Vorteile gebracht. Die werden allerdings stillschweigend konsumiert. Während die Nachteile lauthals angeprangert werden …
Österreich hat von der Mitgliedschaft wesentlich stärker profitiert als andere und würde von einer weiteren Vertiefung im Energiebereich, im Verkehrsbereich oder auch von einer Kapitalmarktunion wiederum stärkeren Nutzen ziehen. Die Union ist aber mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie hat Vorteile gebracht, die von vielen heute entweder nicht mehr gesehen oder als Selbstverständlichkeit wahrgenommen werden. Oft ist den Menschen auch gar nicht bewusst, dass vieles von dem, was den Alltag leichter macht, der Union zu verdanken ist.

Beispiele?
Die einheitliche Währung. Die abgeschafften Roaminggebühren. Die Reisefreiheit. Die Tatsache, dass wir in jedem Mitgliedstaat leben, arbeiten, lernen, zum Arzt gehen können. Die Lebensmittelsicherheit. Der Verbraucherschutz. Etwa, dass Flugpassagiere bei Verspätungen entschädigt werden. All das funktioniert, weil es europäisch geregelt ist. Das sind nur einige Beispiele von Vorteilen, die uns die europäische Bürokratie – jawohl, die Bürokratie! – gebracht hat. Natürlich gibt es auch Nachteile. Aber gemessen an den Vorteilen werden die Nachteile überproportional propagiert, von Politik und von Medien. Österreich reibt sich an der EU, wie sich Vorarlberg mitunter an Wien reibt …

In der Bevölkerung, zumindest in Teilen davon, ist die EU-Skepsis groß …
In den 30 Jahren, in denen Österreich mittlerweile Unionsmitglied ist, war eines besonders gut wahrzunehmen: Dass die Kritiker stets wesentlich lauter waren als die Befürworter. Die große, stille Mehrheit, die die Mitgliedschaft trägt und unterstützt, ist für mein Dafürhalten zu passiv. Sie artikuliert sich nicht, sie deklariert sich nicht, und überlässt das Feld damit den Kritikern, die übermäßig laut sind und damit auch stärker auf die Öffentlichkeit wirken. Mit der Konsequenz, dass von den politischen Rändern ausgehend dieses erklärte Feindbild Brüssel weiterwächst. Österreich zur Festung ausbauen, Grenzen schließen? Als ob man auf einer Insel der Seligen leben würde, als ob internationale Entwicklungen an künstlich gezogenen Grenzen halt machen würden! 
Wobei der Oberfestungsbauer in den letztlich gescheiterten Koalitionsverhandlungen gefordert hat, dass öffentliche Gebäude nicht mehr mit der EU-Fahne beflaggt werden …
Ich war gerade in Rom, da sieht man überall EU-Fahnen, das finde ich schön. Die EU-Fahne ist zwar nur ein Symbol. Aber ein sehr wichtiges. Der Bundespräsident sagt zurecht, er könne Tiroler sein, er könne Österreicher sein, und gleichzeitig auch Europäer. Das ist kein Widerspruch. Identitäten können problemlos nebeneinander existieren. Und diese Fahne ist ein Symbol für diese multiple Identität. Wer sie bewusst abnehmen will, sendet ein Signal in Trumpscher Manier aus: Österreich zuerst! Die Europäische Union ist der große Gegner! Obwohl wir ja diese Europäische Union sind. Wer so denkt, macht sich selbst zum Gegner. Würden alle so denken, wären wir nicht mehr in der Lage, Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit geben zu können …

In Europa wird immer wieder kritisch diskutiert, ob man europäische Werte benennen kann, ob es solche übergeordneten Werte überhaupt gibt. Würden Sie sagen, dass – umgekehrt – die Feinde Europas ganz genau wissen, was Europas Werte sind?
(längere Pause) Wahrscheinlich ja. (erneute Pause) Weil sie ja deswegen das gemeinsame Europa als ihr Feindbild definieren. Und ein Feindbild kann nur funktionieren, wenn es sich auch darstellen lässt. Europa steht für Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit, Minderheitenschutz, Rechtsstaatlichkeit, Transparenz, Solidarität. Und je klarer sich die Europäer mit diesen Werten in der Welt positionieren, desto leichter fällt es den Gegnern, Europa als Feindbild zu bezeichnen. Wir stehen am Beginn einer neuen Zeit. Die Welt ordnet sich neu. Und ich möchte nochmals sagen, dass wir Europäer mehr Optimismus, mehr Zuversicht und Selbstbewusstsein brauchen. Wir sind besser als wir glauben. Wenn wir das erkennen, können wir hoffnungsfroh in die Zukunft schauen. Und was Österreich betrifft …

Ja, bitte?
Wir sind mit Finnland und Schweden der EU beigetreten und haben im Vergleich überproportional stark von der Mitgliedschaft profitiert. Trotzdem ist die Stimmung bei uns negativer als in Finnland oder Schweden. Bei uns ist zwar das nationale Lager wesentlich größer, aber es bleibt in Summe ein Integrationsrätsel, das es eigentlich schon längst aufzuklären gilt. Wie kann das sein?

Weil es in Österreich, dem Land der Raunzer, immer leichter ist, gegen etwas zu sein als für etwas? 
Auch das. Vielleicht ist es wirklich eine kulturelle Eigenheit. Wir raunzen gerne, wir kritisieren gerne. Zunächst sind wir aus Prinzip dagegen. Bis wir dann doch dafür sind (lacht). Und warum? Weil wir am Schluss froh sind, nicht alleine zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch! 

Zur Person

Paul Schmidt, * 1975, ist seit 2009 Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE). Davor war er für die Oesterreichische Nationalbank in Wien und als Stellvertretender Leiter der Repräsentanz in Brüssel tätig. Schmidt studierte Internationale Beziehungen, Politikwissenschaften und Publizistik an Universitäten in Österreich, Spanien und den USA und ist Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien.

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