Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Das Wissen der Hände - Handwerk in Vorarlberg

Februar 2019

Handwerk ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in der Region. In Vorarlberg handwerklich Gefertigtes ist begehrt, weit über die Landes­grenzen hinaus. Das Maßgefertigte und dessen hohe Qualität werden geschätzt. Woher aber kommt dieses Qualitätsbewusstsein? Und welche Rolle spielt dabei das „Wissen der Hände“? Handwerker, Spartenvertreter und Architekten geben Auskunft.

Gewerbe und Handwerk sind im Land äußerst vielschichtig, in der Sparte sind 28 Fachgruppen organisiert, die einzelnen Branchen und Berufsgruppen umfassen rund 110 verschiedene Lehrberufe – vom Glaser bis zum Tischler, vom Metalltechniker zum Orgelbauer, vom Kunststofftechniker bis zum Steinmetz, nur um Beispiele zu erwähnen. Doch beginnen wir mit einem Zitat? Der Architekt und Publizist Robert Fabach schreibt: „Das Handwerk bildet eines der Fundamente der Vorarlberger Baukultur. In einer über Jahrzehnte aufgebauten Kultur der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Verständnisses haben sich Detailqualität und eine handwerksgerechte Planung zu einem wesentlichen Kriterium für viele gelungene Architekturbeispiele entwickelt. Die bewusste Auswahl der konstruktiven und sichtbaren Materialien ist sogar Grundlage für eine eigene Architektursprache und Ästhetik geworden … Aber auch in der Verarbeitung von Sichtbeton, Stahl und Glas oder bei vielen Innenoberflächen mit minimalistischen Details zeigt sich der Anspruch an die handwerkliche Perfektion.“ Entnommen ist dieses Zitat der Homepage des Vorarlberg Tourismus. 

Über die Grenzen

Apropos. Im März reist eine Delegation aus Luxemburg und Belgien ins Land, es sind Architekten, Unternehmer, Projektentwickler und Holzbau-Experten, die heimische Holzbauten und Holzbauunternehmen besichtigen und studieren wollen. Auch eine Delegation aus Dänemark hat sich angekündigt, mit demselben Interesse – in Vorarlberg Innovatives und Nachhaltiges zu erkunden. „Die handwerklichen Fähigkeiten der Vorarlberger Betriebe sind ein Exportschlager“, sagt Bernhard Feigl. Dem Spartenobmann zufolge haben das heimische Gewerbe und Handwerk bundesweit den höchsten Exportanteil, Vorarlberger Betriebe folglich auch Kunden in der ganzen Welt: „Konsumenten schätzen die Handwerksqualität, sie sind bereit, diese Qualität zu bezahlen.“ Martin Bereuter, Obmann des Werkraums Bregenzerwald, Tischler und Architekt, fügt da an: „Das Qualitätsbewusstsein ist hoch, die Sachen werden maßgeschneidert, das wird von Planern, von Bauherren, von Kunden gleichermaßen geschätzt.“ Und was macht die Vorarlberger Handwerkskunst aus? Verena Konrad, Direktorin des Vorarlberger Architekturinstituts, sagt: „Sie ist feinsinnig, leise, ganz bei den Dingen, ernsthaft, aber nicht langweilig. Sie hat viele Zwischentöne und ist dadurch sehr poetisch.“ Besonders aber werde die Handwerkskunst erst durch den Rezipienten: „Durch Menschen, die das erkennen können. Es braucht für Alltagskultur immer auch den Alltag. Menschen, die etwas benützen. Handwerk genügt sich nicht selbst. Es ist eine Praxis, verbunden mit verschiedenen Lebenshaltungen.“ Und in diesem Verständnis, erklärt Konrad, seien die Machart der Dinge und die Rahmenbedingungen für diese Arbeit genauso wichtig wie die Ergebnisse dieser Arbeit als Produkte und Dienstleistungen. 

Auch historisch begründet

Woher aber kommt dieses Qualitätsbewusstsein? Bereuter nennt im Interview (Seite 11) mehrere Gründe: die übersichtlichen Strukturen im Land oder die Tatsache, dass das Handwerk bei uns einen hohen Stellenwert hatte und hat, während in anderen Regionen Österreichs und Europas die Industrie relevante Bereiche übernommen habe. Das Qualitätsbewusstsein aber hat laut Bereuter auch historische Ursachen: „Es gab in Vorarlberg kein klassisches Bürgertum in diesem Sinne, dafür aber eine hohe Dichte kleiner und landwirtschaftlicher Betriebe, die auch im Nebenerwerb handwerklich tätig waren.“ Die Menschen gaben ihr Wissen von Generation zu Generation weiter, dieses besondere Wissen – das Wissen der Hände. 

Ein ständiger Dialog

Feigl sagt, dass dieser Ausdruck die Eigenart, wie Handwerk funktioniere, bestens beschreibe: „Zuschauen, Nachmachen, Wiederholen, Verbessern, das macht Handwerk aus.“ Die Theorie dazu liefert Richard Sennett, ein US-Soziologe, der in seinem Buch „Handwerk“ zu ergründen suchte, was denn den Handwerker eigentlich ausmache. Sennett schreibt: „Bei jedem guten Handwerker stehen praktisches Handeln und Denken in einem ständigen Dialog. Durch diesen Dialog entwickeln sich dauerhafte Gewohnheiten, und diese Gewohnheiten führen zu einem ständigen Wechsel zwischen dem Lösen und dem Finden von Problemen.“ Jegliches handwerkliche Können basiere auf hoch entwickelten Fähigkeiten und Fertigkeiten. Nach einem oft verwendeten Maßstab seien gut zehntausend Stunden Erfahrung nötig, wenn jemand Schreinermeister oder ein guter Musiker werden will, heißt es in Sennetts Buch: „In ihrer höheren Ausprägung ist Technik keine mechanische Tätigkeit mehr. Die Menschen vermögen ihre Tätigkeit intensiv zu empfinden und tief zu durchdenken, wenn sie ihre Arbeit gut machen.“ Gutes Handwerk, das sagte der Soziologe später einmal, sei nicht nur mit manueller Arbeit verbunden: „Es ist ein Dialog zwischen Praxis und Nachdenken.“ 

„Die Liaison von Hand und Hirn hat in allen Bereichen menschlicher Kultur ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen.“ Marco Wehr, Physiker und Philosoph

Hand und Hirn

Aber welche Rolle spielt dabei das Wissen der Hände? Marco Wehr, ein deutscher Physiker und Philosoph, hat sich mit dieser Frage beschäftigt. Wehr schreibt in seiner Publikation „Die Hand – Werkzeug des Geistes“: „Je tiefer wir in die Geheimnisse der Hand eintauchen, desto mehr Respekt entwickeln wir vor der Präzision und der Feinheit der Bewegungen, die sie uns ermöglicht. Die Hand entpuppt sich als anatomisches Wunderwerk, welches in verwobenen Rückkopplungsschleifen vom Gehirn gesteuert wird.“ Und an anderer Stelle hält der Autor fest: „Die Liaison von Hand und Hirn stellt nicht nur eine anatomische Besonderheit dar. Sie hat in allen Bereichen menschlicher Kultur ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen.“ Als da wären? „Die Mathematik, die Philosophie, die Sprache, die verschiedensten Künste – und natürlich das Handwerk.“ Historiker*, die das Handwerk von den Anfängen bis zur Gegenwart untersuchen, sagen auch: „Im Handwerk entwickelte sich ein Ausbildungsprinzip, das zu einem gemeineuropäischen Erbe wurde: die sorgsam begleitete Befähigung, die eigenen Hände wissend zu gebrauchen.“ Das Wissen der Hände, das sagt wiederum Konrad, habe „etwas Bodenständiges und dennoch Freigeistiges. Es ist intellektuell – Wissen- und sinnlich – Hände- zugleich.“ Und: Man könne darüber sprechen, müsse das aber nicht. Pragmatisch formuliert: „Auf einem Stuhl soll man in erster Linie gut sitzen können.“ 

Ein bedeutender Faktor

Vorarlberger Handwerk ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in der Region, ein Faktor mit hoher volkswirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung. In Vorarlberg sind in 2785 Handwerks- und Gewerbetrieben rund 31.000 Menschen beschäftigt, bei den Lehrlingen ist Handwerk und Gewerbe der anteilsmäßig größte Arbeitgeber und Ausbilder: 7140 Lehrlinge wurden im Vorjahr im Land gesamthaft ausgebildet, 46 Prozent (!) davon im Handwerk und Gewerbe. 
Auch österreichweit sind Handwerk und Gewerbe der größte Lehrlingsausbilder, mit 52.000 Jugendlichen. Aktuellen, im Jänner 2019 präsentierten Zahlen zufolge, entwickeln sich die österreichischen Gewerbe- und Handwerksbetriebe solide. Nominell wuchs der Sektor im Vorjahr (1. bis 3. Quartal) um 1,1 Prozent. Hochgerechnet auf das Gesamtjahr gab es 2018 einen Umsatz von 93 Milliarden Euro. Jeder fünfte Euro des Bruttoinlandsprodukts wird durch Handwerk und Gewerbe erwirtschaftet. 

Ausbildung

Zurück aber zur Ausbildung. Denn die sei in Vorarlberg einzigartig, laut Feigl gar „weltweit kaum zu überbieten“. Vorarlberger Junghandwerker haben dem Spartenobmann zufolge „in fünf Jahren 45 Bundessiege bei Lehrlingswettbewerben errungen. Dieses Ergebnis ist um 60 Prozent besser als das des zweitplatzierten Bundeslandes Tirol“. Der Erfolg gehe quer durch alle Berufsgruppen, sei auch in der langfristigen Betrachtung sehr konstant. Und doch ist es ein steter Kampf um den Nachwuchs, ein steter Kampf um den Lehrling. Spartengeschäftsführer Armin Immler sagt: „Es gehen uns die Hände aus, nicht die Köpfe! Es ist schon jetzt so, dass man einen Termin beim Rechtsanwalt sehr rasch bekommt, aber auf den Elektriker oder den Installateur muss man schon länger warten – das wird sich in Zukunft noch verschärfen. Das soll kein Gejammer sein, sondern mehr denn je gilt: Handwerk hat Zukunft und goldenen Boden!“ 

„Immaterielles Kapital“

Davon ist auch Feigl überzeugt. Wer im Handwerk und Gewerbe eine gute Ausbildung absolviert habe und „danach freigesprochen wurde“, habe die Fähigkeit erworben, „sich kompromisslos ernsthaft, geistig und emotional auf eine Tätigkeit und meist auch auf ein Material einzulassen“. Dieses selbst erworbene, immaterielle Kapital sei, auf den Leib geschrieben, beste Basis für jede weitere Entwicklung und damit auch ein gutes Fundament für ein erfolgreiches Leben.“ Feigls Nachsatz: „Ausgebildete Handwerker sind auch in der Industrie sehr gefragt, umgekehrt ist das nicht der Fall – weil überspitzt formuliert, Lehrlinge in der Industrie die Ausbildung für eine Firma und nicht für einen Beruf machen.“ Sennett soll da nochmals zitiert sein: „Ausdrücke wie ‚handwerkliche Fertigkeiten‘ oder ‚handwerkliche Orientierung“‘ lassen vielleicht an eine Lebensweise denken, die mit der Entstehung der Industriegesellschaft verschwunden ist. Doch das wäre falsch. Sie verweisen auf ein dauerhaftes menschliches Grundbestreben: den Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen.“ 

Das Bundeskanzleramt hatte 2016 eine Studie zum traditionellen Handwerk in Österreich publiziert. Dort heißt es: „Handwerk, das sich nicht mehr entwickelt, stirbt aus und behält bestenfalls musealen Charakter. Traditionelles Handwerk ist lebendiges Handwerk, wenn das aktive Tradieren die Dynamik der Veränderungen miteinschließt.“ In diesem Sinne ist Handwerk Tradition. Und Zukunft.

* Weiterlesen! Richard Sennett, „Handwerk“, Berlin Verlag 2008; Marco Wehr, Martin Weihmann (Hrsg.) „Die Hand – Werkzeug des Geistes“, Spektrum Heidelberg, 2005/2009; Elkar, Keller, Schneider*, „Handwerk“, Theiss.

Volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung

Gewerbe und Handwerk

… größter Arbeitgeber Österreichs: Jeder dritte Arbeitgeber österreichweit stammt aus dem Gewerbe und Handwerk. Insgesamt beschäftigen die Gewerbe- und Handwerksbetriebe rund 729.591 Menschen.

… größter Lehrlingsausbilder Österreichs: 44.909 Jugendliche erlernen einen Beruf im Gewerbe und Handwerk.

… Wohlstand: Jeder fünfte Euro des Brutto­inlandprodukts wird durch das Gewerbe und Handwerk erwirtschaftet.

… Umsatz, hochgerechnet auf 2018: 93 Milliarden Euro – die jährlichen Investitionen belaufen sich auf 3,7 Milliarden.

… Neugründungen: 20.000 Unternehmer pro Jahr sehen ihre Zukunft im Handwerk und Gewerbe, das sind 57 Prozent aller Gründer.

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