Herbert Motter

Die Krise als Innovationsbeschleuniger

Juli 2020

Innovationen entstehen oft aus der Notwendigkeit heraus, in Zeiten düsterer Perspektiven kann vermehrt Neues entstehen. Corona hat es unlängst mit sich gebracht: Es ist ein unternehmerischer Überlebens­reflex, in Krisenzeiten neue Wege zu gehen.
Dabei machen sich Innovationen auf lange Sicht bezahlt, wie eine Kurzstudie in Vorarlberg belegt.

Salvador Dalí gilt als der bedeutendste Künstler des Surrealismus, bekannt geworden durch seinen dekadenten Lebensstil, seinen Schnurrbart, seine provokativen Attitüden und seine bizarren, surrealistischen Bilder. Brennende Giraffen oder Uhren, die schmelzen, sind beliebte Motive in Dalis Bildern. Er ließ sich inspirieren von Sigmund Freud. Andererseits sieht der Betrachter in Dalis Gemälden die Bewunderung für den großen italienischen Renaissance-Maler. Und für noch etwas steht Dalí. Aber das ist weit weniger bekannt: Er ist Namensgeber eines speziellen Zusammenhanges in der Wirtschaft, besonders in forschungsintensiven Branchen, dem „Salvador-Dali-Effekt“. Eine kleine Geschichte, wie das kam:
Dalí war nicht der einzige Salvador in seiner Familie. Auch sein älterer Bruder trug diesen Vornamen. Neun Monate vor der Geburt des Künstlers starb der Bruder. Zum Andenken an diesen erhielt der nachgeborene Sohn ebenfalls den Namen Salvador. Zeitlebens wird sich Dalí immer nur als Kopie des Erstgeborenen fühlen. Das hatte Einfluss auf sein Wirken. Er begann zunächst mit Kopien der berühmten expressionistischen Maler. Erst später entwickelte er seinen eigenen surrealen Stil. Aber auch diese Bilder kopierte er immer wieder und war ganz versessen darauf, die Bilder immer noch besser zu malen. War also seine Kopie stets besser als das Original?
Journalist und Kolumnist Wolf Lotter nennt als wichtigste Kriterien für Innovation ein barrierefreies Denken, das Zulassen von Vielfalt und Differenz, Systemzerstörung und Selbstverwirklichung. Doch ist es immer die völlige Neuerfindung, die Innovationen hervorruft? Für Unternehmensberater Herbert Loos, der den „Salvador-Dali-Effekt“ immer wieder in seinen Vorträgen thematisiert, muss es nicht immer die radikal neue Lösung sein, um von erfolgreichen Innovationen zu sprechen. „Natürlich wäre es schön, wenn das Unternehmen einzigartige Produktinnovationen besitzt. Es ist aber aus meiner Sicht nicht immer entscheidend, der Erste, der Beste oder das Original zu sein. Manchmal ist die Kopie besser als das Original.“

Inkrementell versus radikal

Die sogenannte „inkrementelle Innovation“ steht für eine schrittweise Weiterentwicklung oder Verbesserung eines bestehenden Produkts. Dagegen bedeuten „radikale Innovationen“ einen revolutionären Entwicklungssprung, sie verändern einen Markt von Grund auf. Inkrementelle Innovationen, die hierzulande rund 95 bis 99 Prozent aller Innovationen ausmachen, unterscheiden sich in vielfacher Weise von radikalen Innovationen. Radikale Innovationen setzen Trends, begründen einen komplett neuen Markt oder verändern einen Markt nachhaltig und verwandeln das Wettbewerbsgefüge von Unternehmen und Regionen fundamental – aber sie sind auch deutlich riskanter.
In den vergangenen Jahren rücken radikale Innovationen stärken in den Fokus der Politik. Dies mag mit den Erfahrungen der Wirtschaftskrise zusammenhängen und Ausdruck eines zunehmenden globalen Wettbewerbs sein. Auch in Österreich wird, etwa in der „Vision 2020“ des Rats für Forschung und Technologieentwicklung oder der FTI-Strategie der Bundesregierung, eine stärkere Orientierung des Innovationssystems auf die Entwicklung radikaler Innovationen gefordert, um die Wettbewerbskraft des Standortes Österreich nachhaltig zu sichern. 
Ein wesentlicher Treiber für radikal innovative Geschäftsmodelle sind disruptive Technologien. Gemeint sind technologische Entwicklungen, die eine fundamentale Zäsur darstellen und bestehende Technologien langfristig ablösen. Beispiele dafür sind etwa der Verbrennungsmotor, Computer, Halbleiter, Digitalfotografie, Internet, Mobiltelefone oder MP3-Player. Disruptive Technologien sind Chance und Herausforderung zugleich: Einerseits bieten sie die Möglichkeit, vielfältige neue Geschäftsmodelle zu entwickeln – so wurden Apps als Geschäftsmodell erst durch die große Verbreitung des Smartphones relevant. Andererseits verdrängen sie bestehende Technologien und fordern die Anpassung von Unternehmen, Konsumenten und Politik.
Potenzielle disruptive Technologien, die in den kommenden Jahren einen starken Auftrieb erfahren könnten, sind etwa die so genannten Schlüsseltechnologien (Nanotechnologie, Mikro-und Nanoelektronik, Photonik, Werkstoffe, Biotechnologie, Produktionstechnologien). Andere Trendstudien sehen etwa Mobiles Internet, Cloud Computing, 3D-Druck oder Energiespeicherung als mögliche disruptive Technologien der Zukunft an.

Corona und Innovationen

Innovation ist zum zentralen Element vieler Unternehmen geworden, denn sie ermöglicht die Abgrenzung vom Mitbewerber, die Erschließung neuer Märkte oder die Ansprache neuer Kundengruppen. In Zeiten von Stabilität und Gleichgewicht sind Innovationsprozesse mitunter eher gemächlich. Plötzliche Krisen dagegen können den Wandel beschleunigen. Die Coronavirus-Pandemie ist eine solche Krise, die neuen Ideen und Innovationen Schubkraft gibt und die Hürden für ihre Umsetzung in schwerfälligen, an stabile „Business-as-Usual“-Szenarien gewohnten Branchen senkt.
Die Corona-Pandemie hat zu den ungewöhnlichsten Entwicklungsschritten geführt. Neue Kooperationen wurden geschlossen und die Fertigung kurzfristig auf andere Produkte umgestellt. Staubsaugerproduzenten haben ihr technisches Know-how für die Herstellung von Beatmungsgeräten zur Verfügung gestellt. Zulieferer von Autobauern boten an, ihre Fabrikanlagen für die Produktion von medizinischen Schnelltests zu nutzen, obschon diese Umnutzung mit einem Aufwand verbunden war. Ob Fitnessanbieter oder Möbelhersteller – sie alle digitalisierten ihre Angebote und machten sie so einer Kundschaft im Lockdown zugänglich. Wer bis jetzt nur halbherzig online präsent war, hat schleunigst einen professionellen Auftritt auf die Beine gestellt. 
Wie sehr das Thema Digitalisierung in der Krise an Bedeutung gewonnen hat, weiß auch Alexander Berzler, Gründer und Geschäftsführer der vision works GmbH. „Das Interesse etwa an Videokonferenzsystemen hat massiv zugenommen. Auch für Webshop-Systeme und Online-Marketing-Instrumente ist die Nachfrage in den Monaten der Corona-Krise enorm gestiegen.“ Dennoch gebe es Bereiche, wie etwa die Medientechnik oder LED-Technik, in denen Vorarlberg anderen Standorten gegenüber zurückstehe.
Mit der Corona-Krise kam die Schutzmaske, und so wie es aussieht, wird sie noch länger bleiben. Wo Nachfrage ist, entsteht in einer funktionierenden Volkswirtschaft auch das passende Angebot durch findige Unternehmer. Damit liefert auch Vorarlberg ein Beispiel für kreative Neuorientierung, wenn auch nur temporär. Auf Initiative des Unternehmers Günter Grabher haben sich Vorarlberger Textilunternehmen zusammengeschlossen und seit Anfang April hochqualitative Schutzmasken produziert.

Innovation: „Die Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindung.“

Not macht erfinderisch

Für Jiri Scherer, Schweizer Autor und Co-Gründer von „Denkmotor“, liegt es in schwierigen Zeiten in der menschlichen Natur, sein Hab und Gut aus purer Angst vor Verlust zu schützen. „Not kann aber auch erfinderisch machen, was schließlich auch eine urmenschliche Tugend ist. Tönt zwar logisch, braucht aber Disziplin in Rezessionszeiten auf die Marktbedürfnisse zu hören – und nicht auf die Stimme der eigenen Angst – oder die der Mitbewerber. Es braucht Mut zur Innovation.“ Mit kreativen Ideen für neue Produkte oder Dienstleistungen seien schon manche Unternehmer erfolgreich durch Krisenzeiten gekommen. „Es sind Unternehmer, die sich ehrlich gefragt haben, ob sie nun Angst vor der Rezession oder der Innovation haben. Damit konnten sie die Krise als Chance erkennen“, sagt Scherer.
Für IHS-Chef Martin Kocher besteht eine Chance für Unternehmen darin, sich auf Innovation und Zukunftsbranchen zu konzentrieren. KMU haben die Möglichkeit, in Sachen Digitalisierung aufzuholen und neue Geschäftsmodelle auszuprobieren. „Viele haben zum Beispiel kurzfristig Webshops aufgebaut. Hier gilt es, weiter am Ball zu bleiben. Und ein guter Ansatz ist sicher, die Betriebe durch Forschungs- und Innovationsförderungen in ihrem Bestreben zu unterstützen. Wichtig für die Unternehmen ist es, den richtigen Zeitpunkt für Investitionen und Innovationen zu finden, nicht, dass die Energie ungenutzt verpufft.“
Im Institut für Höhere Studien wird seit einigen Jahren auf verschiedenen Ebenen ein leichtes Zurückdrehen der Globalisierung beobachtet. Dabei geht es etwa darum, dass die Produktion von vielen Produkten aufgrund der Digitalisierung auch wieder in Ländern mit hohen Lohnstückkosten attraktiv ist. Man spricht von sogenannten Re-Shoring-Aktivitäten der Unternehmen in Europa, also dem Zurückholen von Produktionsstandorten meist aus Asien. Zudem gebe es aus Klimaschutz-Aspekten eine steigende Tendenz von Menschen, lokaler bzw. regionaler zu konsumieren. Kocher: „Die Krise wird hier den bestehenden Strukturwandel sicher weiter verstärken.“

Gradmesser Patente

„In der gegenwärtigen Krise haben Firmen keine andere Wahl, als sich diesen Gegebenheiten dann auch anzupassen: Wenn die wirtschaftlichen Perspektiven am dunkelsten sind, entsteht vermehrt Neues. Daraus ergibt sich kurz nach Krisenausbruch eine gesteigerte Anzahl Patentneuanmeldungen, die gängige Messung von Innovationskraft“, betont wiederum Céline Neuenschwander von der Avenir Suisse.
Zirka 2700 Patente werden jährlich österreichweit angemeldet. Rund 250 Patente davon stammen aus Vorarlberg. Die meisten Patente liefern die Firmen Julius Blum, Zumtobel Lighting und Tridonic, das eben vom trend-Magazin und dem ÖSGV, der Gesellschaft für Verbraucherstudien, auf Platz fünf der innovativsten Unternehmen Österreich gewählt wurde. Der Weltmarktführer im Bereich intelligenter Lichtlösungen startete 1956 mit der Entwicklung kompakter magnetischer Vorschaltgeräte für Leuchtstofflampen. 2001 folgten LED-Module, 2014 die erste Lösung für vernetzte, professionelle Beleuchtungen und 2017 eine Plattform für IoT-Lösungen. Vorarlberg ist die siebt innovativste Region weltweit. Laut OECD liegt unser Land nur wenig hinter Regionen wie Massachussetts und Japan. „Werden Patentanmeldungen als Indikator für Innovationen gesehen, gehört das Bundesland damit in diesem Bereich zur Weltklasse. Zumtobel, Tridonic und Blum zählen zu den zehn innovativsten Unternehmen von ganz Österreich. Aber auch Hirschmann, Henn, Grass, Omicron, AMI, Servus Intralogistics, Getzner Werkstoffe sind in diesem Bereich Vorreiter und investieren bis zu 20 Prozent ihres Umsatzes in Forschung“, betont WISTO-Geschäftsführer Joachim Heinzl.
Laut den aktuellsten Daten der Statistik Austria für das Jahr 2017 (veröffentlicht im Sommer 2019) wurden in Vorarlberg in Summe 314,7 Millionen Euro investiert, um 29 Prozent mehr als 2013. In Relation zur (ebenfalls gestiegenen) Bevölkerungszahl haben die Ausgaben pro Kopf und Jahr für Forschung und Entwicklung (F&E) in Vorarlberg in diesem Zeitraum von 652,2 auf 806,3 Euro zugenommen, also um knapp 24 Prozent.  Vom Bund konnten nur in geringem Umfang F&E-Finanzierungen generiert werden, denn diese fließen hauptsächlich in die Universitätsstandorte. Den Anteil für Vorarlberg zu steigern, ist bislang nicht gelungen.
Das aktuelle European Innovation Scoreboard 2020 zeigt, dass Europa immer innovativer wird und im zweiten Jahr die Innovationsleistung der Vereinigten Staaten übertrifft. Schweden bleibt Europas Innovation Leader. Österreich zählt zur zweiten Gruppe der starken Innovatoren und schneidet besonders gut bei öffentlich-privaten Kooperationen bzw. Kooperationen zwischen innovativen KMU ab. Verbesserungsbedarf sieht das Scoreboard beim innovationsfreundlichen Umfeld. Laut der Community Innovation Survey/CIS der Statistik Austria, die eben erst vorgelegt wurde, ist die Zahl der innovationsaktiven Unternehmen in Österreich mit 63 Prozent stabil geblieben. Damit liegt Österreich über dem vorliegenden EU-Durchschnitt 2014 bis 2016 von 50 Prozent. Als größtes Hemmnis ortet CIS die Verfügbarkeit von qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Die Innovationsstrategie der Wirtschaftskammer Österreich hat zum Ziel, Österreich als Hot Spot für die Spitzenforschung zu etablieren und die internationale Sichtbarkeit als Innovationsstandort massiv zu erhöhen. „Innovationen sind kein Zufallsprodukt. Deshalb braucht es gezielte Investitionen in Bildung, die Förderung von Talenten und gute Rahmenbedingungen für neue Ideen“, meint Mariana Kühnelt, stellvertretende Generalsekretärin in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).

Kurzstudie Innovationspreissieger

Seit über 30 Jahren werden die Innovationsleistungen Vorarlberger Unternehmen mit dem Innovationspreis der Wirtschaftskammer und des Landes ausgezeichnet. Unternehmensberater Herbert Loos nahm die Preisträger der Vergangenheit etwas genauer unter die Lupe und stellte sich die Frage nach dem wirtschaftlichen Erfolg der gekürten Innovationen. Mit einem durchaus überraschenden Ergebnis, wie er meint. „Bei über 70 Prozent dieser Unternehmungen war das preisgekrönte Produkt auch am Markt erfolgreich. Nur 14 Prozent aller befragten Unternehmen gaben an, dass das prämierte Produkt mäßig oder gar nicht erfolgreich war“, erklärt Studienautor Loos. Rund 80 Prozent der prämierten Produkte beziehungsweise deren Derivate seien weiter am Markt vorhanden. Tendenziell zeige sich, dass es inkrementell Innovationen (evolutionäre Weiterentwicklung) waren.
Für Loos sind Innovation und Tradition die Quelle von Wachstum und Leben. Loos sieht im Baum die ideale Erklärung: „Die Wurzel und der Stamm sichert die Stabilität, gemeint ist die Tradition. Die Blätter und Früchte stehen für Wandel, Veränderung und damit für Innovation. Und beides braucht es – im Leben und in der Unternehmung.
Krisen können Innovationen beschleunigen und ein innovationsfreundlicheres Umfeld begünstigen. Manchmal genügt es den Betrachtungsstandpunkt zu wechseln, um etwas zu sehen, was vorher unsichtbar war, um sich und das eigene Business noch einmal neu zu erfinden.

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