„Ein anderes Menschenbild“
Verhaltensökonom Gerhard Fehr (48), Referent bei den „Landgesprächen Hittisau“, sagt im Interview mit „Thema Vorarlberg“ vorab, warum Verkehrspolitik in aller Regel auf falschen Annahmen basiert: „Die Politik muss sich eingehend mit der Frage beschäftigen, wie der Mensch in der Mobilität wirklich funktioniert.“
Laut der klassischen Ökonomie ist die Wahl unserer Verkehrsmittel hauptsächlich von den Faktoren Zeit und Geld abhängig. Sie widersprechen dem. Warum?
Es haben weitaus mehr Faktoren Einfluss auf das Mobilitätsverhalten der Menschen, etwa die Verfügbarkeit und die Verlässlichkeit des öffentlichen Verkehrs, auch die Frage, wie angenehm öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen sind. Diesem Umstand müssen wir in einem Land wie Vorarlberg Rechnung tragen, für den Bürger und für die Wirtschaft. Man darf nicht länger von Standardannahmen ausgehen. Nehmen wir einmal an, man möchte eine neue ‚Wälderbahn‘ bauen, die tatsächlich Verkehr von der Straße nimmt und nicht nur eine Fremdenverkehrsattraktion sein soll …
Was wäre dann?
Dann wird man wesentlich mehr Faktoren berücksichtigen müssen als nur Zeit und Geld. Ansonsten werden die Menschen in ihren Autos neben der neuen Bahn ins Tal fahren. Es reicht nicht, einfach nur eine neue Bahn zu bauen. Das bewegt die Menschen nicht zu einem Umstieg. Wenn beispielsweise ein Hörbranzer mit dem Auto nach Bregenz fährt, steht er unter Umständen im Stau, muss sich einen Parkplatz suchen und Parkgebühren zahlen. Da wäre es doch weit ökonomischer, den Bus zu nehmen. Aber die meisten Menschen rechnen diese zusätzlichen Effekte nicht ein. Da macht der Mensch keine Kosten-Nutzen-Rechnung. Er steigt ins Auto und fährt los. Was also kann man tun, damit der öffentliche Verkehr attraktiver wird? Jetzt kommt ein ganz wichtiger Punkt …
Und der lautet?
In der Vergangenheit hat man ganz stark damit gearbeitet, den Individualverkehr möglichst unattraktiv zu machen – um im Gegensatz dazu, den öffentlichen Verkehr möglichst attraktiv scheinen zu lassen. Man hat allerdings gesehen: Das funktioniert schlecht. Ein Beispiel: Werden die Steuern auf Autos erhöht, wird jeder gefahrene Kilometer teurer. Wäre der Mensch nun tatsächlich ein Homo Oeconomicus, würde er schauen, wieviel der gefahrene Kilometer mit dem eigenen Auto im Vergleich zu öffentlichen Verkehrsmitteln kostet – und umsteigen. Würden Autos teurer, würde das also zum Umstieg führen. Das ist nicht geschehen, weder im Pendelverkehr noch im Einkaufsverkehr. Historisch gesehen haben höhere Benzin- oder Dieselpreise nicht dazu geführt, dass die Menschen weniger mit dem Auto gefahren sind. Es hat zu mehr Einnahmen für den Staat geführt, aber vielleicht war das ja auch so gewünscht …
Sie haben in einem Interview gesagt, dass die Verhaltensökonomie im Gegensatz zur klassischen Ökonomie davon ausgehe, dass sich der einzelne Mensch irrational verhält und sich das in der Gruppe sogar noch verstärkt.
Nehmen wir wieder ein Beispiel. Sie haben ein neues, teures Auto gekauft. Gleichzeitig ist eine Haltestelle in der Nähe, man könnte also mit dem Bus fahren, würde sich viel Geld und Zeit ersparen. Aber nehmen Sie deswegen den Bus? Nein. Wir sehen im Mobilitätsverhalten das genaue Gegenteil. Je teurer das Auto ist, desto eher nimmt der Mensch das Auto. Der Mensch sagt sich: „Jetzt habe ich ein teures Auto. Und deswegen möchte ich es auch benutzen.“ Das ist komplett unökonomisch. Und es ist auch nicht so, dass die Menschen da voneinander lernen würden, sprich voneinander ein ökonomischeres Verhalten lernen würden. Das passiert nicht. Vielmehr stecken sich die Menschen in ihrer Irrationalität gegenseitig eher noch an. Die klassische Ökonomie kann diese Irrationalität nicht erklären, während die Verhaltensökonomie die dahinterliegenden Verhaltensmuster identifizieren kann. Und wenn man diese Muster kennt, dann ist man auch nicht mehr so naiv, zu glauben, man müsse nur die Steuern auf die Autos erhöhen, damit die Menschen weniger Auto fahren. Die Politik muss ihren Mobilitäts-Überlegungen also ein anderes Menschenbild zugrunde legen. Die Politik muss sich eingehend mit der Frage beschäftigen, wie der Mensch im Zusammenhang mit Mobilität wirklich funktioniert.
Wie ließe sich eine Änderung des Mobilitätsverhaltens erreichen? Mit welchem konkreten Schritt beispielsweise?
Wenn Sie Verhalten, so auch das Mobilitätsverhalten ändern wollen, braucht es immer ein Set an komplementären Maßnahmen. Sie dürften beispielsweise nicht den Preis für ein Verkehrsmittel auf null setzen. Eine isolierte Preismaßnahme funktioniert nicht und höhlt die Finanzierung des öffentlichen Verkehrs aus. Beim Design so eines Maßnahmensets liegt wie immer der Teufel im Detail. Da sind ein paar Prinzipien einzuhalten. Es braucht den Mut und das Commitment der öffentlichen Hand, den öffentlichen Verkehr zu fördern, und das kostet Geld. Sie müssen für den Nutzer eine Art Sorglos-Paket schnüren. Wenn ich beispielsweise in der Schweiz zwischen Winterthur, Zürich, Basel, Bern, Genf et cetera beruflich als Berater unterwegs bin, würde ich nie auf die Idee kommen, mein Auto zu benutzen. In meiner Firma verwenden alle Mitarbeitenden wirklich aus Bequemlichkeit die Öffis. Warum? Ich fahre mit dem Auto in die Parkgarage des Bahnhofs, der Preis dafür ist im Ticket inkludiert. Ich habe durchgehende Anschlusszüge, Straßenbahnen oder Busse bis zum Kundentermin. Die Fahrpläne sind sehr eng getaktet. Die Verkehrsmittel sind zuverlässig und pünktlich. Ich habe alles, was ich zur Benutzung brauche, auf einem Device und kann alles aus der App heraus wählen und buchen, und es ist in der Jahreskarte inkludiert. Das Wichtigste hier ist, dass die Züge und Busse bis in die Peripherie ausgebaut sind. Bei Bussen gibt es eigene Busspuren. So etwas muss eben gut designt werden.
Ein zentraler Satz aus Ihrer Forschung lautet ja: „Um das Verhalten der Menschen verändern zu können, müssen zuerst die relevanten Verhaltenstreiber identifiziert werden.“ Welche Verhaltenstreiber sind da gemeint?
Gewohnheit ist einer der stärksten Verhaltenstreiber. Sind Abläufe erst einmal eingeübt, ist eine Verhaltensänderung nur sehr schwer möglich. Da braucht es sehr große Einschnitte.
Ergo müsste die Politik, wenn sie denn auch Änderungen im Mobilitätsverhalten erreichen will, zwingend Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie berücksichtigen?
Es wäre schade, wenn man es nicht tut. Die Verhaltensökonomie ist eine Wissenschaft, die beispielsweise hilft, eine wirtschaftsfreundlichere und bürgerfreundlichere Verkehrspolitik zu betreiben. Denn das politische Ziel in einem Ballungsraum wie Vorarlberg muss sein: Wie schaffe ich es, dass die Leute schneller von A nach B kommen? Es geht um eine effiziente Ausnützung von Infrastruktur. Im Stau stehen, ist nicht effizient. Das ist nur volkswirtschaftliche Wertvernichtung.
Ist man also in der Verkehrspolitik in Vorarlberg bisher immer von den falschen Prämissen ausgegangen?
Sagen wir es so: Überall dort, wo wir in den Diskurs kommen, sehen wir zumindest, dass die Diskussionen, die in der Verkehrspolitik stattfinden, unter falschen Prämissen geführt werden. Wir haben da mehr ideologische als wissensorientierte Diskussionen, entweder ‚Auto und Freiheit‘ oder ‚kein Auto und Umwelt‘ und so kommt man nicht weiter. Das sind Positionen, die zu keinen Lösungen führen. Man muss weg von diesen historisch-ideologischen Standpunkten hin zu der Frage, was man gemeinsam erreichen möchte. Aber: Vorarlberg hat eine gemeinsame Wertestruktur, man will den Wohlstand behalten, nachhaltig leben und den Nachkommen Chancen bieten. Und Vorarlberg zeichnet sich eigentlich auch durch Pragmatismus quer über alle Parteien aus. Darin liegt die Chance. Denn überall dort, wo verkehrspolitische Debatten pragmatisch und nicht ideologisch geführt werden, gibt es automatisch die besten Entscheidungen – für die Wirtschaft und für die Gesellschaft.
Vielen Dank für das Gespräch!
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