Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

„Enorme Unsicherheiten und Risiken“

Juni 2022

Gabriel Felbermayr (45) ist einer der bekanntesten Ökonomen Österreichs. Professor Felbermayr stammt aus Oberösterreich und studierte Volkswirtschaft in Linz. Von 2019 bis 2021 war der Wirtschaftswissenschaftler Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, seit Oktober 2021 leitet er das WIFO. Seine Forschungsschwerpunkte sind Globalisierungsfragen und Umweltpolitik. Felbermayr ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, sowie Mitherausgeber der Zeitschrift „European Economic Review“. Gerald A. Matt traf ihn zum Gespräch.

Welche Folgen wird der Krieg in der Ukraine wirtschaftlich für Österreich und Europa haben? Wem tun Sanktionen wirklich weh? 
Wir haben jetzt Krieg mitten in Europa. Ein Krieg bedeutet immer enorme Unsicherheiten und Risiken, vor allem wenn zwei große Länder miteinander in Konflikt geraten. Unsicherheit ist das erste, was der Wirtschaft schadet. Die Aktienmärkte haben reagiert, der Ölpreis ist massiv gestiegen. Vor allem in Mitteleuropa – in Deutschland, Österreich, aber auch in einigen Staaten östlich von uns – sind wir massiv von russischem Gas abhängig. Wenn man jetzt fragt, was bedeutet dieser Krieg wirtschaftlich für uns, dann ist die Kernfrage: Wie geht es mit dem Gas weiter? Da hängt alles dran. Die Sanktionen, die wir bisher gesehen haben, die wir bisher diskutiert haben, die tun den Russen weh, die tun uns auch weh, aber das ist noch Homöopathie. Wenn wirklich kein Gas mehr aus Russland käme, dann wären die Schäden in Österreich, aber auch für die Russen sehr viel größer.

Was würde ein Gasstopp für Österreich und die EU bedeuten? Wäre der Gasausfall ökonomisch und sozial bewältigbar?
Ein Gas-Stopp wäre vor allem kurzfristig äußerst schmerzhaft. Österreich und Deutschland, aber auch andere EU-Staaten würden in eine Rezession stürzen. Wenn im Herbst das Gas unvorbereitet abgedreht wird, wären die ökonomischen und sozialen Schäden noch höher. Daher fordern wir am WIFO, dass die Bundesregierung so rasch wie möglich konkrete Gas-Notfallpläne ausarbeitet und schon jetzt Sparaufrufe macht.

Sie haben in einem Interview gesagt: „Die Ziele, die wir gegen Russland haben, sind sehr groß. Wir wollen ja nicht weniger als einen Regimewandel. Das ist schwer zu erreichen mit wirtschaftlichem Druck.“ Das ist doch eigentlich auch eine Absage an die Idee „Wandel mit Handel“?
Ja, wenn wir den Regimewechsel wollten, wurde das Ziel nicht erreicht. Richtig funktionieren können sowohl Sanktionen als auch die ,Wandel durch Handel‘ Strategie nur bei kleinen, schwachen Ländern. Bei großen, selbstbewussten Ländern wie Russland kommt man da schnell an die Grenzen.

Zur Krise, die uns wahrscheinlich auch noch eine Zeit lang beschäftigen wird, und die vergangenen zwei Jahre massiv geprägt hat: Die Pandemie. Wie gut hat sich die Wirtschaft da eigentlich schon erholt? Waren die staatlichen Maßnahmen zum Teil richtig?
Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Die Pandemie ist ja eine Achterbahnfahrt. Abrechnen können wir erst, wenn die Pandemie vorbei ist. Wenn man das letzte Quartal 2021 nimmt und mit dem vergleicht, was wir 2019 für das letzte Quartal 2021 prognostiziert hätten, dann fehlen uns ganze 4,8 Prozentpunkte Wirtschaftsleistung. Das ist viel, deutlich mehr als in den meisten europäischen Ländern. Da sind wir eher im schlechten Mittelfeld. Aktuell sieht es nicht so aus, als ob wir besonders mustergültig durch diese Krise gekommen wären. Wenn man sich die Gesundheitspolitik anschaut, kann man fragen: Wie hoch war die Übersterblichkeit? Auch da sind wir eher im Mittelfeld.

Die Inflation ist zurück. Was nur wie ein vorübergehendes Phänomen erschien, wird uns länger begleiten. Warum kommt es jetzt zu dieser Inflation und was kann man dagegen tun?
Das hat eine ganze Reihe von Gründen. Ein Grund ist sicherlich in der Coronakrise zu finden, da hat sich das Nachfrageverhalten verändert. Die Menschen konnten keine Dienstleistungen mehr konsumieren, Restaurants waren zu, Theater, Museen und so weiter. Stattdessen hat man sich vor den Computer gesetzt und Waren bestellt, und die mussten von irgendwoher kommen. Dem überraschenden Boom bei der Nachfrage nach Gütern stand aber die pandemiebedingte Reduktion der Kapazitäten am Transportweg und auch in den Produktionsanlagen gegenüber. Also niedriges Angebot und Nachfrageschock, das bedeutet höhere Preise. Es ist nicht so leicht, sich von einer solchen Situation zu lösen. Ein System unter Stress wieder aufzubauen, das wissen wir aus anderen Bereichen auch, ist so schwierig wie eine Prognose abzugeben.

Die Verschuldung der Staaten ist massiv gestiegen.
Genau. Man hat extrem viel Geld aufgenommen, und dieses Geld den Menschen auch auf die Konten gelegt. In Österreich und Deutschland relativ stark, aber am stärksten in den USA. Es ist immer noch – und war – sehr viel Liquidität da. Und diese Liquidität will auf den Markt. Wenn da viel Nachfrage ist, treibt das die Preise. Dazu im Kontext diese Lieferschwierigkeiten, und wir haben Inflation. 

Muss man gegen die Inflation etwas tun, oder kann man das laufen lassen?
Nein, die große Sorge, auch der Zentralbanker, ist, dass sich die Inflation verselbstständigt. Zum Corona-Schock kommen nun die Energiepreise, die durch Geschehnisse in der Ukraine befeuert, die Inflation antreiben. Dass die Gewerkschaften die Reallöhne zumindest erhalten wollen, ist deren Aufgabe. Wenn die Löhne steigen, werden die Unternehmen höhere Kosten haben und diese werden einen Teil dieser Kosten weitergeben, so wird die Inflation weiter angetrieben. Wir müssen alles tun, damit mittelfristig die Erwartungen der Inflation bei diesen zwei Prozent bleiben. Dazu gehört auch, dass die EZB geldpolitisch aktiver werden muss. Sprich, schneller mit den Einkaufsprogrammen zu Ende kommt, sodass die Zentralbankbilanz wieder schrumpft. Und zweitens zu Zinserhöhungen greift, um die Inflationserwartungen nicht nachhaltig über zwei Prozent laufen zu lassen.

Weil durch die Inflation am meisten die „kleinen Leuten“ verlieren? Inflation ist sozial sehr schädlich, kann man das sagen?
Ja, Inflation ist asozial. Wer es sich richten kann, der nimmt sein Bankguthaben und geht an die Börse. Da gibt es zwar Volatilität, aber da ist es inflationsgeschützt oder er kauft sich doch noch eine Wohnung. Wer diese Möglichkeiten nicht hat, der ist der Inflation ausgeliefert.

Manche befürchten, dass es als Folge der digitalen Revolution für viele keine Arbeit mehr geben wird, dass die Arbeit ausgeht.
Die Geschichte lehrt uns eigentlich etwas ganz anderes. Wir haben 250 Jahre rapiden technologischen Wandel hinter uns. Keiner braucht mehr einen Kutscher. Aber wir haben dadurch kein Massenarbeitslosigkeitsphänomen. Es gibt eine starke Nachfrage nach Arbeitskraft, aber halt in anderen Sektoren. Wir können uns heute große, arbeitsintensive Sektoren leisten, Freizeit, der Kultursektor, Gesundheit und Pflege. Da werden Maschinen nach wie vor, und wohl auch in der Zukunft, keine Substitute sein. Diese Branchen werden wachsen, andere werden schrumpfen. Also, es ist ähnlich wie bei der Globalisierung. Durch diese technologischen Verbesserungen wird der Kuchen insgesamt größer, aber es ist nicht so, dass jeder davon profitiert, und es dauert seine Zeit, bis die Verlierer sich in diesem System neu orientieren. Und für manche, die mit Fünfzig den Job verlieren, geht diese Neuorientierung auch nicht mehr. 

Aber insgesamt sind Sie da durchaus optimistisch?
Ich glaube nicht, dass wir aufgrund der Digitalisierung mit Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Hinzu kommt, dass wir zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte nicht immer mehr werden. Auch in China und anderswo gehen die Zuwachsraten zurück. Wir werden also vielleicht Jobs einsparen, aber das ist aufgrund dieser demographischen Situation auch notwendig. 

In Bezug auf den Arbeitsmarkt stellt sich die Frage nach Zuwanderung. Die Rot-Weiß-Rot-Karte scheint aber eher wie ein Abschottungsinstrument gebraucht zu werden. Polemisch gefragt: Ist es leichter, in Österreich Asyl als eine Arbeitsgenehmigung zu bekommen. Wie sehen Sie das?
Ich glaube, dass wir in der Tat eine proaktivere Zuwanderungspolitik brauchen. Eine, die stärker abgestellt ist, auf den Bedarf, den wir wirklich haben. Wir hatten bisher eine sehr reaktive Migrationspolitik. Da ist eine Krise in Syrien und wir helfen. Und das ist auch richtig und gut gewesen. Aber das ersetzt keine Migrationspolitik, die darauf abgestellt ist, wirtschaftliche Vorteile für uns zu generieren. Ich glaube, dass das Perspektiven schaffen würde. Wenn Europa sagen würde: Hier sind die Regeln, unter diesen Bedingungen kommt ihr auf unseren Arbeitsmarkt. Dann würde man auch in den Ländern, wo Menschen nach Perspektiven suchen, welche schaffen. Dann gäbe es plötzlich eine Tür, eine legale Tür, ohne Schlepper, ohne Kriminalität. 

Ja, Inflation ist asozial. Wer es sich richten kann, der nimmt sein Bankguthaben und geht an die Börse.

Ich komme zu einem Thema, das für Sie auch sehr wichtig ist: Das grüne Paradoxon. Wenn wir Energie einsparen, bringt es eigentlich nichts, es wird nur für andere billiger, und weltweit wird genauso viel oder noch mehr verpufft. Dennoch sind sie für CO2-Obergrenzen eingetreten und haben einen Klimaclub vorgeschlagen. Was bedeutet das? Wohin würde das führen?
Die Idee ist es, Maßnahmen so zu ergreifen, dass es nicht zu einem grünen Paradoxon kommt. Wir brauchen ein System, einen Klimaclub, der möglichst viele Länder mitnimmt. Wenn wir unilateral sagen, wir sind die ambitioniertesten der Welt, dann gehen wir einsam voraus. Wir müssen sichergehen, dass die anderen mitgehen, sonst laufen wir Gefahr, dass wir dem Klima damit überhaupt keinen Gefallen tun, es vielleicht sogar mehr schädigen. Weil eine Tonne Stahl, die in Linz hergestellt wird, zwar mit geringeren CO2-Emissionen erzeugt wird, als wenn sie aus China käme, wo höhere CO2-Emissionen notwendig sind. Bei der CO2-Bepreisung wäre es aber so, dass der Inländer den CO2-Aufpreis zahlt und der ausländische Anbieter nicht, es sei denn, ich habe durch den Klimaclub, ein System das CO2-Preise ausgleicht. Das also sagt: Ja, fein, ihr könnt gerne euren Stahl nach Europa liefern, aber dort wird derselbe CO2-Preis auferlegt, der auch im Inland anfällt.

Dass man sie sozusagen motivieren würde, gleich umweltschonend zu produzieren?
Man würde sie motivieren, möglichst CO2-sparend zu produzieren. Im Klimaclub gibt es dann keinen Grenzausgleich. Wer ihm beitritt, führt selbst eine CO2 Bepreisung ein. Dann braucht man an der Grenze keine Formulare ausfüllen, keine bürokratischen Hürden überspringen. Das ist die Idee dahinter, mit dem CO2-Grenzausgleich nicht zu bestrafen, sondern den Anreiz zu setzen, möglichst in der Klimapolitik mitzumachen.

„Die Zeit“ sprach von einem Comeback des Staates, ein Neodirigismus würde den Neoliberalismus ersetzen. Was kann der Staat besser? Was kann er tun, was soll er lassen?
Er muss dort Märkte schaffen, wo keine da sind. Es gibt ohne Staat keinen Markt für CO2-Verschmutzungsrechte oder für Kapazitätsmärkte auf den Strommärkten. Wir brauchen den Staat dringend. Ich bin keiner, der sagt, der Staat muss weg. Aber ich glaube, es ist am besten, wenn der Staat die Leitplanken aufstellt, und innerhalb dieser Leitplanken die Menschen, die Unternehmer und Unternehmerinnen sich möglichst frei bewegen können. Das setzt die Innovationsfähigkeit, die Dynamik frei, die wir brauchen, um Lösungen zu finden. Die Lösungen hat der Staat ja nicht. Der Staat weiß, was er will, das können wir ihm auch als Wähler mitteilen. Er kann die Leitplanken setzen, aber sehr häufig kann er nicht entscheiden, ob jetzt ein Batterie-elektrisches Auto die Zukunft ist, oder eines, das mit Brennstoff fährt. Wenn der Staat dann kommt und diese Mikro-Regulierung durchführt, ist die Sorge groß, dass er sich irrt, dass wir dann durch eine Fehlentscheidung alle als Kollektive die Preise zahlen. Besser ist es also, dezentrale Cleverness im System anzuzapfen. Das führt uns zu Hayek, der von Märkten als etwas gesprochen hat, die uns etwas entdecken lassen, die Lösungen hervorbringen, die der Staat als Bürokratie einfach nicht hervorbringen kann, weil das Wissen und die Innovationsfähigkeit fehlen.

Abschließend, wie sehen Sie die wirtschaftliche Zukunft Europas? Werden wir verzichten müssen auf Wohlstand, werden wir mehr Wohlstand haben, oder werden wir Wohlstand anders, auch in Bezug auf die BIP-Diskussionen, definieren müssen?
Letzteres wird zutreffen. Wir werden anders sein, uns anders wirtschaftlich verhalten, Wohlstand anders definieren. Das heißt nicht, dass wir ärmer werden, dass es uns schlechter geht, aber dass sich die Wertigkeiten verschieben. Dass wir andere Produkte, andere Dienstleistungen konsumieren – hoffentlich solche, die einen kleineren Ressourcen- und Umweltabdruck haben.

Das ist ein sehr optimistischer Schluss. Professor Felbermayr, danke für das Gespräch!

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