Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Richtige und falsche Wirtschaftsprognosen

Juni 2018

Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.“ Jeder kennt diese Weisheit, die dem dänischen Physiker Niels Bohr – oder auch anderen – zugeschrieben wird. Streng genommen sind sie sogar unmöglich, weil die Zukunft letztlich immer einen Grad an Ungewissheit enthält. Die Naturwissenschaften, deren Forschung unveränderliche Naturgesetze erkannt hat, hatten es da etwas leichter. Grundsätzlich allerdings nur bis zur Unschärferelation und der Quantenmechanik Heisenbergs.

Außerdem können die Einflüsse, die tatsächlich in der Natur das Geschehen bestimmen, so komplex sein, die Beobachtungen so ungenau und die Zusammenhänge mathematisch kaum zu bewältigen, dass auch die Naturwissenschaften im Prinzip zu wirklich exakten Vorhersagen nicht imstande sind. Der Mathematiker Norbert Wiener, einer der frühen Pioniere der Kybernetik und der Automation, beschrieb dies einmal, aus dem Fenster seines Arbeitsraums im MIT (Massachusetts Institute of Technology) blickend. Dort sah er auf die vom Wind bewegte Wasseroberfläche eines Weihers im Campus: „Mittlerweile kennen wir alle Naturgesetze, die das Entstehen, die Kraft, die Richtung und die Veränderungen beim Zusammenprall von Wellen erklären. Aber wir wären überfordert, jede einzelne der Wellen und Wellchen, die da unten zu sehen sind, exakt in mathematischer Form zu beschreiben.“ Sein bedeutender Beitrag zur späteren Entwicklung von Computern mit unglaublich gesteigerter Leistung, die viel höher ist, als er sich das damals vorgestellt haben mag, würde die Aufgabe heute vielleicht theoretisch lösbar, praktisch aber so gut wie unmöglich machen.

Da sprechen wir noch nicht von den Wetterprognosen: Ich meine, deren Treffsicherheit hat sich über all die Jahre seit meiner Kindheit ganz entscheidend gebessert. Zu den Mittagsnachrichten drehte mein Vater im Radio immer den Sender „Beromünster“ auf, „den Schweizer“, weil dessen Wettervorschau erfahrungsgemäß eher zutraf als die des „Österreichers“: Das Wetter kommt zu uns häufig vom Westen, daher haben die Schweizer Meteorologen einen Informationsvorsprung, gestützt auf aktuellere Beobachtungen. Trotzdem ging auch deren Prognose oft schief. Heute sind schwere Prognosefehler der Wettervorhersage selten geworden.

Und Wirtschaftsprognosen? Warum sind diese nicht ebenso besser geworden? Vielleicht, weil die Meteorologen mittlerweile Wettersatelliten die Erde umkreisen lassen und jederzeit aktuelle Daten in weltweite Informationssysteme einspeisen? Nein, nicht deshalb. Auch die Wirtschaftsforscher setzen bessere und aktuellere weltweite Daten ein und speisen diese in ökonometrische Computersysteme. Auch die Wirtschaftstheorie machte Fortschritte und verwendet Erfahrungen und Zusammenhänge, die sie früher nicht kannte oder die es nicht gab.
Und trotzdem: Zum Nachteil von planenden Unternehmern und zum Ärger von verantwortlichen Politikern sind Wirtschaftsprognosen trotz des Einsatzes von computerisierten Rechen- und Simulationsmodellen nicht wesentlich treffsicherer geworden. Das gilt besonders für die Vorhersage von Wendepunkten der Konjunktur und von Trendänderungen. Zur Verteidigung – Sie können mir glauben, da verfüge ich über einige Erfahrung – führen die Prognostiker an, wirtschaftliche Zusammenhänge seien komplizierter geworden: Mittlerweile leben wir nicht mehr in einer „Nationalökonomie“, sondern in einer Globalökonomie. Früher wurde die österreichische Volkswirtschaft etwa von Entwicklungen in China kaum beeinflusst. Und wenn, konnten Wirtschaft und Regierung ohne viel Verhandeln mit WTO und CETA darauf reagieren. Die Obstsafterzeuger in Vorarlberg mussten auch nicht mit Nahostkriegen auf ihren arabischen Exportmärkten rechnen, weil diese noch unbedeutend waren. Und die Währungskurse blieben immerhin Jahrzehnte fest an den Dollar gebunden.

Manchmal wird argumentiert, mit Wirtschaftsprognosen seien wirtschaftliche und politische Interessen verbunden. Deshalb sind sie immer umstritten: Die Gewerkschaften lieben es nicht, wenn die Wirtschaftsprognosen vor der jährlichen Lohnrunde Pessimismus über die kommende Konjunktur verbreiten; die Vertreter der Unternehmer genau umgekehrt. Die Regierung schätzt es nicht, schon gar nicht vor Wahlen, wenn ein Konjunkturrückgang angesagt wird. Das macht bei den Wählern schlechte Stimmung und bringt den Wirtschaftsforschern den Vorwurf: „Mit einer so ungünstigen Prognose macht ihr die Konjunktur tatsächlich kaputt.“ Wenn dann die Entwicklung besser kommt als angesagt, schreibt die Regierung dies natürlich auf ihre Fahnen: „Wegen der energischen und weitblickenden Maßnahmen der Regierung trat die ungünstige Prognose nicht ein.“ Das könnte sie nicht behaupten, wenn die Prognose zweckoptimistisch gewesen wäre.

Die Komplikation mit unterschiedlichen Wunschvorstellungen, was die Zukunft betrifft, beschränkt sich allerdings nicht auf Wirtschaftsprognosen. Auch die Meteorologen ernten Vorwürfe, vor allem von der Hotellerie, wenn sie für das Pfingstwochenende Kälte und Schneeschauer ansagen, umso mehr, wenn dann doch die Sonne scheint und die Gäste zu Hause geblieben sind. Übrigens basieren auch Wirtschaftsprognosen auf ähnlich „eisernen“ Naturgesetzen wie die der Astronomen: Dass kein Steuerpflichtiger gerne Steuern zahlt, ist eines; dass Egoismus über Rationalität geht, ein anderes.

In der Öffentlichkeit ernten die immer wieder misslingenden Versuche der Prognostiker, die Zukunft richtig vorherzusagen, zumindest Mitleid oder Spott. Damit reagiert die menschliche Psyche auf Mitmenschen, die vorgeben, etwas zu können, was nach allgemeiner Ansicht nicht möglich ist. So erging es etwa dem Schneider von Ulm, der angekündigt hatte, mit an die Arme geschnallten Flügeln die Donau überfliegen zu können. „No hot’n der Deifel en d‘ Donau nei g’führt.“

Der eigentlich entscheidende Grund, weshalb Wirtschaftsprognosen weniger treffsicher sind als etwa Wetterprognosen, ist aber: Das Wetter reagiert nicht auf Wetterprognosen. Wirtschaft und Bevölkerung hingegen auf veröffentlichte Wirtschaftsprognosen sehr wohl. Das löst Reaktionen der daran Interessierten oder davon Betroffenen aus. Prognosen und wirtschaftliches Verhalten hängen wechselseitig voneinander ab. Die an der Prognose Interessierten ändern ihr in der Prognose angenommenes Verhalten, sodass die Prognose „falsch“ wird. Darauf stützt sich die Rechtfertigung der Prognostiker: Oft soll sie gar nicht eintreten! Ihre Aufgabe ist nicht in erster Linie, „richtig“ zu sein. Ihre Veröffentlichung soll sie selbst vernichten. Sie soll auf unerwünschte Entwicklungen aufmerksam machen, damit rechtzeitig gegengesteuert wird. Möglicherweise folgen noch weitere Runden der Rückkoppelung und verändern die angenommenen Systemzusammenhänge.

Einen Weg zu finden zwischen divergierenden Interessen von Betroffenen oder, erst recht, zwischen der unterschiedlichen Beurteilung von veröffentlichten Prognosen vor und nach dem Prognosezeitraum, ist tatsächlich sehr schwierig, kommt einer Kunst nahe. Nicht zu leugnen, dass dafür Erfahrung und „Gefühl“ mindestens ebenso gefragt sind wie die Lehrbücher der Wirtschaftstheorie.

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