Herbert Motter

Vom Lebensmittel „Luft“

September 2021

Aerosolforscher fordern von der Politik einen Kurswechsel bei den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Seuche: „Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren,
dass drinnen die Gefahr lauert“, hieß es 2020 in einem Brief an die deutsche Bundesregierung.

Das blieb nicht ohne Wirkung. Schon in August 2020 beschloss der Deutsche Bundestag ein Förderpaket zur Umrüstung von Klimaanlagen. Georg Nüßlein, Mitglied des Deutschen Bundestages, kommentierte die Klima-Förderung wie folgt: „Das Förderprogramm zur Corona-gerechten Umrüstung von RLT (RaumLuftTechnische)-Anlagen in öffentlichen Gebäuden und Versammlungsstätten ist die richtige Antwort auf das erhebliche Infektionsrisiko durch Klimaanlagen mit Umluftrückführung. Wir fördern damit in diesem und im nächsten Jahr mit 500 Millionen Euro wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Infektionen.“ Bayern sieht zusätzlich eine Landesförderung von 50 Millionen Euro vor, Baden-Württemberg immerhin 45 Million Euro. In Österreich fehlen nicht nur solche großen Fördermodelle, sondern auch das Bewusstsein bei Gebäudebetreibern, die Übertragung der Corona­virus-Krankheit beim Hauptverursachern Luft anzugehen. Gerade mal zehn Millionen Euro wurden Österreichs Gemeinden als Pflichtschulerhalter zur Kofinanzierung bei der Anschaffung von Luftreinigungsgeräten zugesagt. Eine Investitionsprämie für Unternehmen ist im Februar 2021 ausgelaufen.
Es ist längst ein Faktum: Ansteckungen mit dem Corona-Virus finden zu „99,9 Prozent in Innenräumen“ statt. Hauptübertragungsweg von SARS-CoV-2 ist die Ausbreitung über Aerosole in der Luft, die unter bestimmten Umständen stundenlang in der Luft bleiben können. Das Risiko einer Ansteckung steigt unter anderem mit zunehmender Personenzahl, längerer Aufenthaltsdauer, lautem Sprechen und ist zudem abhängig von den herrschenden Luftbedingungen (zum Beispiel Feuchtigkeit). Menschen halten sich durchschnittlich zu mehr als circa 90 Prozent ihrer Zeit in Innenräumen auf, in Wohn-, Arbeits-, Büroräumen oder in Verkehrsmitteln. Gebäude spielen daher eine zentrale Rolle bei der Ausbreitung von Krankheiten. Der Corona-Virus verstärkt nun den Fokus auf Innenräume. Langsam, für viele Experten viel zu langsam.
„COVID-19 verändert unsere Erwartungen an die Raumumgebungen. Passiert jetzt endlich eine Bewusstseinsbildung, ein Umdenken der Investoren und Verantwortlichen, auch der Gebäudebetreiber?“, fragt sich Ludwig Rüdisser, Inhaber der RLT-(Raumlufttechnik) Optimierung in Götzis. Bei neuen Projektentwicklungen, Sanierungen und den dabei zu treffenden Entscheidungen müsse der Fokus nicht nur auf thermische, energiesparende Maßnahmen, sondern auch auf die Luft-Gesundheitskriterien in Innenräumen liegen. Einfluss wird es auch auf zukünftige Entscheidungen in einer veränderten Lebens- und Wohnkultur haben. Vor allem, dann, wenn erkannt wird, dass wir mit dem Virus leben müssen. Rüdisser: „Die Ansprüche an ein gesundheitsförderndes Gebäude mit intelligenten, ausgereiften und nachhaltigen Technologien werden neue Prioritäten bekommen. Notwendig sind Räume, Aufenthaltsorte mit ansprechender Luftqualität und optimalem Luftwechsel.“
Bereits seit Jahren schlagen Wissenschaftler und Mediziner Alarm, dass unsere Distanz zur Natur und deren Ressourcen mit einer Vielzahl von chronischen Gesundheitsproblemen wie Allergien, Asthma, Depressionen, Reizdarmsyndrom und Fettleibigkeit zusammenhängt. In jüngerer Zeit haben Experten verschiedener Fachrichtungen untersucht, warum Gebäude – selbst solche, die so keimfrei wie möglich sein sollen – Überträger für Krankheiten sind, nicht zuletzt für COVID-19. Der relative Mangel an Frischluft-Luftzufuhr und Sonnenlicht ist ein offensichtliches Problem. Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftverschmutzung in Innenräumen spielen dabei ebenfalls eine Rolle. Studien zu realen Luftkeim-Messungen gehen davon aus, dass die Raumluft im Innern bis zu fünf Mal stärker mit Schadstoffen belastet ist im Vergleich zur Außenluft. 
Im November 2020 appellierten über 240 europäische Wissenschaftler an die medizinische Gemeinschaft und an die zuständigen nationalen und internationalen Gremien, das Potenzial für eine Ausbreitung der Coronavirus-Krankheit in der Luft zu erkennen. In ihrem Schreiben heißt es: „Wir sind besorgt darüber, dass die mangelnde Anerkennung des Risikos der Übertragung von COVID-19 in der Luft und das Fehlen klarer Empfehlungen zu den Kontrollmaßnahmen gegen das Virus in der Luft erhebliche Folgen haben werden: Die Menschen mögen denken, dass sie durch die Einhaltung der aktuellen Empfehlungen vollständig geschützt sind, aber in der Tat sind zusätzliche Luftinterventionen erforderlich, um das Infektionsrisiko weiter zu verringern.“
In Wohnungen, Büros, Klassenräumen, Wohnanlagen und Betreuungseinrichtungen müssten Maßnahmen ergriffen werden. Stoß- oder Querlüften allein sei zu wenig. In Innenräumen würde auch dann eine Ansteckung stattfinden, wenn man sich nicht direkt mit jemandem trifft, sich aber ein Infektiöser vorher in einem schlecht belüfteten Raum aufgehalten hat, warnen sie. „Die Bedeutung der Innenraum Klimatologie wird in Zukunft steigen“, sagt Ludwig Rüdisser. Nutzererfahrungen würde zudem zeigen, dass die Ansprüche an Komfort und Sicherheit laufend steigend. „Um diese auf lange Sicht zu erfüllen, muss ein neues Bewusstsein für raumklimatische Parameter geschaffen werden und letztere müssen laufend unter Beobachtung stehen.“ Der Raumluftexperte warnt aber davor, ohne unabhängige Sachverständige mit langjähriger Erfahrung zu agieren. Nur nach dem Motto: „Qualität entsteht, wenn die Vorgaben definiert sind“ können solche Innenraum-Analysen Sicherheit und Grundlagen für weitere Entscheidungen beziehungsweise Maßnahmen bringen. Die moderne Indoor-Gesellschaft ist also aufgerufen sich einige grundlegende Gedanken über das Lebensmittel Luft zu machen. Und das rasch!

Es ist längst ein Faktum: Ansteckungen mit dem Corona-Virus finden zu „99,9 Prozent in Innen­räumen“ statt.

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