Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Vorhersehbare Überraschungen

Juni 2020

Der Vogel Strauß verdankt seinen zweifelhaften Ruf, bei drohender Gefahr den Kopf in den Sand zu stecken, dem altrömischen Naturforscher Plinius dem Älteren. Dass der flugunfähige Vogel für ein so irrationales, existenzbedrohendes Fehlverhalten auch unter Menschen noch heute Nachahmer findet, beleuchten eindrucksvolle Beispiele aus jüngster Zeit. 
Auch die menschliche Natur neigt dazu, eine unausweichliche Gefahr nicht sehen zu wollen, ihr nicht entgegenzutreten, sondern sich leichter lösbaren Problemen zuzuwenden. Oder: Man sieht zwar die Gefahr, die über die Mitmenschen hereinbrechen würde, sich selbst aber als immun an. Beinahe ein tragisch verlaufenes Beispiel dafür ist der britische Premier Boris Johnson, der Corona-Patienten in den Spitälern mit ungeschützten Händen und ohne Maske begrüßte. Ein paar Tage später hing er selbst an der Beatmung in der Intensivstation. 
Die große Gefahr, die von der Ausbreitung eines Virus über die ganze Erde ausgehen könnte, war den Virologen, der Weltgesundheitsbehörde (WHO) und der militärischen Sicherheit bewusst. Immerhin hatte man aus der Pandemie der Spanischen Grippe 1918-1920, die mehr Todesopfer gefordert hatte als der gesamte Erste Weltkrieg insgesamt, gelernt. Immer wieder mahnten nationale und internationale Agenturen, die Gefahr ernst zu nehmen und sinnvolle Vorkehrungen zu treffen. 2015 kritisierte Bill Gates, die Welt sei auf einen verheerenden Ausbruch einer Infektion nicht vorbereitet. Präsident Trump hingegen löste 2018 die von seinem Vorgänger Obama eingerichtete Direktion für Weltgesundheit auf. Noch im September 2019, drei Monate vor „Wuhan“, veröffentlichte das Weltkomitee für Katastrophenvorbeugung (GPMB) eine Warnung unter dem Titel „A World at Risk“ mit dem Schwerpunkt Pandemien. 
Den meisten Gefahren kann vorgebeugt werden, wenn man sie genügend ernst nimmt. Vorkehrungen hängen von der Erkenntnis der Gefahr und vom Risiko ab, das sich aus Wahrscheinlichkeit und Höhe des möglichen Schadens ergibt. Risikobeurteilung zählt zu den schwierigsten Problemen, die sich der Wissenschaft stellen, seit die Menschheit Katastrophen nicht mehr göttlichen Strafen zuschreibt. 
 

Die Covid-19-Krise hat der sinnvollen Bewältigung des Klima­problems schwer geschadet.

2003 publizierten Bazerman-Watkins im Harvard Business Review über „Prognostizierte Überraschungen – Desaster, die vorhersehbar wären“. Meist sei die Erde ein Platz, an dem Prognosen schwierig sind. Aber häufig sei nicht Unvorhersehbarkeit selbst das Problem, sondern unser Verhalten wie das des Vogels Strauß: Die Gefahr wird klar erkannt, aber die Betroffenen reagieren nicht. Eine schreckliche Erfahrung in dieser Richtung musste die Stadt New Orleans machen. 2001 stellte die US-Behörde für Katastrophenabwehr fest, dass ein besonders kräftiger Hurrikan, der die Stadt genau träfe, zu den verheerendsten Risiken in den USA zähle. 
2004 gab es Alarm: Hurrikan Ivan drohte auf die Stadt zu zurasen. Wer konnte, floh mit dem Auto. Die keines hatten, wurden im überdachten Stadion behelfsmäßig untergebracht. Doch Glück im Unglück: Der Sturm beschädigte zwar das Dach und überflutete Teile der Stadt, aber er kostete weniger Menschenopfer und Schäden als befürchtet. Ivan war im letzten Moment etwas von seiner Route abgewichen und hat die Stadt nur gestreift. Die Schäden an den Häusern und am Stadion waren bald repariert.
Schon elf Monate später (August 2005) kam aber Katrina, ein Super-Hurrikan. Genau auf die Stadt zu. Und trifft sie frontal: Die Dämme brechen, 1836 Menschen verlieren ihr Leben, 1,3 Millionen werden obdachlos, die Sachschäden machen mehr als 100 Milliarden Dollar aus. Das früher quirlige Leben der Stadt hat sich seither noch nicht wieder erholt. Der Schritt von der deutlichen Warnung, die Ivan erteilt hatte, zur Umsetzung konkreter Maßnahmen war der Politik zu groß gewesen. 
Als Ende 2019 das Virus Cov2-19 in Wuhan auftauchte, war kaum ein Staat dafür gerüstet. Auch Österreich nicht: Hier waren aus Anlass der Vogelgrippe 1,6 Millionen Gesichtsmasken zu viel angekauft worden, die seit 14 Jahren in einem Lager verstaubten. Diesmal wurden große Mengen Gesichtsmasken beschafft, aber nicht genügend Schutzkleidung. Und hätten wir bei der nächsten Epidemie genügend geschultes Pflegepersonal? Und was, wenn diese nicht die Atmung befällt sondern die Nieren?
Die abrupt verhängten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit haben die Wirtschaft schwer getroffen. Unvermeidlich löst die Viruskrise fundamentale Verunsicherung und eine schwere weltweite Rezession aus. Eine längerfristige Dämpfung der Wirtschaftsleistung und weiterer Bedarf an staatlicher Hilfe sind eher absehbar als ein steiler Aufschwung.
 Die Bevölkerung reagiert derzeit mit Erleichterung. Sie hat die Quarantäne gründlich satt und will so bald wie möglich zurück zu den gewohnten „normalen“ Verhältnissen. 
Halt! Da war doch noch etwas: Als die Virus-Krise hereinbrach, war der bedrohliche Klimawandel das wichtigste politische Thema. Auch die neue Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hatte die Bekämpfung des Klimawandels in den Mittelpunkt ihres politischen Programms gestellt. Ihre Stimme wurde wegen der Ankunft des Virus in Italien nicht mehr gehört. 
Die Covid-19-Krise hat der sinnvollen Bewältigung des Klimaproblems schwer geschadet: Ein großer Teil der Bevölkerung hat nun Ausnahmezustand und Änderungen des Alltags gründlich satt. Und der Finanzminister hat ein scheinbar triftiges Argument, Mehraufwand für Klimaschutz tapfer abzuwehren. Die Staatsschulden stiegen schon bisher enorm an, um nur das Dringendste zu finanzieren. 
Doch der Alarm der Klimawissenschaft wird bedrohlicher. Die Gefahren sind ernsthaft nicht mehr zu leugnen. Aber die heutige Politik kann sich bisher kaum zu mehr aufraffen, als sich zu ducken wie der Vogel Strauß. Der Treibhauseffekt aus der Verbrennung fossiler Energieträger wird schon in wenigen Jahrzehnten die Lebensbedingungen auf der Erde katastrophal schädigen. Das „schmutzige“ Energiesystem der modernen Wirtschaft muss so rasch wie möglich durch „saubere“ Energien ersetzt werden. Das setzt nicht nur neue Technologien, sondern auch fundamentale Veränderungen der Lebensgewohnheiten voraus. Davor scheut die Politik mit Rücksicht auf das Widerstreben der Bevölkerung und betroffener Wirtschaftszweige zurück. 
Rational ist das nicht zu erklären: Probleme werden durch Nichtbeachtung selten kleiner, im Gegenteil. Erklärungen bieten weniger Ökonomie oder Soziologie, eher schon die Psychologie: Menschen neigen zu irrationalem Wunschdenken; sie trauen eher ihrem Bauchgefühl und selbstbezogenem Egoismus: Andere Leute würden vielleicht leiden, nur nicht sie selbst. Dazu tritt ein tief verankertes Unverständnis für Wissenschaft sowie das Bedürfnis nach Konformität mit Bezugspersonen, deren Urteil wichtig erscheint; und schließlich einfach Kurzsichtigkeit bis zum nächsten Wahltermin, schon gar nicht auf Sicht von Jahrzehnten und Generationen. 
Das Klimaproblem übertrifft die Corona-Krise bei weitem. Wir werden uns, selbst wenn wir das Virus bald unter Kontrolle hätten, damit noch lange und eingehend beschäftigen müssen. 

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