Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Herbert Motter

Wohin der Weg führt

Mai 2019

Der Wirtschaftsstandort Vorarlberg – eine Bestandsaufnahme

Es ist ein visionäres Ziel: Vorarlberg soll bis 2035 „der chancenreichste Lebensraum für Kinder“ sein, mit dieser Positionierung soll die „Marke Vorarlberg“ vorangetrieben und mit Leben erfüllt werden. Nach 18 Monaten Arbeit wurden nun dieser Tage in Dornbirn das neue Corporate Design präsentiert und erste entsprechende Projekte vorgestellt. Klaus-Dieter Koch, der mit seinem Unternehmen „Brand Trust“ den Prozess begleitet hatte, sagte dabei, Vorarlberg brauche eine Marke, „weil der Wettbewerb größer und vielschichtiger geworden ist und man schauen muss, welche Stärken man einbringen kann, um Vorteile zu erreichen.“

Zur Essenz verdichtet

Eine Region müsse in der Lage sein, in kürzester Zeit mitzuteilen, was sie begehrenswert mache – für Fachkräfte und Investoren, aber auch für all jene, die sich überlegen, in welcher Region sie arbeiten und sich niederlassen und eine Familie gründen möchten.
Das Bewusstsein, was das Land Vorarlberg ausmache, zur Essenz verdichtet, das ist laut Koch die Idee hinter der Marke Vorarlberg. „Marke“, fügte der Deutsche noch an, „ist das einzige Wirtschaftssystem, das wir kennen, das in der Lage ist, Menschen anzuziehen.“ Und das tue sie, indem sie abstrakten Themen eine Bedeutung gebe. Für den Standort Vorarlberg, sagt Jimmy Heinzl, sei eine solche Positionierung überaus attraktiv: „Wir können, wenn wir dieses Ziel erreichen, für ein bestimmtes Segment von Menschen sehr interessant werden – für all jene, die eine Balance suchen zwischen attraktiven Jobs und einer hohen Lebensqualität.“ Wobei wir bei der Frage wären, was denn eigentlich den Wirtschaftsstandort Vorarlberg auszeichnet – einen Raum, der laut Wirtschaftsstandortgesellschaft-Geschäftsführer Heinzl zu den Top-20-Standorten in Europa gehört und dem jüngst von der Bertelsmann-Stiftung bescheinigt wurde, die Region in Europa zu sein, die vom EU-Beitritt am meisten profitiert habe.

Wirtschaftlicher Erfolg

Vorarlberg ist in Österreich das Bundesland mit der höchsten Industriequote, den meisten Patentanmeldungen und der höchsten Export-Quote, jeweils pro Kopf gerechnet. Das einstige Textilland ist einer branchenreichen und wirtschaftsstarken Region gewichen, global tätige Großkonzerne finden sich neben dynamischen, hochspezialisierten Klein- und Mittelbetrieben. Die Vorarlberger Wirtschaft hat 2017 Waren und Güter im Wert von über zehn Milliarden Euro exportiert, das Exportvolumen hat sich seit dem EU-Beitritt Österreichs damit mehr als vervierfacht. Vorarlberg überragt, gemessen an der Exportquote pro Einwohner, Baden-Württemberg und Bayern. Der Vorarlberger Pro-Kopf-Exportwert liegt bei 25.853 Euro, er ist damit – beispielsweise – um mehr als ein Drittel höher als der Österreich-Durchschnitt von 17.800 Euro. In einem Artikel der „Neuen Zürcher Zeitung“ hieß es vor kurzem: „Die Schweiz hing über die Jahrzehnte vor allem wie eine Wohlstandskarotte vor den Nasen der Nachbarn und war ein wirtschaftliches Vorbild. ... Dieses Bild hat sich abgeschwächt, tatsächlich hat die Wirtschaftsleistung Vorarlbergs im Vergleich mit den Ostschweizer Kantonen und der gesamten Schweiz über die vergangenen zwei Jahrzehnte stark zugelegt.“ Und was die zuvor erwähnte Bertelsmann-Studie betrifft: Vorarlberg liegt laut dieser Studie, verglichen mit allen Regionen Europas, bei zwei Indikatoren auf Platz eins, bei einem anderen Indikator auf Platz vier, bei einem weiteren auf Platz elf. „In Europa kommt einzig die belgische Region Lüttich an Vorarlberg heran, was die positiven Veränderungen bei Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Einkommen betrifft“, berichtet Wirtschaftslandesrat Karlheinz Rüdisser.

Für in erster Linie kleine, exportstarke Länder ist der EU-Binnenmarkt das große Los. „Auch, wenn in Österreich gerne über ‚Brüssel‘ geschimpft wird, geht das Land insgesamt doch als klarer Gewinner des gemeinsamen Wirtschaftsraums hervor. Der Wettbewerb hat Österreich und damit im Besonderen Vorarlberg produktiver und wohlhabender gemacht“, sagt Hanno Lorenz, Ökonom der Agenda Austria. Innerhalb Österreichs ist Vorarlberg der größte Gewinner.
Aktuell bestätigt das eben jene zuvor erwähnte Studie der Bertelsmann Stiftung und der University of Sussex, in der die ökonomischen Effekte des EU-Binnenmarktes in Europas Ländern und Regionen untersucht wurden, äußerst eindrucksvoll. Vorarlberg liegt mit einem Pro-Kopf-Einkommensgewinn von 2062 Euro deutlich an der Spitze der österreichischen Regionen und auch europaweit liegen nur Luxemburg und Schweizer Regionen vor uns. Besonders erfreulich: Von allen 283 untersuchten Regionen weist Vorarlberg die höchste Steigerung der Produktivität auf. In Europa zeigen sich zwei wesentliche Trends: Zum einen sind es nicht die größten Volkswirtschaften, die am stärksten profitieren, sondern vor allem verhältnismäßig kleine, aber exportstarke Nationen. Zum anderen gilt: Zentrum schlägt Peripherie. Länder im geografischen Zentrum Europas profitieren deutlich stärker als EU-Mitglieder im Süden oder Osten des Kontinents. 
„Die größten Gewinner sind kleine Länder, die viel Handel treiben und besonders international ausgerichtet sind“, erklärt Dominic Ponattu von der Bertelsmann Stiftung. Dazu liegen sie häufig im Windschatten größerer Volkswirtschaften: „Für Länder wie beispielsweise die Niederlande oder Österreich ist der Binnenmarkt Gold wert, denn sie verfügen über wettbewerbsfähige Branchen, sind aber aufgrund kleiner Inlandsmärkte vom Export abhängig“, sagt Ponattu. Für Regionen gilt: Je näher diese am europäischen Zentrum beziehungsweise an anderen (großen) Volkswirtschaften liegen, desto höher die Einkommensgewinne durch den EU-Binnenmarkt. Und: Je stärker Industrie und Exportbranchen in einer Region verankert sind, desto höher sind in der Regel auch die Einkommensgewinne durch den Binnenmarkt. Auch Regionen mit starkem Mittelstand und hochwertigen Zuliefererbetrieben, die viel in die EU exportieren, sind Gewinner – eine nahezu perfekte Beschreibung unseres Wirtschaftsstandorts.
Wie würde Wirtschaftslandesrat Rüdisser den Wirtschaftsstandort Vorarlberg beschreiben? „Wenn man das stark komprimiert formulieren möchte, würde ich sagen, der Standort Vorarlberg ist innovativ, er ist offen, er ist wettbewerbsfähig.“ Vorarlberg habe den immensen Vorteil einer sehr differenzierten und sehr breit aufgestellten Wirtschaft, sagt wiederum Marco Tittler, der stellvertretende Direktor der Wirtschaftskammer Vorarlberg, „es gibt bei uns auch eine gute Durchmischung von Groß und Klein, und die vielen familiengeführten Unternehmen mit ihrem klaren Bekenntnis zum Standort sind ebenfalls von großer Bedeutung.“ Man habe es verstanden, Produktionsstandorte im Land zu halten, Vorarlbergs Unternehmen seien erfolgreich in die Automatisierung gegangen und gingen gegenwärtig erfolgreich den Weg in die Digitalisierung, fügt Tittler an: „Wir haben also hervorragende Voraussetzungen.“ Heinzl, der Geschäftsführer der Wirtschaftsstandortgesellschaft, sieht die Stärke Vorarlbergs neben Faktoren wir der hohen Produktivität oder der überdurchschnittlichen Leistungsbereitschaft der Menschen auch in der strategisch günstigen Lage – inmitten einer der weltweit stärksten Wirtschaftsregionen mit der Ostschweiz, Süddeutschland und Oberitalien. 

 

Und trotzdem …

David Stadelmann, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, sagt im Gespräch mit „thema vorarlberg“, dass Vorarlberg im Vergleich mit Wirtschaftsräumen in Deutschland und im Vergleich mit den anderen österreichischen Bundesländern sehr gut dastehe, auch gemessen am regionalen Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf, das etwa 45.000 Euro beträgt. Aber: „Vergleicht man unser Bundesland mit den wettbewerbsfähigsten Räumen in Europa, etwa mit verschiedenen Schweizer Kantonen oder in einem breiteren Maßstab mit Irland, dann zeigt sich, dass Vorarlberg Aufholpotenzial hat – respektive sein eigentliches Potenzial noch nicht ausgeschöpft hat.“ 
Ein so starkes Land wie Vorarlberg, und das ist Stadelmanns Credo, müsse den Vergleich mit den besten Regionen Europas suchen, nicht den mit den schlechteren, abgeschlagenen: „Wir haben in Vorarlberg ein bisschen die Tendenz, zu sagen, dass es eh halbwegs gut läuft, aber da vergleicht man sich eher mit Blinden und Fußlahmen.“ Das aber dürfe Vorarlberg nicht machen: „Man muss sich mit den dynamischsten Regionen vergleichen, Vorarlbergs Ziel müsste es sein, zu den Top fünf Wirtschaftsregionen in Europa zu gehören. Und da ist man natürlich noch lange nicht.“ Nur mit den Besten habe sich das Land zu vergleichen, „weil auch nur aus solchen Vergleichen gelernt und profitiert werden kann.“ 
Auch Gerhard Schwarz, langjähriger Leiter der Wirtschaftsredaktion der „Neuen Zürcher Zeitung“, findet im Interview (Seite 11) lobende und mahnende Worte zugleich. Vorarlberg habe seine Stärken, das Land habe sich insgesamt hervorragend entwickelt, sagt Schwarz: „Im europäischen Vergleich steht das Land nicht schlecht da, aber in vielen Regionen dieser Welt ist der Leistungswille größer und die Wachstumsmüdigkeit kleiner. Das im Auge zu behalten ist für die weitere gedeihliche Entwicklung fundamental.“ 

Die Sache mit dem Wachstum

David Stadelmann, der Ökonom, weist auf zwei grundlegende Probleme hin. So sind – erstens – die Grundstückspreise in Vorarlberg sehr hoch, zwar nicht im Vergleich zur Schweiz oder Liechtenstein, aber doch im Vergleich zur direkten Nachbarschaft in Deutschland. Stadelmann, in Sibratsgfäll geboren, sagt, dass Vorarlberg an diesem Punkt intensiv anzusetzen habe: „In Vorarlberg sollte man sich also dringend Konzepte überlegen, wie man den Erhalt der Umwelt mit mehr Flächen für Wirtschaft und Wohnraum in Einklang bringen kann.“ Ihm zufolge sei dringend ein offener Diskurs zu führen, angesichts der verschiedenen Vorstellungen, die gegeneinander laufen. 
Soll heißen? „Wir wollen unseren Wohlstand weiter ausbauen und gleichzeitig eine möglichst schöne Landschaft haben; man müsste also bewerten, was uns die schöne Umwelt wirklich wert ist.“ Denn die Bürger würden zwar eine intakte Umwelt, aber auch hohe Löhne, kurze Arbeitswege und sichere Jobs schätzen: „Viele, die sich für den Umwelt- oder Klimaschutz aussprechen, sind oft gar nicht bereit, dafür substanziellen monetären Verzicht zu üben. Ergo muss man einen offenen Diskurs darüber führen, wieviel dem Einzelnen wirklich eine möglichst intakte Natur wert ist – und auf welche Annehmlichkeiten er dafür bereit ist zu verzichten.“ Landesstatthalter Rüdisser sagt übrigens, dass es „im Zusammenhang mit der Erweiterung von Betriebsflächen massive Wachstumskritik aus bestimmten Ecken gibt, verbunden mit der Meinung, dass wir eigentlich den Zenit erreicht hätten, um das etwas überspitzt zu formulieren.“ Auch das könnte mit dem Begriff Wachstumsmüdigkeit beschrieben werden, jedenfalls würde Wachstum laut Rüdisser „in einer Phase eines wirtschaftlich schwierigeren Umfeldes sicher deutlich anders beurteilt als in einer Phase lang­anhaltenden Wachstums mit Wohlstand auf breiter Ebene.“

Fehlende Kompetenzen

Problem Nummer zwei sind laut Stadelmann übrigens fehlende Kompetenzen im Land. Vorarlberg brauche dringend mehr Flexibilität bei Regulierungen und größere Unabhängigkeit von Wien: „Die Landesregierung sollte sich mehr anstrengen, um mehr Kompetenzen aus Wien zu bekommen; schon allein deswegen, weil die Landespolitik viel besser informiert ist, was man in Vorarlberg wirklich benötigt, und auch kompetenter in der Umsetzung ist. Dezentralisierung, mehr Föderalismus und damit mehr Eigenverantwortung, das würde Vorarlberg sehr entgegenkommen.“
Zitieren wir abschließend nochmals aus dem erwähnten Artikel der NZZ? Dort heißt es: 
„Vorarlberg hat wirtschaftlich einiges erreicht. Dies spiegelt auch ein Index des Wirtschaftsforschungsinstituts BAK Economics, der die Leistungsfähigkeit, das strukturelle Potenzial und die Standortattraktivität von europäischen Regionen misst. Gleichzeitig zeigt sich auch, dass Vorarlberg hinterherhinkt, wenn es um die Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich mit anderen Regionen in der Nähe geht. Stärken werden dabei schnell zu Schwächen. Während Vorarlberg in der Lehrlingsausbildung erfolgreich ist, hapert es bei der höheren Ausbildung. In Vorarlberg gibt es eine Fachhochschule, aber keine Universität. Gegenüber St. Gallen gibt es weniger Unternehmen im Hochtechnologiebereich. Auch bei den Forschungs- und Entwicklungsausgaben erreicht das Bundesland nicht den österreichischen, deutschen oder Schweizer Durchschnitt, obwohl die Anzahl der Patente pro Kopf relativ hoch ist. Zudem mangelt es an Infrastruktur.“
Dass die Aufrechterhaltung des Standorts kein Selbstläufer ist, das sagt auch Heinzl. Der Erfolg sei nicht selbstverständlich, da auch andere Regionen relativ viel machen, erklärt Tittler: „Wir hätten beste Voraussetzungen, Vorarlberg zu einer Vorzeigeregion und zu einem Best-Practice-Beispiel zu machen, nur müssten wir hie und da ein bisschen mutiger sein und uns vielleicht auch in der Zielsetzung ein wenig neu ausrichten.
Aber eines sollte uns allen immer bewusst sein: Dass die Wirtschaft die Basis unseres Wohlstandes ist.“

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