Zwei Welten– Arbeitslosigkeit und offene Stellen in Vorarlberg
In Vorarlberg sind über 10.800 Menschen arbeitslos, zugleich sind 7700 offene Stellen gemeldet. Zu unterschiedlich sind die von der Wirtschaft geforderten und die von vielen Arbeitsuchenden angebotenen Qualifikationen. Lässt sich dieses – von Ökonomen so genannte – Mismatch am Arbeitsmarkt reduzieren? Experten geben Auskunft.
Wie Landeshauptmann Markus Wallner und AMS-Geschäftsführer Bernhard Bereuter bei einer Pressekonferenz Mitte Monat bekannt gaben, bleibt es Ziel der Arbeitsmarktpolitik, Verfestigung von Langzeitbeschäftigungslosigkeit zu verhindern, die Höherqualifizierung von Menschen mit niedrigem Ausbildungsniveau zu forcieren sowie Jugendlichen eine gute berufliche Ausbildung und Beschäftigungsperspektiven zu bieten. 52,6 Millionen Euro werden allein heuer in Initiativen und Förderangebote investiert. Wallner sagte: „Die entscheidende Frage in allen Berufsfeldern und Branchen lautet: Wie bekommen wir die besten Arbeitskräfte für die heimische Wirtschaft? Die Antwort: Qualifizieren, qualifizieren und nochmals qualifizieren.“
Steigende Zahlen
Sehen wir uns die Ausgangsposition an? Das Land ist weit entfernt von der historisch hohen Arbeitslosigkeit der Pandemie-Jahre. Auch lag die Arbeitslosenquote in Vorarlberg mit 5,9 Prozent Ende Dezember des Vorjahres* unter dem bundesweiten Durchschnitt von 8,3 Prozent. Die Situation ist dennoch angespannt. Vergangenen Dezember waren 10.866 Personen beim AMS Vorarlberg als arbeitslos vorgemerkt, 702 Menschen mehr als noch im Vergleichsmonat 2023.
Bereuter sagte im Jänner: „Wie erwartet steigen die Arbeitslosenzahlen infolge der hartnäckigen Konjunkturschwäche weiter an. Am stärksten betroffen sind Bundesländer mit einem hohen Anteil an Beschäftigten im Industrie- und Baubereich sowie einer hohen Exportquote.“ In der Sachgütererzeugung der Industrie und in der Bauwirtschaft werde „die Personalnachfrage vermutlich noch weiter zurückgehen“, man müsse sich auf weitere Arbeitsplatzverluste einstellen, hieß es seitens des Landes.
Viele offene Stellen
Doch hoch ist auch die Zahl der offenen Stellen. Der Wirtschaftsbund-Stellenmonitor – erfasst werden dort über ein Softwareprogramm österreichweit alle online ausgeschriebenen Stellen – hatte im Dezember 2024 für Vorarlberg exakt 7706 offene Stellen ausgewiesen. Am dringendsten gesucht werden laut diesem Ranking Arbeitskräfte in den für Vorarlbergs Industrie zentralen Bereichen, etwa in der Logistik, in der Elektrotechnik und Elektronik, im Maschinenbau. Ein Blick auf die Homepages Vorarlberger Unternehmen zeigt den Bedarf, ein Beispiel soll genügen: Doppelmayr weist allein für den Stammsitz in Wolfurt aktuell 49 offene Stellen aus.
Ungleichheiten
Tausende sind als arbeitslos vorgemerkt, und zeitgleich sind tausende Stellen offen? Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von einem sogenannten Mismatch am Arbeitsmarkt. Und davon, dass die Auswirkungen gravierend sind. Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Ronald Schettkat nennt die qualitative Passung von Nachfrage und Angebot eine „Voraussetzung für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung“. Er sagt: „Eine Qualifikationslücke kann das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft begrenzen.“ Landesrat Tittler sieht in diesem Mismatch „eine Herausforderung, aber zugleich auch eine Chance, bisher ungenutztes Potential zu heben.“
Die Deckungsungleichheit kann mehrere Gründe haben. Wenn sich Arbeitskräfte etwa nicht dort befinden, wo die Arbeitsplätze sind, und der Wille zu längeren Pendelzeiten oder zu einem Umzug fehlt. Wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufgrund mangelnder Informationen nicht zueinander finden. Oder wenn es, wie Ökonom David Stadelmann erklärt, „zu Verschiebungen zwischen Wirtschaftszweigen kommt, etwa von der Industrie hin zu Dienstleistungen“. Die Nicht-Passung am Arbeitsmarkt kann aber auch soziale Gründe haben, sagt die Wiener Sozialwissenschaftlerin Karin Steiner: „Wenn eine Mutter beispielsweise einen ganztätig ausgeschriebene Stelle nur deswegen nicht annehmen kann, weil die Kinderbetreuungseinrichtung bereits am Mittag schließt.“
Fehlende Qualifikationen
Doch die wohl maßgeblichste Ursache, warum es hohe Arbeitslosenzahlen bei gleichzeitig vielen offenen Stellen gibt, ist eine andere: Es fehlt den als arbeitslos Vorgemerkten schlichtweg vielfach an den von der Wirtschaft geforderten Qualifikationen. AMS-Daten belegen, dass sich die Nachfrage- und Angebotsprofile in diesem Punkt zu stark unterscheiden. In einer aktuellen Information zur Sache heißt es, dass „von der schwachen Konjunktur Personen ohne Ausbildungsabschluss besonders betroffen“ sind. 48,8 Prozent aller mit Jahresende als arbeitslos Vorgemerkten in Vorarlberg können demnach als höchste abgeschlossene Ausbildung maximal einen Pflichtschulabschluss vorweisen.
Bei 62,5 Prozent der Ende Dezember gemeldeten offenen Stellen wird jedoch eine Lehrausbildung oder eine höhere Qualifikation verlangt. Zu unterschiedlich sind also die von der Wirtschaft geforderten und die von den Arbeitsuchenden im Durchschnitt angebotenen Qualifikationen. Es ist eine Diskrepanz, die den Arbeitsmarkt in zwei Welten teilt. In einem Dossier finden Ökonomen der Bank Austria klare Worte: „Während ein Mangel an qualifizierten Facharbeitern der verschiedensten Sparten besteht, herrscht eine relativ große Auswahl an wenig qualifizierten Hilfskräften.“
Man widme sich aktiv der Abstimmung zwischen Qualifikationsangeboten und dem Marktbedarf, heißt es seitens des Landes. Landesrat Tittler sagt: „Wir setzen auf individuelle Beratung und passgenaue Weiterbildungsprogramme, um sicherzustellen, dass Umschulungen sowohl den Anforderungen der Unternehmen als auch den Kompetenzen der Fachkräfte entsprechen."
„Nicht besonders populär“
Dennoch: Ist die Annahme, man könne die vielen Arbeitslosen und die vielen offenen Stellen durch Qualifizierung der Arbeitsuchenden zur Deckung bringen, illusorisch? Ist das eine naive Vorstellung?
Karin Steiner, Geschäftsführerin des Analyse und Beratungsinstituts Abif in Wien, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Mismatch, hat dazu auch publiziert. Im Gespräch mit Thema Vorarlberg erklärt sie: „Was ich jetzt sage, ist nicht besonders populär, vor allem nicht unter Sozialwissenschaftlern: Aber es sind nicht alle, die einen Pflichtschulabschluss haben, auch in Richtung Lehre qualifizierbar.“ Warum? Weil es den Betreffenden sehr oft an den notwendigen, grundlegenden Ausgangsqualifikationen fehlt; etwa an Deutschkenntnissen oder an Basiskompetenzen. „Wir haben in der Gruppe der Arbeitsuchenden“, sagt Steiner, „einen hohen Anteil an funktionalem Analphabetismus.“ Man habe detto einen sehr hohen Anteil an Personen, die auch nach Besuch der Pflichtschule, nicht ausreichend lesen, schreiben, rechnen können: „Wie sollen die eine Lehre schaffen? Wie sollen die eine Lehrabschlussprüfung schaffen?“
Zumal viele mit heute maximal Pflichtschulabschluss ja bereits früher versucht hätten, eine Lehre zu machen, dann aber abbrachen, oder die Abschlussprüfung nicht schafften. Zudem dürfe man nicht außer Acht lassen, dass es „ausgesprochen anspruchsvolle“ Lehrberufe gibt, mit entsprechend schwierigen Abschlussprüfungen. Anderen Ausbildungen wiederum würden auch körperliche Beeinträchtigungen entgegenstehen. Und das heißt, auf Vorarlberg bezogen? „Dass man bei jenen 48,8 Prozent der Arbeitslosen, die maximal einen Pflichtschulabschluss vorweisen, nicht so einfach Aufschulungen machen kann.“ So müsse man zunächst schauen, ob der oder die Einzelne Fähigkeiten hätten, um sie dann in Facharbeiter-Intensivausbildungen bringen zu können, dort aber ist dann auch die Zeit ein Problem: „Denn da musst du als Erwachsener einen Lehrberuf in 14 Monaten erlernen; während Jugendliche dafür ja drei oder vier Jahre Zeit haben.“
Eine Frage der Bildung
Das aber heißt: Dass gute Bildung nicht früh genug ansetzen kann, damit derartige Probleme und deren vielfältige Folgen in ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht erst gar nicht entstehen. Bildung ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit; diese Erkenntnis ist Common Sense. Und da greift die eine Debatte in die nächste über: Ein gutes Schulsystem könnte von vornherein verhindern, dass ein qualitatives Mismatch in nennenswerter Dimension am Arbeitsmarkt überhaupt entsteht.
David Stadelmann, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, geht hier dennoch einen anderen Weg. Er sagt: „Viele fordern in solchen Fällen verstärkt mehr Qualifikation und Bildung, weil sie denken, Bildung kann nie schlecht sein. Das stimmt jedoch nur, wenn man denkt Bildungsmaßnahmen hätten keine Kosten.“ Das aber stimme nicht, und könne daher auch nicht die alleinige Lösung sein: „Arbeitskräfte können, sofern sie ausreichend willig sind, relativ einfach in Unternehmen ausgebildet werden. Das hat zwar Kosten, aber wenn die Mitarbeiter langfristig bleiben, sind diese Kosten für die Unternehmen weniger relevant.“
Verzerrte Anreize
Ein „oft unterschätzter Faktor“ ist laut Stadelmann auch „das Steuer- und Abgabensystem, das die Anreize zu arbeiten immer stärker verzerrt“. Der Volkswirtschaftler erklärt: „Man könnte annehmen, dass höhere Löhne tendenziell mehr Arbeitskräfte anziehen und auch Anreize zum Pendeln und Weiterbildung setzen. Doch gerade bei Fachkräften führt eine höhere Entlohnung dazu, dass bis zu 50 Prozent einer Lohnerhöhung aufgrund von Steuern und Abgaben wegfallen.“ Und genau das könne eben dazu führen, „dass trotz höherer Löhne Fachkräfte weniger bereit sind, weite Arbeitswege in Kauf zu nehmen, im Alter nochmals eine andere Qualifikation anzustreben oder gar den Industriezweig zu wechseln“. Ihm zufolge kann also das „Steuer- und Abgabensystem mit seiner hohen Grenzbesteuerung das Mismatch am Arbeitsmarkt verstärken“. Hier gelte es anzusetzen, hier müssten die Anreize verbessert und damit eine größere Arbeitsmarktflexibilität gefördert werden: „Wir schauen zu wenig auf die negativen Effekte des Steuer- und Abgabensystems in Österreich. Hier läge meines Erachtens mehr Potential als in noch mehr Bildung.“
Doch gibt es eben auch die andere Sichtweise. „Bildung“, sagt Landesrat Tittler, „ist der Schlüssel zu Wettbewerbsfähigkeit.“ Deshalb fördere das Land auch praxisnahe Weiterbildungsangebote, etwa jene am Digital Campus Vorarlberg, „die sich eng am Bedarf der Wirtschaft orientieren und Vorarlberg zukunftsfähig machen.“
Wirtschaftswissenschaftler Ronald Schettkat schreibt, dass Bildung und Qualifikation zu Recht einen sehr hohen Stellenwert in der wirtschaftspolitischen Debatte hätten: „Individuell wie volkswirtschaftlich lohnt sich Bildung, sie reduziert das Arbeitslosigkeitsrisiko, erhöht die Erwerbstätigkeit, führt zu höheren Einkommen.“ Und weil die Zukunft ungewiss sei, wisse niemand, welche spezifischen Fähigkeiten in Zukunft besonders gefragt sein werden. Doch gerade deshalb sind Schettkat zufolge Investitionen in eine breite Bildung besonders sinnvoll: „Denn Bildung führt zu weiterer Bildung, sie erleichtert den Zugang zu Neuem.“ Derweil warten die als arbeitslos Vorgemerkten auf einen neuen Job. Und die Unternehmen auf ihre dringend benötigten Fachkräfte. Und kaum etwas deutet darauf hin, dass sich diese beiden Welten je vereinen lassen.
*Bei Redaktionsschluss waren die Zahlen Jänner 2025 noch nicht veröffentlicht.
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