Thomas D. Trummer

Autorität ohne Autor

Dezember 2025

Von der Feder zur KI

Die flandrische Handschrift aus dem 15. Jahrhundert vermittelt mehr als eine bloße Sammlung medizinischer Texte. Zwei Kolumnen Text durchziehen das Pergament, am Beginn eine quadratische Illustration, figürlich und zugleich symbolisch, an den Rändern befinden sich florale Ranken, am Fuß Miniaturen, die merkwürdig kopiert und variiert werden, am rechten Rand Marginalien, die kommentierend, korrigierend und ergänzend wirken. Es ist eine Abschrift der Werke des Galen, des Leibarztes des römischen Kaisers Marc Aurel, deren Überlieferung über arabische und lateinische Übersetzungen – besonders durch Constantinus Africanus – in das westliche Christentum gelangte. An den Universitäten von Salerno, Bologna und Paris galt Galen nicht nur als medizinische Autorität. Seine Werke wurden zum Ausgangspunkt eines epistemischen Netzwerks, das über Jahrhunderte Gültigkeit beanspruchte, in dem Aristoteles, die Scholastik und theologische Überlegungen nebeneinander existierten. Über Kopien und Kommentare entstand ein lebendiges Geflecht: kumulativ, fragmentarisch und relational. Die Autorschaft ist zugleich gegenwärtig und unsichtbar. Die Stimmen vieler fließen ein, ohne dass einzelne Gelehrte sich je vollständig zeigen.
Wissen ist hier nicht linear. Es ist ein Gewebe aus Texten, Bildern, Kommentaren, in dem Rationalität und Interpretation, Fakten und Sprache, gesehenes und gedachtes Wissen untrennbar verwoben sind. Schon im Mittelalter war die Erzeugung von Wissen kein bloßer Akt des Sammelns, sondern ein Prozess der Übersetzung, der Veränderung, der Übertragung und Färbung. Information verwandelt sich in Sinn, Sinn durchdringt Interpretation. Auch die Miniaturen, die unseren Blick fangen, sind mehr als nur Bilder und Schmuck. Sie sind Werkzeuge des Verstehens: sie vermitteln, markieren, rahmen und rhythmisieren den Fluss des Lesens, machen sichtbar, was am Rand, implizit oder abstrakt ist. Jede Seite dieses Pergaments ließe sich deshalb als Hypertext lesen, ein vernetztes Geflecht aus optischen und sprachlichen Elementen, das Wissen generiert, ohne sich auf ein Original, einen letzten, unumstößlichen Ursprung, zurückführen zu lassen.
Heute begegnet uns eine ähnliche Logik bei der KI. Klare Autorschaft fehlt, und doch wird die Maschine zur Autorität. Sie sammelt Stimmen, Deutungen und Daten, verwebt sie, kombiniert und extrapoliert. Sie kennt die Quellen nur als Parameter, nicht als Namen. Autorität gewinnt sie aus Mustern, nicht aus gelebter Gültigkeit. Ihr Wissen schafft eine Ordnung, ohne dass ein Mensch die Richtigkeit bestätigt. Wie in der Handschrift sind die Elemente fragmentarisch, aufeinander bezogen und aufeinander aufgebaut. Und besonders wichtig: Anders als die Marginalien auf Pergament bleiben die algorithmischen „Randbemerkungen“ unsichtbar, sie sind versteckt und kodiert, aber wirksam. Sie ordnen, strukturieren und erzeugen eine Kohärenz, die wir als Autorität wahrnehmen, ohne ihren Ursprung vollständig zu erkennen.
Die Parallele ist frappierend. Pergament und Pixel, Feder und Algorithmus, florale Ranken und digitale Codes, Skriptorium und Silicon Valley – beide schaffen Räume, in denen Wissen entsteht, nicht einfach gegeben wird. Galen selbst, als Ausgangspunkt, wird fortgeschrieben: seine Konzepte, seine Logik, seine Fragen leben im Netzwerk der Kommentare weiter. Die KI tut ähnliches auf neue Weise. Sie greift auf ein Reservoir von Stimmen zurück, verschiebt, kombiniert, ergänzt. Wissen wird so zu einem Netz, das erst in der Nutzung, in der Rezeption und Deutung Gestalt annimmt.
Doch diese faszinierende Logik birgt Risiken. Sie erweist sich deutlich im Blick auf die Vergangenheit und die Geschichte der Urheberschaft. Denn mittelalterliche Gelehrte nahmen die Autorität überlieferter Texte oft als unumstößlich, sie verlangten Kommentar, aber selten Widerspruch, sie hemmten Eigenständigkeit und Neuerung. Erst im 15. Jahrhundert begann die Quellenkritik, die Autorität relativierte und kritische und wissenschaftliche Verfahren ermöglichte. Heute provoziert die KI ein ähnliches Paradox. Sie verführt zur unkritischen Akzeptanz, erzeugt Autorität ohne Verantwortung, ihre scheinbare Ordnung unterhöhlt die Fähigkeit zur kritischen Distanz.
Hier liegt das eigentliche Problem: Autorität, wenn sie vom Menschen entkoppelt wird, kann entmenschlichen, Urteilskraft und Eigenverantwortung aussetzen. Sie kann verführen, manipuliert oder zensiert werden und so zu weitreichender Entmündigung und politischer Passivität führen. Auch im Mittelalter herrschte oft eine Form der Hörigkeit, eine Tendenz zum Gehorsam gegenüber dem Überlieferten. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung für die Gegenwart: das eigene Verhältnis zu Wissen immer wieder neu zu überdenken. Die Handschrift zeigt, dass Autorität relational, fragmentarisch und interpretativ ist. Die KI verdeutlicht, dass diese Dynamik über menschliche Autorschaft hinaus wirken kann – anonym, algorithmisch, allgegenwärtig und zugleich zerbrechlich. Sie ersetzt kein Urteil, sie fordert es heraus. Wir müssen prüfen, hinterfragen, abwägen, stets aktiv, reflektiert und verantwortungsvoll.
Vielleicht entscheidet sich hier, ob wir in der maschinellen Stimme nur neue Autorität erkennen oder ob wir sie zum Anlass nehmen, unser eigenes Denken, Prüfen und Urteilen umso sorgfältiger zu üben. Wissen wächst an den Knotenpunkten von Stimmen, Kommentaren und Codes. Es lebt erst dort, wo es gelesen, geprüft, verstanden und hinterfragt wird. Wir sind nicht bloße Konsumenten von Autorität, nicht nur Rezipienten von Bits und Pixeln, sondern Mitwirkende im fortwährenden Prozess der Erkenntnis. Jeder Blick auf das Pergament, jeder Blick auf den Bildschirm ist zugleich ein Akt der Rezeption und ein Akt der Verantwortung. Wissen ist kein Eigentum. Wissen ist Bewegung, Verantwortung, Teilhabe, besonders im Zeitalter seiner stochastischen Entkörperlichung.

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