J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Die Bäume schlagen aus – aber doch nicht im Mai?!

Mai 2021

Der Mai ist gekommen, und alles grünt und blüht. Auch gefährliche Pflanzen lauern arglosen Menschen auf. Die Sprossen schießen, und vor allem: Hinterlistige Bäume schlagen – wie im Lied besungen – aus. Natürlich nur im übertragenen Sinn: Sie treiben aus und sorgen für einen frühjährlichen Wachstumsschub. Aber irgendwie scheint der Liedtext nicht mehr so richtig zu passen: Im Mai ist der Frühling bereits weit fortgeschritten, und die Temperaturen nähern sich frühsommerlichen Dimensionen. Bei gar nicht wenigen Baum­arten hat der Austrieb schon im April eingesetzt. Ihr Ergrünen ist längst kein Charakteristikum des Mais mehr.
Auch ein weiterer Text der Weltliteratur wirft Fragen auf: „Vom Eise befreyt sind Strom und Bäche, | Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, | Im Thale grünet Hoffnungs-Glück; | Der alte Winter, in seiner Schwäche, | Zog sich in rauhe Berge zurück. | Von dorther sendet er, fliehend, nur | Ohnmächtige Schauer körnigen Eises | In Streifen über die grünende Flur; | Aber die Sonne duldet kein Weißes“ ließ Goethe seinen Heinrich Faust beim Osterspaziergang sinnieren. Ostertermin ist der Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühjahr. Der Frühlingsbeginn wurde mit 21. März festgelegt. Damit ist der 22. März der erste mögliche Ostersonntag, und der letzte ist der 25. April. Wieder werden wir stutzig: Selbst Ende März sind in den Tallagen kaum mehr vereiste Bäche zu erwarten, und im April sind sie mit Sicherheit bis in den Spätherbst passé. Nur die „Ohnmächtigen Schauer körnigen Eises“ gepaart mit Morgenfrost konnten wir heuer im April noch erleben.
Die Anachronismen werden klarer, wenn wir die Entstehungszeiten der beiden Texte betrachten: Emanuel Geibel schrieb sein Frühlingsgedicht im Jahr 1841. Goethes Faust entstand sogar noch etwas früher, zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Damit fallen beide Texte in eine Klimaperiode, die als „Kleine Eiszeit“ bekannt ist. Unter diesem Begriff fasst die Meteorologie jenen Zeitraum zwischen Anfang des 15. Jahrhunderts und 1850 zusammen, der durch ein kühleres Klima geprägt war. Die Abkühlung fiel in den einzelnen Weltgegenden sehr unterschiedlich aus. Nur vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts lässt sich die kühlere Phase über den ganzen Globus belegen. Damals waren sehr kalte und lange andauernde Winter gepaart mit niederschlagsreichen, kühlen Sommern keine Seltenheit. Zum ersten Mal seit Ende der Würm-Eiszeit drangen Mitte des 17. Jahrhunderts die Alpengletscher wieder vor und bedrohten Gehöfte und Dörfer. Chronisten berichten von Bittprozessionen, welche die Eismassen durch Gebet und Weihwasser stoppen sollten. Bei einem weiteren Vorstoß im 19. Jahrhundert hatten die Gletscher 1850 ihren letzten Höchststand erreicht: Seit damals zieht sich das Eis wieder zurück, und die Endmoränen von 1850 dienen uns heute als Bezugspunkt für die Ermittlung des Gletscherschwundes.
Es ist gar nicht so leicht, die Kleine Eiszeit in den einzelnen Regionen zeitlich und in ihren Auswirkungen zu fassen. Wir sind auf indirekte Klimazeiger angewiesen. Der am weitesten zurückreichende Klimakalender basiert auf der Kirschblüte in Japan: Seit 812 wird ihr Einsetzen jährlich notiert. In Europa hingegen begann man erst spät, Blühtermine oder gar harte Wetterdaten wissenschaftlich zu dokumentieren. Zeitgenössische Berichte müssen von schmückendem Beiwerk befreit werden. Oft sind es Klagen über kältebedingte Ernteausfälle und Hungersnöte, die uns ein Bild vom vergangenen Klima zeichnen. Neben der Literatur liefern Gemälde niederländischer Meister des 16. und 17. Jahrhunderts interessante Details: Damals konnte man auf den zugefrorenen Kanälen wohl regelmäßig eislaufen, während dies im 20. Jahrhundert nur noch gelegentlich möglich war. Weit aussagekräftiger sind wissenschaftliche Methoden, die Einblick in eine längere Zeitspanne gewähren: Aus den Sauerstoffisotopen in Eisbohrkernen lassen sich langfristige Temperaturschwankungen ablesen. Auch die Gehäuse einzelliger Lebewesen, die aus Meeresablagerungen horizontiert entnommen wurden, ermöglichen es – ebenfalls über Isotopenanalysen – Temperaturzeitreihen aufstellen. In jüngster Zeit dienen Höhlensedimente demselben Zweck.
Über die Ursachen der Kleinen Eiszeit können wir nur spekulieren: Gesteigerte vulkanische Aktivität wird an erster Stelle genannt. Das ausgestoßene Schwefeldioxid wandelt sich in der höheren Atmosphäre zu Schwefelsäure. Diese kann – gemeinsam mit Staub und Asche – noch jahrelang die Sonneneinstrahlung vermindern. Auch die Sonnenaktivität selbst ändert sich im Laufe der Zeit. Und nicht zuletzt ist der Umlauf der Erde um die Sonne langfristigen Schwankungen unterworfen. So ist die Erdachse nicht stabil, sie „taumelt“ mit einer Periode von 26.000 Jahren um eine errechnete ideale Achse. Diese wiederum ändert in einem Zyklus von etwa 41.000 Jahren ihre Neigung relativ zur Erdbahnebene. Beides führt zu Schwankungen der die Erde erreichenden Sonnenenergie. Auch die Wiederbewaldung als Folge von Bevölkerungsrückgang wird als Auslöser diskutiert: Pestepidemien sollen die Menschheit derart dezimiert haben, dass der Wald sich massiv ausdehnen und damit der Atmosphäre das Treibhausgas Kohlendioxid entziehen konnte. Es wäre naiv, einen einzigen Prozess als alleinigen Auslöser der Kleinen Eiszeit nominieren zu wollen. Aber in ihrer Kombination waren sie stark genug, den langfristigen Temperaturrückgang zu verursachen.
Die Kleine Eiszeit ist Geschichte. Seit 1850 ziehen sich die Gletscher zurück, und die Klimaerwärmung der letzten Jahrzehnte ist evident. Nie und nimmer führen uns die Kälteeskapaden des vergangenen Monats zu Bedingungen wie zu Goethes Zeiten zurück. Damals waren Schneeschauer im April kein Problem, da ja die Bäume im Mai erst ergrünten. Aber nach Hitzetagen im März, wie wir sie heute kennen, kann ein später Frost im April die bereits austreibenden Bäume nachhaltig schädigen.

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