J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Die Fliegenwelt zwischen Klimawandel und mangelnder Dokumentation

November 2022

Die organismische Biologie befindet sich in der Krise. Im Einklang mit dem Schwund der Biodiversität schwindet die Zahl der Fachleute, welche die Lebewesen um uns dokumentieren und auf deren Rückgang aufmerksam machen könnten. Während Naturschutz­organisationen sich auf wenige, prestigeträchtige Großsäuger konzentrieren, fristen manche Insektengruppen in der Wissenschaft ein Schattendasein. In der Bevölkerung werden sie allenfalls als Lästlinge wahrgenommen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Zweiflügler, die Dipteren. Unter diesem Überbegriff werden in der zoologischen Systematik die Fliegen und Mücken zusammengefasst. Wie so oft, gilt auch hier: Was leicht bestimmbar und attraktiv ist, wird erforscht. So sind die Schwebfliegen im Lande vergleichsweise gut dokumentiert. Ähnliches gilt für Bremsen und Schnaken. Stechmücken wiederum fungieren als potentielle Überträger von Krankheiten, und ihre Beobachtung rangiert an der Schnittstelle zwischen Biologie und Medizin. Über die restlichen Zweiflügler in Vorarlberg ist aber so gut wie nichts bekannt. Lediglich über großwüchsige und damit gut bestimmbare Arten gibt es eine einzige systematische Erhebung: Der Berliner Ornithologe und Insektenhändler (ja, so etwas gab es damals!) Alexander Bau hatte sich 1896 auf der Ruggburg bei Eichenberg niedergelassen. Im Jahr 1909 veröffentlichte er ein Verzeichnis von beachtlichen 710 „sicher determinierten“ Arten, von denen nach Synonymisierungen immerhin 666 Taxa übriggeblieben sind. Sein Aktionsradius beschränkte sich dabei auf rund 2,5 Kilometer rund um seinen Wohnsitz in der Höhenstufe zwischen 600 und 900 Metern über dem Meer. Erst 111 Jahre später wurden – mit Ausnahme der eingangs erwähnten Familien – wieder Streufunde zur Fliegen- und Mückenwelt Vorarlbergs veröffentlicht. Mit dem Nebeneffekt, dass sogar ein Massenvorkommen als Landeserstfund deklariert werden kann. Aber von einem umfassenden Inventar aller in Vor­arlberg lebenden Fliegen- und Mückenarten sind wir meilenweit entfernt. Und sehr wahrscheinlich wird es ein solches nie geben: Bei manchen kleinwüchsigen Tieren sind selbst Spezialisten schon froh, wenn sie die Tiere auf Gattungs- oder gar nur auf Familienniveau korrekt einordnen können.
Eine Art, die Alexander Bau aus gutem Grund unbekannt war, ist die Abortfliege Clogmia albipunctata aus der Familie der Schmetterlingsmücken. Diese wärmeliebende Art ist nahezu weltweit verbreitet. Ihre ursprüngliche Heimat, aus der sie durch den Menschen verschleppt worden ist, ist nicht bekannt. Lange Zeit galt der 42. Breitengrad (etwa auf Höhe Rom) als die „unüberwindbare“ Nordgrenze ihrer Verbreitung. Damit war sie in Europa auf die Mittelmeerländer beschränkt. Doch der Klimawandel ermöglichte ihr die Ausbreitung nach Norden. Nach einer weder durch Belegmaterial noch durch Fotos dokumentierten und damit unbestätigten Beobachtung könnte sie bereits im Mai 1971 in Niederbayern in Massen aufgetreten sein. Der erste gesicherte Nachweis in Deutschland erfolgte 1993 in einer Abwasseranlage in Berlin. Aber erst ab den 2000er-Jahren wird Clogmia albipunctata häufiger nachgewiesen. Wann die Abortfliege in Österreich ankam, liegt im Dunkeln. Der Mangel an Fachleuten, aber auch mangelndes Verständnis für die Bedeutung der Neozoen führte dazu, dass frühe Funde nicht in den Biodiversitäts-Datenbanken dokumentiert wurden. In Vor­arlberg wurde sie erstmals 2009 nachgewiesen. Seit 2018 finden regelmäßig Beobachtungen Eingang in die Datenbank der inatura. Clogmia albipunctata ist die einzige Art der Schmetterlingsmücken, die auch nach Fotos bestimmt werden kann: Mit einer Flügelspannweite von sechs Millimeter ist sie vergleichsweise groß. Die dicht behaarten Flügel zeigen zwei dunkle Punkte nahe ihrer Basis und acht bis neun kleine weiße Flecken am Flügelrand sowie eine v-förmige weiße Zeichnung in der Flügelmitte. Auch wenn der Klimawandel ihre Ausbreitung begünstigt hat, ist Clogmia albipunctata hierzulande auf den Menschen angewiesen. Die deutsche Bezeichnung Abort­fliege verrät, wo sie am häufigsten anzutreffen ist: Wie bei so vielen Zweiflüglern ernähren sich die Larven von verrottendem organischen Material. Ist dieses bereits vorverdaut, so ist dies den Tieren nur recht. Bei den Schmetterlingsmücken sind es die Biofilme im Abwassersystem, die von den im Wasser lebenden Larven abgeweidet werden. In Sanitäranlagen, die nur selten benutzt werden, können sie sich ungestört entwickeln. Die adulten Tiere sind für den Menschen ungefährlich, können aber in Krankenhäusern Keime verschleppen.
Auch der Wadenstecher Stomoxys calcitrans fehlt in der Auflistung von Alexander Bau, und wir wundern uns, warum. Denn diese typische Stallfliege ist eine der wenigen echten Fliegen, die sich von Blut ernähren. Sie bevorzugt tierisches Blut, verschont aber auch uns Menschen nicht. Obwohl Alexander Bau selbst einen Viehbestand hat, hatte er diese Fliegenart in seinem Stall offenbar übersehen – und das, obwohl sich der Wadenstecher durch seinen auch mit freiem Auge erkennbaren Stechrüssel deutlich von ähnlich aussehenden Fliegenarten unterschiedet. Anders als bei Bremsen und Stechmücken stechen hier beide Geschlechter. Der Saugvorgang dauert in der Regel acht bis neun Minuten. Wie der Populärname nahelegt, bevorzugen die Fliegen dabei die Beine der Opfer – wohl in erster Linie, weil sie dort vor den Schwänzen der Kühe geschützt sind. Beim Menschen lassen sie sich auch durch Socken nicht abhalten. Nach drei bis vier Blutmahlzeiten binnen einer Woche legen die Weibchen 600 bis 800 Eier an Kot und Mist. Gleich wie manche Mücken, kann auch Stomoxys calcitrans Krankheitserreger übertragen. Weil aber der Mensch nur untergeordnet zum Blutspender auserkoren wird, spielt der Wadenstecher in der Humanmedizin keine bedeutende Rolle.

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