J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Die Verwandlung

Juni 2016

Es war ein komisches Ding, das da am Weg neben dem Teich lag: Mehr als fünf Zentimeter lang, braun-grau und glänzend, spindelförmig sich nach hinten mehr, nach vorne aber nur gering verjüngend. Elf Segmente besaß es, und am Vorderende war ein kleines Etwas, das nur mit Fantasie als Kopf bezeichnet werden konnte. Und das Ding hatte keine Beine.

Erinnerungen an ein frühes Computerspiel kamen hoch, in dem Dreilappkrebse als Raumschiffe herhalten mussten, und Armkiemer Bomben warfen. Unter all den Fossilien wäre dieses sehr lebendige Ding nicht aufgefallen. Irgendein Egel, war der nächste Gedanke. Pferdeegel verlassen manchmal das Wasser. Doch sie sind rund, nicht bauchseitig abgeplattet, und vor allem: Sie sind nicht segmentiert. Die Segmentierung wiederum würde zu den Larven mancher Laufkäfer passen, doch diese besitzen – gleich wie das geschlechtsreife Tier – Beine und sind manchmal recht schnell unterwegs. Denn Laufkäfer (und damit auch ihre Larven) ernähren sich räuberisch. Auch die weiteren Einordnungsversuche blieben vorerst erfolglos. Das Lebewesen (denn ein solches war das „Ding“) passte einfach in keine der bekannten Tiergruppen.
Das Stichwort „Larve“ wies den richtigen Weg. Wir Menschen neigen dazu, nur das ausgewachsene Insekt als vollwertiges Tier wahrzunehmen. Frühere Entwicklungsstufen vom Ei über Larve und Puppe erscheinen uns als unfertige Zwischenstufen in der Reifung zum vollendeten Lebewesen. Das Wunder, wie aus einer winzigen Eizelle neues Leben entsteht, bleibt beim Menschen im Mutterleib verborgen und geschützt. Bei den Insekten aber fehlen Geborgenheit und Schutz. Instinktiv legt das befruchtete Weibchen seine Eier dort, wo der Nachwuchs die passenden Lebensbedingungen findet. Doch damit ist seine Arbeit getan. Ab der Eiablage ist die Nachkommenschaft auf sich allein gestellt. Von manchmal Hunderten Eiern reifen nur wenige zur geschlechtsreifen Imago heran. Sie werden vom Regen weggespült, vertrocknen oder dienen anderen Lebewesen als Nahrung. Nicht nur Vögel freuen sich über Raupen als nahrhaftes Futter.

Hat es das „erwachsene“ Insekt aber geschafft, so kann es auf eine wechselvolle „Kindheit“ zurückblicken. Mehr als drei Viertel aller bekannten Insekten durchlaufen eine vollständige Metamorphose. Larve, Puppe und Imago sehen dabei völlig unterschiedlich aus. Gar nicht wenige Insekten verbringen den größten Teil ihres Lebens – oft mehrere Jahre – als Larve. In diesem Stadium wächst das Tier, und es speichert Energie für die nachfolgende Verwandlung. Während der Puppenruhe nimmt es keine Nahrung zu sich. Es wird komplett umgebaut, und die unförmige Raupe wird zum anmutigen Falter. Als Endstadium der komplexen Entwicklung kann die Imago nicht mehr wachsen. Ihre Aufgabe ist einzig die Fortpflanzung.

Das Lebewesen vom Weg neben dem Teich war also als Insektenlarve entlarvt. Damit war der Kreis der Verdächtigen schon stark eingeengt. Schmetterlinge und Käfer kamen nicht in Frage: Deren Larven besitzen immer zumindest Stummelfüße. An staatenbildende Insekten wie Bienen und Ameisen war schon gar nicht zu denken. Aber eine Tiergruppe, die wir meist nur als lästig empfinden, bildet beinlose Larven, und nicht wenige von ihnen entwickeln sich im Wasser. Trotz seiner Größe war das Ding das Jugendstadium eines Zweiflüglers aus der Familie der Waffenfliegen, im Englischen Soldatenfliegen genannt.
Trotz ihres martialischen Namens sind Waffenfliegen völlig harmlos und interessieren sich nicht im Geringsten für Säugetiere. Pollen und Nektar sind ihre Nahrung. Die auffallende Färbung der größeren Arten erinnerte frühere Naturforscher an die einst gar nicht so unscheinbaren Uniformen der Soldaten. Und die Dornen, die viele Arten am Ende des Brustbereichs tragen, dienen keinesfalls als Waffen – auch wenn sie uns als solche erscheinen. Die Familie beinhaltet weltweit mehr als 2700 Arten in über 380 Gattungen. So unterschiedlich wie ihr Aussehen ist auch ihre Lebensweise.

Zur Gattung Stratiomys gehören auffallende Fliegenarten. Ihr meist schwarz-gelb gemusterter Hinterleib ist breit abgeplattet und wirkt kantig. Anders als die großen Larven vermuten lassen, werden die geschlechtsreifen Imagines nur rund 15 Millimeter groß. Ans Wasser kommen sie zur Fortpflanzung und legen ihre Eier in den feuchten Schlamm am Ufer. Die Larven entwickeln sich im Wasser. Ohne Kiemen sind sie auf Luftsauerstoff angewiesen. An ihrem Hinterleibsende mündet eine Atemröhre in einer paarigen Öffnung. Sie ist von einem Kranz von unbenetzbaren Härchen umgeben. Dank ihnen und der Oberflächenspannung des Wassers schwebt die Larve direkt unter dem Wasserspiegel. Die Atemröhre bleibt so mit der Luft verbunden. Bei Gefahr legt sich der Haarkranz zusammen und die Larve sinkt ab. Sie ernährt sich vom Aufwuchs an Steinen und Pflanzen. Die Stratiomys-Arten überwintern als Larve. Im Frühjahr erfolgt die Verpuppung innerhalb der letzten Larvenhaut, die sich verhärtet. Manchmal geschieht dies horizontal auf der Wasseroberfläche, in anderen Fällen verlässt die Larve dazu den Teich. Und eine hat sich dabei auf den Radweg verirrt …

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