J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Die Wildnis vor unserer Haustüre

Februar 2023

Zoologische Forschungsprojekte sind im Normalfall einer einzigen Tiergruppe gewidmet. Wie diese Tiergruppe definiert wird, hängt von der Zielsetzung des Projekts ab, und diese ist vom Spezialisierungsgrad und den Vorlieben des Forschers geprägt. Mit mehr als 2500 in Vorarlberg nachgewiesenen Arten sind die Schmetterlinge zwar keine kleine Gruppe, aber durchaus noch überschaubar. Gleichzeitig ist es möglich, dass eine Studie lediglich einer einzigen Gattung gewidmet ist, die bis ins letzte Detail untersucht wird. Bei den Schlupfwespen wiederum ist es völlig unmöglich, das gesamte Artenspektrum zu erfassen. Und bei manchen Mücken sind selbst Fachleute froh, ein Tier auch nur einer bestimmten Familie korrekt zuordnen zu können.
Erst bei der Interpretation der Funde kommt der Lebensraum ins Spiel – manche Arten sind speziell an ihr Umfeld angepasst. Spannend wird es daher, wenn ein geographisch eng und ökologisch sinnvoll begrenztes Gebiet als Ausgangspunkt der Forschungsarbeiten gewählt wird. Was kommt in diesem Gebiet vor? Welche Rückschlüsse können aus dem erhobenen Artenbestand gezogen werden? Und wie interagieren die einzelnen Arten beziehungsweise Artengruppen untereinander? Wäre eine einzige Person gezwungen, hier umfassende Antworten liefern zu müssen, so wäre er oder sie hoffnungslos überfordert. Doch in der Gruppe kann ein stimmiges Gesamtbild über das Gebiet erarbeitet werden. Genau diesen Ansatz verfolgte ein Forschungsprojekt, das bereits vor einigen Jahren das Samina- und Galinatal im Grenzbereich von Vorarlberg und Liechtenstein genauer unter die Lupe genommen hat. Ergebnisse daraus sind kurz vor Jahresende 2022 in einem Sonderband der Botanisch-Zoologischen Gesellschaft Liechtenstein-Sarganserland-Werdenberg in Zusammenarbeit mit der inatura veröffentlicht worden.
Für die Wahl dieses Untersuchungsgebiets waren mehrere Aspekte ausschlaggebend. Dass sich das Saminatal grenzüberschreitend von Liechtenstein nach Vorarlberg erstreckt, ist zwar ökologisch irrelevant, eröffnete aber neue Möglichkeiten zur Finanzierung dieser internationalen Forschungs-Kooperation. Viel wichtiger hingegen sind andere Grenzen. Eine davon ist der Rhein. Aus geographischer Sicht teilt er die Alpen in eine Ost- und eine Westhälfte. Gleichzeitig verläuft hier eine Faunengrenze. Manche westliche Tierart hat am Alpenrhein die Ostgrenze ihres natürlichen Verbreitungsgebiets erreicht. Und selbst wenn sie den Fluss überschreiten konnte, ist spätestens mit dem Arlberg und der Bielerhöhe ein unüberwindbares Hindernis erreicht. Umgekehrt sind östliche Arten in Vorarlberg gerade noch anzutreffen, fehlen aber westlich des Rheines. Damit sind im Untersuchungsgebiet Mischformen aus beiden Faunenprovinzen zu erwarten. Eine geologische Grenze hingegen verläuft quer durch das Tal. Als westalpine Elemente werden Gesteine bezeichnet, die auf dem europäischen Kontinent entstanden sind. Sie wurden während der alpidischen Gebirgsbildung von den „afrikanischen“ Gesteinen des Ostalpins überfahren. Dies sorgt immer wieder für Verwirrung: Obwohl geographisch bereits zu den Ostalpen gehörend, zählt der Norden Vorarlbergs geologisch zum Westalpin! Die Grenze wird im Saminatal im Gegensatz zwischen den schroffen Felsen der ostalpinen Kalk­alpen und der sanfteren Landschaft der westalpinen Flyschzone augenscheinlich. In Kombination von geologischen Landformen mit den mikroklimatischen Eigenheiten der beiden Täler entstanden eng begrenzte Lebensräume, die – jeder für sich – eine eigene Lebenswelt aufweisen.
Doch all diese sichtbaren Grenzen wären nichts ohne eine nur indirekt sichtbare, eine zeitliche Grenze: Aufgrund ihrer Steilheit waren das Samina- und Galinatal nie für die Landwirtschaft geeignet, und auch der Forstwirtschaft waren enge Grenzen gesetzt. Beide Täler sind kaum erschlossen: Lediglich ein Wanderweg am Gebirgskamm sowie ein Forstweg am Talgrund machen das Saminatal leidlich zugänglich. Damit wurde bereits vor Jahrzehnten jede land- und forstwirtschaftliche Nutzung aufgegeben und das Gebiet weitgehend sich selbst überlassen. Heute zeigen die Täler einen Wildnis-Charakter, wie er in unserer übererschlossenen und übergenutzten Landschaft selten geworden ist.
Ihre relative Abgeschiedenheit macht die beiden Täler zu einem bevorzugten Rückzugsort für verschiedenste ruhebedürftige, hinsichtlich Fläche und Lebensraumqualitäten anspruchsvolle Vertreter der heimischen Fauna. Der hohe ökologische Wert des Gebiets wurde beiderseits der politischen Grenze als schutzwürdiges Gut erkannt. In Liechtenstein, wo im Saminatal seit fast 100 Jahren keine Waldnutzung mehr stattfindet, wurden vor 22 Jahren große Flächen als Waldreservat ausgewiesen. Und in Vorarlberg stehen die Spirkenwälder als Natura-2000-Gebiet unter Schutz. All das prädestiniert diesen Naturraum zum Modellgebiet für Flächen ungestörter Naturentwicklung und für Wildnis. Was bisher fehlte, war eine Bestandsaufnahme seiner tierischen Bewohner. Ein vollständiges Inventar kann freilich auch die nun vorliegende Naturmonographie nicht bieten. Für manche Tiergruppen standen schlicht keine Fachleute zur Verfügung, und manche Lebensräume konnten aufgrund ihrer Unzugänglichkeit nicht mit vertretbarem zeitlichen und körperlichen Aufwand beprobt werden. Und dennoch bestätigt diese Bestandsaufnahme, dass die Rückführung in ein Wildnisgebiet eine ökologische Bereicherung für unsere beiden Länder darstellt.

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