J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Ein „herziger“ Falter

Juni 2020

Am Anfang erschien es als eine reine Routineanfrage: „Wir haben in unserem Garten diesen besonderen, schönen Schmetterling gefunden. Wir haben sowas noch nie gesehen, wisst ihr was das für ein Schmetterling ist?“ Alles schien einfach, aber in keiner der konsultierten Bestimmungshilfen war ein vergleichbarer Falter abgebildet. Bei einer großen Schmetterlingsfamilie mit vielen, auf den ersten Blick ähnlichen Arten wäre dies kaum verwunderlich gewesen: Manche Arten können sehr unterschiedlich gezeichnet sein, und man braucht einige Erfahrung, all die Farb- und Zeichnungsvarianten ein und derselben Art zuordnen zu können. Aber bei einem Schwärmer, einem Vertreter einer Familie, in der die Falter wenig Variationen zeigen …? Da sollte das Tier mit den markanten Herzen auf den Vorderflügeln doch leicht zu bestimmen sein!

Auch bei der Bestimmung von Schmetterlingen lohnt es sich manchmal, das „Kleingedruckte“ zu lesen bzw. auf einer Internetseite etwas weiter hinunter zu scrollen. Dass es sich um einen Schwärmer handeln musste, war klar: Es gibt bei uns keine anderen Falter von vergleichbarer Größe mit einem ähnlich voluminösen Körper. Blendet man die Herzen als zwar auffallendes, aber letztendlich doch ungewöhnliches Zeichnungselement aus und konzentriert sich auf die anderen Bereiche der Flügel sowie die Behaarung des Kopfes, so bleibt eine einzige ähnliche Art übrig: Der Lindenschwärmer (Mimas tiliae). Aber sollte der nicht anstelle der Herzen ein breites, gewelltes, dunkles Band zeigen? Ja, sollte er! Doch Falter kennen keine Lehrbücher, und so gibt es Tiere, die von der Norm abweichen. Sie weichen so stark ab, dass man dies nicht mehr als natürliche Variationsbreite erklären kann. Er war also tatsächlich ein Lindenschwärmer, aber eben eine jener auffallend abweichenden „Launen der Natur“. Aberrationen werden solche Tiere genannt, die so überhaupt nicht dem Standardaussehen der Art entsprechen.
Schmetterlinge sind erstaunliche Tiere: Sie durchwandern eine vollständige Metamorphose, eine Verwandlung von der Raupe über die Puppe bis hin zum geschlechtsreifen Falter. Das Tier wird dabei vollständig umgewandelt – weder in seiner Form noch seiner Farbe ähnelt ein Falter seiner Raupe. Flügel beispielsweise sind im Raupenstadium nur als genetisches Programm vorhanden, das erst im Puppenstadium aktiviert wird. Die Raupe hat auch keinen Saugrüssel, mit dem sie Nektar schlürfen könnte. Den benötigt erst der flugfähige Falter. Das Puppenstadium ist das kritischste Stadium im Leben eines Schmetterlings. Denn nun werden sämtliche Raupenorgane abgebaut und zu Falterorganen umgebildet – ein komplexer Vorgang, der möglichst ohne jede Störung ablaufen sollte. Darum sind Schmetterlingspuppen durch eine harte Außenhaut geschützt, darum sind sie im Boden vergraben oder verstecken sich im selbstgebauten Kokon. Ähnlich wichtig wie der Schutz vor Fressfeinden sind konstante Umweltbedingungen: Temperatur und Feuchtigkeit sollten nur gering schwanken. Wie sich Störungen auswirken, konnten Schmetterlingsfreunde einst als unerwünschte Begleiterscheinungen bei der Zucht beobachten.

Heute ist die Zucht nur noch in wissenschaftlichen Kreisen üblich. Sie kommt dann zum Einsatz, wenn eine unbekannte, merkmalsarme Raupe einer konkreten Art zugeordnet werden soll. Schmetterlinge zu züchten, um besonders frische Exemplare für die eigene Sammlung zu erlangen, ist hingegen unter ernsthaften Schmetterlingsforschern zu Recht verpönt (und in Vorarlberg verboten). Einst aber waren vor allem Arten, die als Raupe überwintern, beliebte Zucht- und damit auch Studienobjekte. Irgendwie wollte man ja die falterfreie Zeit überbrücken. Und um sicherzustellen, dass sich die Raupen bereits vor dem Schwinden der Futtervorräte verpuppen und die Falter auch wirklich vor Beginn der nächsten Geländesaison schlüpfen, versuchte man, die Entwicklungsdauer der Tiere abzukürzen und die Falter vorzeitig zur Entwicklung zu bringen. Treibzucht hieß das Zauberwort. Aber nicht immer lieferte die Treibzucht den gewünschten Erfolg – schließlich ist Ausschaltung der Winterruhe in der Natur nicht vorgesehen. Zu starke Schwankungen der Temperatur führten (wenn nicht gleich zum völligen Absterben der Tiere) gelegentlich zu aberrant gefärbten Faltern – und unser „herziger“ Lindenschwärmer findet sein Gegenstück in einem Sammlungsexemplar aus einer Treibzucht im Winter 1961/62. Abseits der Zuchtbedingungen werden neben ungewöhnlich hohen Temperaturen auch starke Wetterschwankungen, Kälteschocks, plötzlicher starker Lichteinfall, Erschütterungen, und sogar laute Geräusche als mögliche Auslöser für Aberrationen genannt. Manche Farbvarianten sind vererbbar – sie werden jedes Jahr aufs Neue unter den Tieren einer Population beobachtet.

Wenn nun ab Juni die Linden zu blühen beginnen, sollte es doch möglich sein, selbst solch einen aberranten Lindenschwärmer zu beobachten – sollte man meinen. Weit gefehlt. Sind Linden auch bei Imkern beliebte Bienenweiden, so ist dies für den Lindenschwärmer belanglos. Ihr Nektar interessiert ihn nicht. Sein Saugrüssel ist völlig verkümmert, und der Falter kann keine Nahrung zu sich nehmen. Sein einziger Lebensinhalt ist die Fortpflanzung. Nur aus diesem Grund suchen die Weibchen die Linden auf: Dort legen sie ihre Eier, damit sich später die Raupen an den Blättern gütlich tun. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass ein Wetterumsturz genau während der Verpuppung zu Aberrationen führt, ist gering. Und selbst wenn sich das Wetter drastisch ändert, muss das Tier die widrigen Umstände erst überleben.

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