J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Ein Irrgast aus dem Süden

Dezember 2019

Jetzt, wo Sie diese Zeilen lesen, ist die Schmetterlingssaison 2019 weitgehend vorbei. Die drei Arten von Frostspannern sind noch unterwegs, und gelegentlich kann auch der Haarschuppen-Zahnspinner beobachtet werden. Aber darüber hinaus ist Ruhe eingekehrt – und damit ist die Zeit gekommen, Rückschau zu halten auf ein überaus spannendes Schmetterlingsjahr. Unter den nicht ganz alltäglichen Tieren stach eine Art hervor: die Tomaten-Goldeule.

Mitte November 2017 wurde dieser kleine, attraktive Falter zum ersten Mal für Vorarlberg in Bregenz nachgewiesen. Zehn Tage später erhielt die inatura Fachberatung grüne Raupen aus Dornbirn. Zunächst unbestimmbar, wurden sie in die Obhut eines Schmetterlings-Forschers übergeben, und nur wenige Tage später schlüpfte einer der Falter – wieder war dies Chrysodeixis chalcites, die Tomaten-Goldeule. Weitere Funde sollten 2018 folgen: Auf einem Balkon einer Wohnanlage in Rankweil zeigten sich sowohl Raupen (die wie im Vorjahr zum adulten Tier gezüchtet werden konnten) sowie ein Falter, und auch in Dornbirn und Hohenems konnte je ein Tier dokumentiert werden. Und wie ging es heuer weiter? Die Balkon-Tomaten in Rankweil blieben für die Goldeule weiterhin attraktiv, in Dornbirn verunstalteten ihre Raupen Buntnesseln, zwei Falter saßen an der Kirche von Hohenems direkt gegenüber einem kleinen Garten, und ein Tier verirrte sich gar in die inatura, in das Büro des Schreibers dieser Zeilen. All diese Funde erfolgten im Siedlungsraum.
Chrysodeixis chalcites ist eigentlich eine südländische Art. Sie lebt im Mittelmeerraum, aber auch in weiten Teilen Afrikas. In Asien und Australien wird sie durch eine Zwillingsart ersetzt, von der sie sich weder in ihrem Aussehen noch im Geschlechtsapparat unterscheidet. Selbst der genetische Fingerabdruck lässt keine eindeutige Identifizierung zu. Lediglich die Tatsache, dass die Männchen unterschiedliche Sexuallockstoffe anfliegen, führt zur Vermutung, dass doch eine Fortpflanzungsbarriere besteht und dass es sich somit um zwei eigenständige Arten handelt. 
Wie in warmen Ländern ohne ausgeprägte Jahreszeiten weit verbreitet, kennt die Tomaten-Goldeule keine fixen Fortpflanzungszyklen. In Ägypten konnten bis zu neun Generationen pro Jahr nachgewiesen werden. In Spanien werden die größten Populationen im August und September verzeichnet, und ähnliches wird auch für Italien gelten. Chrysodeixis chalcites ist ein Wanderfalter, und einzelne Tiere machten schon immer Ausflüge nach Norden. Von günstigen Winden unterstützt, können sie bis Südengland vordringen. In den Niederlanden und in Belgien haben sie die Gewächshäuser für sich entdeckt. In ihnen ist es ganzjährig warm, zu ihnen hat der Winter keinen Zutritt. Und es mangelt nicht an Nahrung. An solcherart geschützten Orten konnten sich stabile Populationen etablieren. Im unmittelbaren Umfeld wurden Einzeltiere auch außerhalb der Gewächshäuser entdeckt. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass sich diese Nachtfalterart in unseren Breiten auch im Freiland dauerhaft niederlassen kann: Die Raupen überleben die niedrigen Temperaturen im Winter nicht.
Wie bei allen exotischen Neuankömmlingen kann auch bei der Tomaten-Goldeule eine Verschleppung durch den internationalen Pflanzenhandel mit anschließender Verbreitung über Gartenfachmärkte nicht ausgeschlossen werden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Vorarlberger Nachweise auf eingeflogene Tiere zurückzuführen sind. Auch wenn die Erstankömmlinge im Sommer sich bisher der direkten Dokumentation erfolgreich entzogen haben, so sind die Folgen ihrer Anwesenheit umso evidenter: Ihrem deutschen Populärnamen gemäß legen die Weibchen ihre Eier natürlich auch an Tomaten. Aber im Grunde sind sie nicht wählerisch, und die Raupen kommen mit einem sehr breiten Spektrum an Futterpflanzen zurecht. Buntnesseln sind darunter genauso zu finden, wie Kohl, Chrysanthemen, Gartensalat und Kartoffeln. Das Weibchen deponiert die Eier im Flug und berührt dabei die Blätter kaum. Abhängig von der Temperatur schlüpfen die Raupen nach 5 bis 26 Tagen. Bei optimalen Temperaturen um 25°C durchlaufen sie sechs Larvenstadien zu je 2,5 bis 3,5 Tagen. Unter kühleren Bedingungen dauert die Larvenzeit entsprechend länger. In dieser Zeit gilt es möglichst viel zu fressen. Speziell in den letzten beiden Stadien vertilgt die Raupe ganze Blätter und lässt nur die Mittelrippe und stärkere Adern zurück. Hat sie ihr Reifestadium erreicht, so stellt die Raupe die Nahrungsaufnahme ein. An der Unterseite eines Blatts spinnt sie sich nun einen Kokon, in dem sie sich verpuppt. Auch die Dauer der Puppenruhe wird von der Temperatur gesteuert. Sie variiert zwischen einer und vier Wochen, bis schließlich der fertige Schmetterling schlüpft. Die im Herbst bis in den November hinein vorgefunden Falter sind also die Nachkommen jener Tiere, die sich im Sommer nach Vorarlberg verirrt haben. Und deren gibt es in den letzten Jahren mehr als gedacht: Findet man auf derselben Pflanze Raupen in zwei unterschiedlichen Entwicklungsstufen, so müssen diese auch aus unterschiedlichen Eiablagen stammen.
In ihren ursprünglichen Verbreitungsgebieten gilt Chrysodeixis chalcites als ein gefürchteter Schädling. In einer geschützten Umgebung, wie sie von Glashäusern geboten wird, kann der Falter auch nördlich der Alpen das gesamte Jahr über auftreten und beträchtliche Schäden anrichten. In Vorarlberg sind es einzelne Pflanzen, die im Freiland befallen werden, – für eine größere Gefahr durch die Tomaten-Goldeule ist es bei uns aber zu kühl. Erfreuen wir uns also an dem kleinen, goldbraunen Falter mit den beiden Silberflecken am Vorderflügel und der auffallenden „Irokesenfrisur“.

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