J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Eine Heuschrecke auf Erfolgskurs

Oktober 2016

Für die einen gehört es zu einem gemütlichen, vielleicht auch romantischen Sommerabend untrennbar dazu, andere empfinden es schlicht als nervtötend: Das Gezirpe der Heuschrecken entzweit. Zumindest uns Menschen, denn für die Tiere selbst ist der Gesang des Männchens Voraussetzung für eine erfolgreiche Paarung. Erst dadurch wird das Weibchen angelockt, finden die beiden Geschlechter zusammen.

Für den Insektenkundler bieten die Lautäußerungen der Heuschrecken ein willkommenes Hilfsmittel, manche Arten überhaupt erst nachweisen zu können. Die Tiere leben verborgen, lassen sich nicht leicht entdecken. Auch sind gefangene Tiere nicht immer einfach zu bestimmen. Zu gering sind die Unterscheide zwischen manchen Arten. Ihr Gesang aber ist für jede Art charakteristisch – fremde Weibchen anzulocken wäre ja der Fortpflanzung nicht unbedingt förderlich. Wer sich also mit Heuschrecken beschäftigen will, muss ein geschultes Gehör haben – oder auf technische Geräte vertrauen. Nicht selten sind es daher die ebenfalls stark akustisch orientierten Ornithologen, die auf ihrer Vogelpirsch gleichzeitig auch Heuschrecken dokumentieren.

Auch die Vertreter einer weiteren Tiergruppe werden vorrangig über ihre Laute identifiziert: Fledermäuse senden Ultraschall-Signale aus, um ihre Nahrung zu orten. Diese freilich sind für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar, und erst der Bat-Detektor wandelt sie in hörbare Töne um. Doch was hat dies mit den Heuschrecken zu tun? Ein Ultraschall-Detektor ist das perfekte Gerät, um Heuschrecken-Gesänge zu analysieren. Schallfrequenzen können leichter unterschieden werden, und Zeitdehnung macht artspezifische Rhythmen hörbar. Die Ergebnisse sind oft überraschend.

Eine Art, die sich mit dem Ultraschall-Detektor nachweisen lässt (besonders wenn ihr Gesang im menschlichen Ohr vom Tinnitus überlagert wird), ist die Große Schiefkopfschrecke (Ruspolia nitidula). Ihr Balzgesang ist ein sehr hohes, lautes Schwirren, in das unregelmäßig nahe dem Ultraschallbereich liegende Töne eingestreut sind. Auch wenn die Tiere – abhängig von der Temperatur – bereits am Nachmittag mit der Brautwerbung beginnen, so sind sie doch vorwiegend nachts aktiv. Am Tag schützt sie ihre grüne Farbe im hohen Gras, nächtens die Dunkelheit vor der Entdeckung. So bleibt die Nachsuche für einen Fotobeleg nicht selten erfolglos – und dies bei einer Art, die mit bis zu drei Zentimeter Körperlänge eigentlich kaum zu übersehen sein sollte.

Die Große Schiefkopfschrecke ist eine Wärme liebende Art. Ihr eigentliches Verbreitungsgebiet liegt in Südeuropa im Mittelmeerraum sowie im nördlichen Afrika. Nördlich der Alpen wurde sie erstmals 1872 in Riedwiesen nahe dem Bahnhof Lochau nachgewiesen. Auch am Zürichsee konnte sich damals bei Rapperswil eine Population etablieren. Die Lochauer Tiere aber waren Ende der 1880er-Jahre bereits wieder verschwunden. Erst 1957 wurde Ruspolia nitidula am deutschen Bodenseeufer an der Mündung der Argen entdeckt – um sich dann wieder jeder Beobachtung zu entziehen: Die Große Schiefkopfschrecke galt am Bodensee nun wieder für mehrere Jahrzehnte als ausgestorben. Der Wiederfund gelang 1990 im Rheindelta am Rohrspitz sowie 1994 bei Gaißau, und kurz darauf wurde das damals einzige Vorkommen in Deutschland in einem großen Streuwiesengebiet bei Unterreitnau nördlich Lindau entdeckt. In den folgenden Jahren mehrten sich die Funde im nördlichen Rheintal. Dennoch wird die Große Schiefkopfschrecke in der erst im Vorjahr erschienenen „Roten Liste gefährdeter Heuschrecken Vorarlbergs“ als „stark gefährdet“ eingestuft. Sie gilt dort als Feuchtigkeit liebende Art, und die Riedwiesen im Rheintal und Bodenseeraum sollen ihr bevorzugter Lebensraum sein. Ihre Höhenverbreitung wird mit 400 bis 430 Metern angegeben.

Die heurigen Nachweise von Ruspolia nitidula im Frastanzer Ried sowie in Riedwiesen bei Satteins erweitern ihr Verbreitungsgebiet in den Walgau, entsprechen aber den in der Literatur genannten Lebensraum-Präferenzen. Groß war jedoch die Überraschung, als der Gesang dieser Heuschreckenart auch an der Bregenzerach nahe der Rotachmündung bei der nächtlichen Fledermaussuche am Ultraschall-Detektor registriert wurde. Auch wenn es dort keine Riedwiesen gibt, ist mit der Nähe zum Fluss doch ein etwas feuchterer Lebensraum gegeben. Endgültig nicht mehr ins bekannte Schema passen Nachweise nahe dem Sportplatz von Fraxern auf knapp 1000 Metern Seehöhe. Zwar werden die dortigen Wiesen extensiv genutzt, von einer Biotopbindung an „Feuchtgebiete in warmen Lagen“ kann nun aber keine Rede mehr sein. Und selbst an der Wand der inatura in Dornbirn wurde schon vor drei Jahren nächtens ein Tier dokumentiert.

Dass die ersten Beobachtungen der Großen Schiefkopfschrecke in unserem Raum ausschließlich in Riedwiesen erfolgten, mag die Forscher auf eine falsche Spur gelockt haben. Denn in ihrer ursprünglichen Heimat in Südeuropa lässt sich keine Bindung an feuchte oder gar nasse Lebensräume erkennen. Und auch in Ostösterreich wurde die Art selbst an sehr trockenen Standorten beobachtet. Nördlich der Alpen breitet sie sich aktuell mit hoher Geschwindigkeit aus und dringt in Gebiete vor, in denen sie nie zuvor gesehen wurde. Es bleibt spannend, wo sich Ruspolia nitidula in Vorarlberg überall dauerhaft etablieren wird.

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