Wolfgang Weber

Er etablierte 2003 die Grundlagenlehr­veranstaltung „Politische Bildung“ für Lehramtsstudierende in Geschichte und Sozialkunde an der Universität Innsbruck. Neben der Lehre ist seine Fachexpertise als demokratiepolitischer Bildner auch in Vermittlung und Forschung gefragt, etwa bei Ausstellungsprojekten mit Klassen der Mittelschule Lauterach (2006) und des Bundesgymnasiums Lustenau (2008) und gegenwärtig als Fachexperte im EU-finanzierten Forschungs- und Vermittlungsprojekt „World Class Teacher“ mit Standorten in England, Österreich, Polen und der Slowakei.

Jenseits von Prügeleien – Mitten im Kulturkampf

Oktober 2021

Wenn am Ende eines langen Wahltages ein beinahe zwei Jahrzehnte amtierender Bürgermeister auf einen politischen Gegner einen Stein wirft und ihn damit schwer verletzt, einen anderen so verprügelt, dass er wochenlang im Krankenstand ist, einen dritten würgt und einem vierten die Pfeife aus dem Mund schlägt, dann stellt sich die Frage nach der politischen Kultur und den menschlichen Fähigkeiten des Gemeindeoberhaupts. Wie thema vorarlberg in seiner Ausgabe 71 berichtete, beantworten 1882 zwei Gerichte diese Frage: Der Frastanzer Bürgermeister Leonhard Gau wurde wegen der Körperverletzungen zu vier Wochen Kerker und einer Geldstrafe verurteilt. Sein öffentliches Amt legte er freiwillig zurück. 

Ein Kulturkampf

Wenige Jahre zuvor hatte ein Parteikollege des Liberalen Leonhard Gau im weit entfernten preußischen Abgeordnetenhaus in Berlin in einer Rede jenen Schlüsselbegriff zur Beschreibung des Zeitgeistes geprägt, der die politische Geschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland ebenso wie in Österreich am eindrücklichsten fasste: Rudolf Virchow, der angesichts der sogenannten Corona-Krise in den vergangenen 18 Monaten einer breiteren Öffentlichkeit wieder als wegweisender Zellularpathologe in Erinnerung gerufen wurde, sprach als Mandatar der linksliberalen Fortschrittspartei am 17. Jänner 1873 von einem Kulturkampf, der von aufgeklärten Bürgern gegen die Katholische Kirche und ihre Dominanz in diesem gesellschaftlichen Handlungsfeld geführt werden müsse.
Zehn Jahre vor Virchow hatte der sozialistische Politiker Ferdinand Lasalle dieselbe Terminologie verwendet, um die Arbeiter zum Kampf gegen das Bürgertum und den monarchischen Staat aufzurufen.
Politik hieß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts also tatsächlich Kampf; und dieser wurde nicht nur ideell, sondern auch handgreiflich geführt. Das zeigt das Beispiel des Frastanzer Bürgermeisters Gau. Es fand zu einem Zeitpunkt statt, als der Kulturkampf in Vorarlberg bereits für die Katholische Kirche und ihre politische Partei, das war die Christlichsoziale Volkspartei, entschieden war.

Ein liberales Jahrzehnt

Schon 1848 hatten sich im Zuge eines großen Aufbegehrens gegen den absolutistischen Habsburgerstaat unter anderem in Feldkirch aufgeklärte Bürger um den Industriellen Carl Ganahl geschart und mehr politische Mitsprache gefordert. Diese wurde erst mit der Verfassung von 1861 zugestanden. In der Folge stellten im Gesamtstaat wie in Vorarlberg die Liberalen in den neuen Parlamenten die Mehrheit – und den Regierungschef.
Eine solche Dominanz war deswegen möglich, weil das Wahlrecht eine politische Partizipation an die Steuerleistung knüpfte. Nur wer ein Mindestmaß an Steuern bezahlte, verfügte über eine aktive und passive Stimme. Das bevorzugte die Besitzenden – und diese waren die neuen Reichen: die Industriellen, die Angehörigen freier Berufe, die ökonomisch starken Handwerker und Gewerbetreibenden sowie vereinzelte Großbauern. Aus diesem Klientel schöpfte die Liberale Partei bis 1870 jenes Reservoir, das ihnen eine Mehrheit im Vorarlberger Landtag sicherte.
Sie nutzten ihre Mehrheit für kulturkämpferische Ziele: 1861 stellten sie evangelische und katholische Kirchen weitgehend gleich. 1869 brachen sie mit dem Reichsvolksschulgesetz die jahrhundertelange Dominanz der Katholischen Kirche im Bildungsbereich. Nicht zuletzt ist auch die seit Mitte des 19. Jahrhunderts aktive Los-von-Tirol-Bewegung unter dem Aspekt eines Kulturkampfes der Liberalen gegen die Katholischen zu sehen. Das im Vergleich zu Tirol hoch industrialisierte Vorarlberg wollte sich von der gemeinsamen staatlichen Verwaltung mit dem bäuerlich-konservativen Nachbarland lösen, um sich sowohl gesellschafts- wie wirtschaftspolitisch frei zu entwickeln.

Ein konservativer Rollback

Dagegen machten die Katholische Kirche und die im Entstehen begriffene Konservative Partei ab den 1860er Jahren mobil. Seit 1867 war die Gründung von Vereinen möglich. Das nutzten konservative wie liberale Pressure Groups, um in Vorarlberg ein dichtes Netz von Ortsgruppen ihrer jeweiligen Partei zu initiieren. Dort, wo beide Gruppen an Köpfen stark waren, in bevölkerungsreichen Industriegemeinden, führte das zu einem Kampf um die gesellschaftspolitische Hegemonie in der Kommune. Dieser konnte so ausarten wie es das Frastanzer Beispiel zeigt. Obwohl der Sieger bereits 1870 feststand: Damals gewannen die Konservativen 15 der 19 über eine Wahl zur Verfügung stehenden Landtagsmandate. Diese absolute Mehrheit im Vorarlberger Landtag gaben die Konservativen und ihre Nachfolgeparteien bis 1994 nicht mehr ab. Die Liberalen verloren in den folgenden Jahrzehnten auch noch die verbliebenen vier Mandate. Nur den Vorarlberger Landeshauptmann konnten sie bis 1890 durchgehend stellen. Denn er wurde damals nicht vom Landtag gewählt, sondern vom Kaiser ernannt.

Eine Fußnote der Landesgeschichte

Nach dem parlamentarischen Misserfolg um 1870 verengte sich der Blick der ursprünglich an Demokratie und Menschenrechten interessierten Liberalen zusehends auf die Forderung nach politischen Grundrechten für die eigene Nation. Das war nach dem Verständnis des 19. Jahrhunderts das deutsche Volk. 1897 gründeten sie daher eine neue liberale Dachorganisation, den Deutschfreisinnigen Verein für das Land Vorarlberg.
Während der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts diversifizierten sich die Liberalen weiter, unter anderem in eine bäuerlich-liberale Fraktion namens Landbund, eine urban-bürgerliche Großdeutsche Volkspartei und zwei kleinbürgerliche faschistische Splittergruppen, den NS-Verein für Österreich und die NSDAP (Hitlerbewegung). Letztere setzte sich durch und errichtete 1938 eine Diktatur, die 1945 in einer militärischen Niederlage endete. 1949 wurde aus versprengten Altliberalen, nationalsozialistischen Mitläufern und vormals freiheitlichen Großdeutschen eine neue liberale Organisation, der Verband beziehungsweise die Wahlpartei der Unabhängigen gegründet. Sie ging 1956 in der FPÖ auf.
Von der FPÖ spalteten sich immer wieder originär liberale Gruppen ab. So etwa 1969, als Johann Ilg, ein Bruder des langjährigen Vorarlberger ÖVP-Landeshauptmannes Ulrich Ilg, als Spitzenkandidat der Liberalen Partei Österreichs in die Landtagswahl ging. Er scheiterte beim Einzug in das Regionalparlament ebenso wie andere Liberale Parteien vor ihm und nach ihm. Erst 2014 gelang mit den NEOS wiederum einer liberalen Partei der Einzug in den Vorarlberger Landtag. Sie versteht sich jedoch nicht als Erbin jenes Liberalismus, der im ersten demokratischen Vorarlberger Landesparlament von 1861 die Mehrheit stellte.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.