Matthias Sutter

*1968 in Hard, arbeitet auf dem Gebiet der experimentellen Wirtschaftsforschung und Verhaltensökonomik, ist Direktor am Max Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn und lehrt an den Universitäten Köln und Innsbruck. Der Harder war davor auch an der Universität Göteborg und am European University Institute (EUI) in Florenz tätig.

Mobilität und Verhaltensökonomie

Mai 2023

Menschen handeln oft nicht rational – und dies systematisch, auch in ihrem Mobilitäts­verhalten. Forschung und Politik, die diese Tatsache nicht berücksichtigen, schaffen ineffiziente oder gar kontraproduktive Instrumente und Maßnahmen. Die Verhaltensökonomie liefert Ansätze, diese Irrationalitäten systematisch zu erforschen – und kann damit einen wesentlichen Beitrag leisten, Mobilität neu zu denken.

Sie halten Ihre Pläne perfekt ein? Sie treffen jede Ihrer Entscheidungen nach sorgsamen, rationalen Kosten-Nutzen-Abwägungen, warten stets geduldig, bis Sie Ihr Ziel erreichen, und können mögliche Risiken exakt einschätzen? Dann brauchen Sie an dieser Stelle nicht weiterzulesen. Wer aber schon einmal die Diät mit Blick auf die Dessertkarte verschoben, gute Vorsätze vergessen oder auch nur Entscheidungen impulsiv getroffen hat, kann sich in guter Gesellschaft mit (praktisch) allen Menschen fühlen.
Wie die Forschung zeigt, sind menschliche Überlegungen systematisch verzerrt. Wir sind erstens limitiert rational und machen in unseren Entscheidungen regelmäßig Fehler. Zweitens sind wir soziale Wesen und lassen uns in unserem Handeln von anderen Menschen sowie unseren Gefühlen ihnen gegenüber beeinflussen.
Die Verhaltensökonomie beschäftigt sich genau mit solchen Situationen von begrenzt rationalen Entscheidungen. Wie finden deren Einsichten im Mobilitätskontext Anwendung? Ein Ansatz ist der Fokus auf zwei von der Verhaltens­ökonomie identifizierte Irrationalitäten. Zum einen haben die meisten Menschen eine „Verlustaversion“. Das heißt, wir gewichten Verluste tendenziell höher als Gewinne. Wir streben nach Erhalt des Status quo, wollen gewohnte Abläufe erhalten und messen dem mehr Gewicht zu als möglichen zusätzlichen Gewinnen. Zum anderen sind unsere Entscheidungen stark von dem beeinflusst, was wir unmittelbar vor uns sehen. Wir blenden Alternativen aus, die uns nicht direkt kognitiv zugänglich sind. In diesem Fall spricht man von der sogenannten Verfügbarkeitsheuristik.

Die Mobilitätsforscher Erel Avineri und Owen Waygood haben Verlust­aversionen bei der Präsentation des CO2-Verbrauchs von Autos untersucht. Zwei Gruppen von Personen wurden gebeten, die Transportmodi A und B hinsichtlich ihrer Umweltbelastung zu bewerten. Der ersten Gruppe wurde die Entscheidung positiv, als Gewinn formuliert, präsentiert. Den Teilnehmern wurde gesagt, Modus A spare auf fünf Meilen 2,9 Kilo­gramm CO2 gegenüber Modus B ein. Die zweite Gruppe sah die identische Information als Verlust formuliert: Modus B verbrauche 2,9 Kilogramm CO2 mehr. Wurden die Teilnehmerinnen nun gebeten, die beiden Modi zu bewerten, zeigte sich: In der ersten Gruppe identifizierte nur knapp die Hälfte große Unterschiede im Verbrauch der beiden Transportmodi. In der zweiten, mit dem Verlust konfrontierten Gruppe, benannten indes über 90 Prozent wesentliche Unterschiede und präferierten Modus A. Die Art und Weise, wie Alternativen dargestellt werden, hat also großen Einfluss auf deren Bewertung.
Eine Forschergruppe um Zhan Guo hat derweil aufgezeigt, wie die Gestaltung von Entscheidungen für die Verkehrsplanung nutzbar ist. In Washington D. C. überqueren mehrere U-Bahn-Linien den Potomac River, entweder über eine Brücke oder in einem Tunnel. Letzterer wird von der Blue Line bedient, dem Flaschenhals des U-Bahn-Systems. Sämtliche Versuche der Verkehrsbehörde, die Blue Line durch klassische Angebotssteuerung zu entlasten, schlugen fehl – Passagiere blieben auf der überlasteten Tunnelroute und wichen nicht aus. Abhilfe verschaffte ein Kniff aus der Wahrnehmungspsychologie: Vertikale Linien wirken länger als horizontale, und gerade Linien werden bevorzugt – diese Elemente flossen in eine Umgestaltung der U-Bahn-Karte ein, die die Blue Line optisch unattraktiver machte. Passagiere, die anhand der neuen Karte ihre Route planten, wählten 9,5 Prozent seltener die Blue Line. Schon kleine Adaptionen der Darstellung von Verkehrswegen können also das Mobilitätsverhalten beeinflussen.
Eine Studie der California Polytechnic State University unterstreicht indes die Wirkmächtigkeit sozialer Normen, also der Wahrnehmung, was man für das „richtige“ Verhalten in einer Gruppe hält. Auf dem Universitätscampus galt es ein bekanntes Mobilitätsproblem zu lösen: zu viele Autos, zu wenig Parkraum. Eine Forschergruppe gab Autofahrern verschiedene Anreize, zeitweise auf ihren Parkplatz zu verzichten. Nebst Geld für die Nichtbenutzung des Parkplatzes wurde an das Umweltbewusstsein der Autofahrer appelliert, oder es gab ein Geschenk von geringem Wert. Das Resultat: Der Appell an das Umweltbewusstsein oder das Geschenk waren erfolgreicher als die Entschädigung, weil sie die soziale Norm adressierten, sich ebenfalls positiv zu verhalten. Noch ein abschließendes Beispiel: Eine Forschungsgruppe der kanadischen University of Victoria bat drei Probandengruppen, in den folgenden Wochen die Nutzung ihres Automobils zu reduzieren. Der einzige Unterschied war die Information, die die drei Gruppen über die Erfolge anderer Teilnehmer erhielten. Die Gruppe, bei der die soziale Norm „viele andere Teilnehmenden verzichten erfolgreich auf ihr Auto“ intensiv kommuniziert wurde, reduzierte ihre Autonutzung im Pendelverkehr viermal stärker als die Kontrollgruppe, die keinerlei Information über das Verhalten anderer Personen erhalten hatte. 
In Summe ergibt es also Sinn, verhaltensökonomische Erkenntnisse über Entscheidungsheuristiken und soziale Normen bei Fragen zur Mobilität zu berücksichtigen.

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