Rechtsgeschichte einer Nachbarschaft
Der Zoll- und Steuervertrag zwischen Österreich und Liechtenstein vom 5. Juni 1852.
Am 5. Juni 1852 schlossen Österreich und Liechtenstein einen Zoll- und Steuervertrag ab, der Vorarlberg und Liechtenstein für fast siebzig Jahre zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum vereinigte. Ziel des Vertrages war es, „den Zustand der Absonderung aufhören zu machen, in welchem das Fürstenthum Liechtenstein gegenüber dem übrigen Deutschland sich befindet, und um zwischen den stammverwandten Gebieten von Vorarlberg und Liechtenstein vollkommen freien Verkehr herzustellen.“
Liechtenstein war 1815 dem Deutschen Bund beigetreten. Mit seinen gut 5000 Einwohnern war es das kleinste Mitglied des 41 Staaten und mehr als 30 Millionen Einwohner zählenden Bundes. Wegen seiner abgelegenen geographischen Lage und der engen Bindung an Österreich, das sich 1833 nicht am großen Deutschen Zollverein beteiligte, war es jedoch wirtschaftlich weitgehend isoliert. Und auch gegenüber Österreich bestanden Zollschranken, die wirtschaftlich nachteilig waren.
Durch den nun mit Österreich abgeschlossenen Zoll- und Steuervertrag übernahm Liechtenstein mit 1. August 1852 das österreichische System der Zölle und Staatsmonopole, die österreichischen Verzehrungssteuern und Stempel auf Kalender, Zeitungen und Spielkarten und eine Vielzahl österreichischer Gesetze, Vorschriften und Tarife in der in Vorarlberg geltenden Fassung. Gleichzeitig wurden liechtensteinische Zölle und Abgaben aufgehoben. Liechtenstein war damit in das Wirtschaftsgebiet Vorarlbergs und Gesamtösterreichs voll integriert. Im Verkehr mit der Schweiz wurde Liechtenstein Vorarlberg gleichgestellt. Österreich verpflichtete sich überdies, bei künftigen Handels- und Zollverträgen auch Interessen Liechtensteins zu berücksichtigen.
Für den Handel zwischen Vorarlberg und Liechtenstein war der Wegfall der bis dahin bestandenen Zoll- und Steuerschranken von großer Bedeutung. Die österreichischen Zollstätten in Gallmist (Feldkirch) und Schaanwald wurden überflüssig. Die Märkte beider Länder standen sich nun gegenseitig offen, die Bewohner des einen Landes wurden im andern in Bezug auf Handel, Gewerbe und Arbeitsmarkt gleichgehalten. Der gesamte Vertrag wurde, wie der Liechtensteiner Historiker Peter Geiger schrieb, „von der Idee der wirtschaftlichen Assimilation durchwaltet“. Daher verpflichtete sich der Fürst von Liechtenstein auch, jede Änderung des in Vorarlberg geltenden Gewicht-, Maß- und Münzsystems auch für Liechtenstein zu übernehmen. 1859 führte Liechtenstein auch die österreichische Kronenwährung als Landeswährung ein. Die Zoll- und Steuerämter im Fürstentum Liechtenstein wurden als „kaiserlich-österreichische und fürstlich-liechtensteinische“ bezeichnet und mit dem Wappen des Kaisers und des Fürsten versehen. Die Finanzbezirksdirektion in Feldkirch erhielt die Bezeichnung „K. k. Finanzbezirksdirektion für Vorarlberg und das zollgeeinte Liechtenstein“. Über Zoll- und Steuervergehen von Liechtensteiner Bürgern entschied das „Gefällen-Bezirksgericht“ in Feldkirch, zu dessen Beisitzern auch der jeweilige liechtensteinische Landesverweser gehörte.
Die Erträgnisse aus Zöllen und Steuern des gemeinsamen Wirtschaftsraumes wurden im Verhältnis der alle drei Jahre neu festgestellten Bevölkerungsanteile zwischen Vorarlberg und Liechtenstein aufgeteilt. Die Zollrückvergütungen Österreichs überschritten dabei regelmäßig die Hälfte der liechtensteinischen Staatseinnahmen und bildeten einen wesentlichen Teil des liechtensteinischen Staatsbudgets.
Der Zoll und Steuervertrag mit Liechtenstein wurde mit geringfügigen Modifikationen mehrfach verlängert. Bei der Liechtensteiner Bevölkerung war der Vertrag zwar in der Anfangszeit nicht sehr beliebt, weil mit der Liberalisierung der Handelsbeziehungen zu Österreich gewisse Behinderungen im Handelsverkehr mit der Schweiz einhergingen und dadurch der Besuch von Märkten in der Schweiz erschwert wurde. Auch sonst gab es einige Reibungspunkte. Tatsächlich brachte der Vertrag Liechtenstein jedoch einen wirtschaftlichen Aufschwung. Mehrere Textil- und Industriebetriebe wurden nun in Liechtenstein gegründet, denen die Absatzmärkte in Österreich große Chancen boten.
Der Zerfall der Habsburgermonarchie und die hohe Inflation nach dem Ersten Weltkrieg führten dazu, dass Liechtenstein den Zoll- und Steuervertrag 1919 kündigte und die Währungsunion mit Österreich beendete. 1923 schloss es mit der Schweiz einen Zollanschlussvertrag ab, 1924 führte es den Schweizer Franken als Landeswährung ein. In der Beziehung der „stammverwandten Gebiete“ von Vorarlberg und Liechtenstein musste nun ein neues Kapitel aufgeschlagen werden.
Foto: Schattenburgmuseum/Studiensammlung Zollmuseum
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