J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Seit Menschengedenken …

September 2023

Seit Menschengedenken hat sich hier nichts bewegt, seit Menschengedenken ist hier kein Stein heruntergekommen.“ Der Volksmund spricht’s, und der Fachmann lächelt wissend, korrigiert und übersetzt: Ja, in den letzten 30, wenn’s hoch kommt 50 Jahren ist hier nichts passiert. Denn er ist sich der Wandelbarkeit unserer Landschaft sehr wohl bewusst. „Standhaft wie die Berge der Heimat“ mag ein netter Wahlspruch sein, doch die Realität trifft er nicht. Stürzen Felsblöcke, rauschen Muren zu Tal, so wird der Mensch fassungslos angesichts der zerstörerischen Kräfte der steinernen Massen. Sein Glaube an die totale Beherrschbarkeit der Natur ist zutiefst erschüttert: Standen Berg und Stein eben noch für Dauer und Beständigkeit, so erhebt sich nun die bange Frage: „Wie konnte so etwas nur geschehen?“
Natürlich, Fachleute neigen zu Übertreibungen. Nicht selten sehen sie sich sogar gezwungen zu übertreiben, um sich Gehör zu verschaffen, um auf potenzielle geogene Gefahren aufmerksam zu machen. Selbstverständlich kann eine Lokalität auch mehr als 50 Jahre unbehelligt geblieben sein – doch ein Garant für zukünftige Sicherheit ist dies nicht. Will man die Ereignisse, die das Antlitz der Erde in der jüngsten Vergangenheit geformt haben, erschließen, so muss man weiter als nur ein „Menschengedenken“ zurückblicken. Und man muss es verstehen, die Landschaft zu lesen. Einfache Aufnahmen im Gelände sind dafür nur der erste Schritt. Laserscans bieten uns heute ein weitaus besseres Bild, als es die reine Betrachtung vor Ort jemals liefern könnte. Doch solche Hilfsmittel stehen erst seit wenigen Jahrzehnten zur Verfügung. Zuvor war man auf eigene Beobachtungen, Gespür und eben die Erzählungen und Überlieferungen der Vorfahren angewiesen, um das Gefahrenpotenzial an einem möglichen Bauplatz einschätzen zu können.
Wie lange die letzte frühere Rutschung an der Hochreute in Hörbranz zurück liegt, wissen wir nicht. Es muss seit damals lange Zeit ruhig geblieben sein, und der Hang wurde als stabil, die alte Rutschmasse vor ihm als sicherer Baugrund eingestuft. Bereits der älteste Katasterplan, die „Urmappe“ von 1857 verzeichnet dort ein Gebäude, wo nun das erste Haus der jüngsten Rutschung zum Opfer gefallen ist. Den Menschen, die damals dort gebaut hatten, ist kein Vorwurf zu machen: Wie hätten sie auch erkennen können, dass sie ihr Haus auf einer alten Rutschmasse errichteten? Mehr als 165 Jahre scheinbare Standsicherheit ließen das Vertrauen in den Untergrund wachsen: Hier kann gefahrlos gebaut werden. Ob sich in all den Jahren die Rutschmasse nicht doch bewegt hat, lässt sich kaum mehr nachvollziehen. Ebenso wenig wissen wir, ob der Hang dahinter wirklich so stabil war, wie er durch all die Zeit zu sein geschienen hat. Erst die jüngsten Ereignisse führen uns drastisch vor Augen: Die Natur schert sich nicht um menschgemachte Normen, die Natur baut nicht mit dreifacher Sicherheit. Ein jeder Hang befindet sich in einem Grenzgleichgewicht, bei dem die rückhaltenden Kräfte gegenüber der Schwerkraft nur minimal überwiegen. Bereits geringe Störungen können das Gleichgewicht kippen, und die Schwerkraft erlangt die Übermacht. Dann entscheidet das Gesamtszenario, mit welchen Auswirkungen der Mensch konfrontiert wird.
Es ist müßig zu spekulieren, wie die Massenbewegung in Hörbranz bei anderer Ausgangslage verlaufen wäre. Die als stabil eingestufte alte Rutschmasse sollte der Hauptgrund für die nunmehrigen Zerstörungen werden. Die am Hang dahinter mobilisierten Gesteine drücken nun auf ebendiese Rutschmasse und versetzen sie ihrerseits in Bewegung – eine Bewegung, welcher die auf ihr errichteten Häuser nicht gewachsen sind. Auch die Frage, warum der Hang gerade jetzt dem Ruf der Schwerkraft gefolgt ist, wird sich nicht schlüssig beantworten lassen. Natürlich, es hatte geregnet. Aber es waren dies nicht die ersten Regenfälle, die den Hang aufweichten. Er wird wohl bereits „seit Menschengedenken“ zermürbt worden sein. 
Sicher waren auch quellfähige Tonminerale im Spiel, eine Mineralgruppe, die in der Ingenieurgeologie besonders gefürchtet ist. Tonminerale sind Schichtsilikate. Ihr Kristallgitter besteht aus Schichten von Silizium-Sauerstoff-Tetraedern. Diese Schichten sind untereinander nur schwach verbunden – manchmal so schwach, dass Wasser in das Kristallgitter eindringen kann. Aber durch das Wasser vergrößert sich der Abstand der Schichten, und die Tonminerale quellen auf. In diesem Zustand fungieren sie als Schmiermittel und begünstigen Bewegungen im Gestein. In den Ablagerungen des Pfänderstocks sind überall – jedoch in unterschiedlichem Ausmaß – quellfähige Tonminerale zu finden. Wie unangenehm diese sein können, zeigte sich beim Bau der ersten Röhre des Pfändertunnels. Wasser, das eigentlich die Bohrer kühlen und die Staubbelastung mindern hätte sollten, wurde von den Tonmineralen gierig aufgenommen. Durch das Quellen hob sich die Tunnelsohle. Damit verengte sich der Ausbruchsquerschnitt, und der Tunnel musste – um dem Planungsziel zu entsprechen – nachträglich aufgeweitet werden. Gleichzeitig bildeten Verbrüche von der Firste eine zusätzliche Gefahrenquelle.
Für die Bewohner und Bewohnerinnen der nun abbruchreifen Häuser an der Hochreute sind die Geschehnisse eine Katastrophe, die nur durch Versicherung und Hilfszahlungen keine existenzbedrohenden Ausmaße annimmt. Uns anderen aber, die wir nicht unmittelbar betroffen sind, soll diese Rutschung eine Warnung sein und ein Anlass, unser eigenes Verhältnis zur Natur kritisch zu hinterfragen.

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