Harald Weigel

Direktor der Vorarlberger Landesbibliothek

„Vater aller Vorarlberger“ – Joseph Ritter von Bergmann zum 150. Todestag

Dezember 2022

Ein Dorf feiert, Bergmann-Feier zum 100. Geburtstag am 15. und 16. August 1896. Aus allen Gauen Vor­arlbergs und auch von weiter her reisten die zahlreichen Besucher an. Alle Häuser waren mit Kränzen und Tannenreis geschmückt und von den Giebeln und Dächern wehten Fahnen in den Reichs- und Landesfarben. Die Vor­arlberger Zeitungen brachten ausführliche Berichte vom Ereignis. Es sei eine „via triumphalis“ mit einer über 2000, bis zu 3000 Menschen geschätzten Menge gewesen, die zum Festplatz strömte.
Der „Volksfreund“ schrieb, „dass selten eine solche Zahl der bekanntesten und einflussreichsten Männer des Landes aus allen Theilen desselben, aus allen Berufskreisen und von allen Parteien bei fröhlichem Mahle und einiger Festfreude versammelt gewesen sein dürfte. Da saß der Bauer neben dem Gelehrten, der Künstler neben dem Handwerker, Industrielle und Kaufleute, Beamte, Geistliche, Lehrer, Studenten und Zeitungsschreiber, elegante Damen und Bauersfrauen. Da war kein Zwang der Etiquette, es war ein echtes Volksfest, ein echt vorarl­bergisches Fest, das allen Theilnehmern unvergesslich bleiben und ein dauerndes Ruhmesblatt in der Geschichte der Gemeinde Hittisau bilden wird.“
Vorarlberg feiert sich selbst als eine Gemeinschaft Gleichgesinnter und darüber steht symbolhaft der Name Joseph Bergmann. Was verstand der Vorarlberger im 19. Jahrhundert unter Vorarlberg?
Ein Landesbewusstsein war im 18. Jahrhundert allenfalls in Ansätzen vorhanden. Auch die Bezeichnung „Vor­arlberg“, ausgehend von den vier Herrschaften vor dem Arlberg, setzte sich erst im 18. Jahrhundert durch. Der Glaube, einem besonderen Volk anzugehören, vom Bodensee bis ins Montafon, abgegrenzt von anderen, konnte nachhaltig nur entstehen, wenn die politische wie geographische Einheit gegeben ist und sich diese im Bewusstsein der Bevölkerung niederschlägt. Und die Voraussetzung wurde erst unter der bayerischen Herrschaft 1806 bis 1814 geschaffen, Vorarlberg ist zum ersten Mal als politische Einheit vorhanden und wird zentral verwaltet. Kulturelle Symbole, die die Zusammengehörigkeit repräsentieren, wurden erst seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts Thema, in erster Linie die Abstammung von alemannischen Stämmen und die alemannische Mundart, funktionell als Abgrenzung zum Österreich hinter dem Arlberg – neben der Abgrenzung zu Tirol. Das Ganze Ausdruck einer romantischen Vorstellung des 19. Jahrhunderts von der ethnischen Einheit eines Stammes mit eigener Identität.
Von der Festrede Hermann Sanders 1896, dem im Kulturbetrieb Vorarlbergs präsenten Innsbrucker Realschuldirektor, hieß es, sie habe ein „Hochgefühl patriotischer Begeisterung und menschlicher Teilnahme“ bewirkt. Die Rede lieferte die wesentlichen Grundinformationen zum Leben des Joseph Bergmann: den hart erarbeiteten sozialen Aufstieg vom Hittisauer Bauernbub zum kaiserlichen Beamten, dem Custos und zuletzt Direktor des Münz- und Antikenkabinetts und der Ambraser Sammlung im Belvedere in Wien, beschrieb ausführlich den vorbildlichen, edlen Charakter, die vielen Publikationen zu Geschichte, Numismatik, Philologie, die in Wien erhaltenen Ehrungen und die wissenschaftliche Leistung als Landeshistoriker: „Der erste kritische Erforscher der Geschichte Vorarlbergs“. Ein Urteil, gültig bis heute. Am Schluss der Rede dann die Enthüllung der Marmortafel am Geburtshaus im Weiler Rain mit dem Reliefporträt, gestaltet vom Bildhauerkünstler Georg Feurstein. Text: „Zur Erinnerung an Vorarlbergs bedeutendsten Geschichtsforscher“. 
Auf Grund der bildungspolitischen Rückständigkeit Österreichs, der fehlenden universitären Ausbildung in den Geisteswissenschaften musste er sich als Autodidakt Methoden der Forschung selbst erarbeiten, sei es beim Herausgeben mittelhochdeutscher Texte aus dem Ambraser Heldenbuch oder für historische Darstellungen. Für den Historiker war „kritisch“ das Zauberwort, hinter die Überlieferung ist zurückzugehen und Sachverhalte sind an den Quellen zu prüfen. Quellenwerke zur Vorarlberger Geschichte gab es vor Bergmann nicht. Er musste auf Editionen in Nachbarregionen zurückgreifen und selbst Urkunden ausheben. Das 1847 erschienene Werk „Früheste Kunde über den Bregenzerwald und die Stiftung des Klosters Mehrerau …“ stellt grundsätzlich fest über das bekannte Vorgängerwerk „Vorarlberg“ von Franz Joseph Weizenegger/Meinrad Merkle, Innsbruck 1839: „ist ungenügend und ermangelt strenger historischer Kritik. Wie viel Schönes und Wahres neben Schiefem und Unrichtigem …“
Die allgemeine Entwicklung zu einem Vorarlberger Landesbewusstsein wurde genährt durch das Wirken des Landsmanns in Wien. Wie bei einer Infusion sickerten die vielen Publikationen und Meldungen von und über Joseph Bergmann in Zeitschriften und Zeitungen ins Bewusstsein der Bevölkerung. Seine Präsenz in den gebildeten Kreisen wie bei den Mitgliedern des Museumsvereins strahlte nun aus. Mundpropaganda! – Pfarrer, mit denen er ausgedehnte Korrespondenzen pflegte, waren wichtige Multiplikatoren. 
1861 wurde Vorarlberg ein Landtag zugebilligt. Wer sonst als Joseph Bergmann kam in Frage, das Landeswappen zu gestalten? Er hatte sich durch Publikationen auch hierfür entsprechend präsentiert. Dies brachte nun das maßgebliche Symbol der Einheit im Zusammenhang mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Vorarlberg ist zwar Teil des Kaiserreiches, aber ein selbstständiges Land, mit eigener Geschichte, mit einer ethnischen Identität, mit weitgehend einheitlicher Kultur, ein eigenständiges und selbstbewusstes Volk.
Die 1860er-Jahre: Der Ruhm Bergmanns im Land erreichte einen Höhepunkt. Das Land findet zu seiner Identität, die Menschen entwickeln ein Wir-Gefühl. Ein besonderes Monument der Resonanz im Land ist die gemeinsame Glückwunschadresse der Bürgermeister von Bregenz, Feldkirch, Dornbirn, Bludenz und Hohenems vom 3. April 1866 zum 40-jährigen Dienstjubiläum und zur Erhebung in den Ritterstand. Es ist graphisch aufwendig gestaltet – in die Initiale der Anrede sind vier Medaillons eingeflochten: Gebäude Landesmuseum, Schloss Ambras, ein Wälderhaus und das Landeswappen. Bergmann wurde als Kind des Landes, als eine „Zierde der Heimat“ gebeten, „Ihre stets bewiesene Anhänglichkeit an Ihr Geburtsland auch ferner zu bewahren.“ 
1868 erschien die „Landeskunde von Vorarlberg“ – Widmung: „Seinem theuern Vaterlande der treue Sohn“ – Motto, immer wieder gern zitiert: „Die vernünftige Liebe zum Vaterlande entsteht und nährt sich nur in der richtigen Erkenntniß desselben. Jener ist ein Patriot, welcher mit Kraft sie fördert.“ Das Buch ist weniger eine historische Darstellung als eine Beschreibung dessen, was aktuell als Wissen über Vorarlberg festgehalten werden konnte, ein Handbuch oder auch Schulbuch. Franz Michael Felder hatte das Buch gleich gekauft und schrieb Bergmann: „Das Land wird Ihnen dankbar bleiben. Ich möchte die Schrift in allen Schulen sehen und habe mein Exemplar gleich dem Lehrer gegeben.“ 
Joseph Bergmann hatte geradezu das Monopol auf das Wissen um Vorarlberg. Er hat festgehalten, was war, und beschrieben, was ist. Er lieferte dem Vor­arlberger die Grundlagen, sich über sich selbst als soziales Wesen in einem größeren Ganzen klar zu werden, die Folie für ein einig Volk von Vorarl­bergern. Das meinte Franz Michael Felder, wenn er vom „Vater aller Vor­arlberger“ sprach: Bewusstseinsbildung, das Selbstverständnis als Vorarlberger – das Wir-Gefühl! Ludwig Steub, Jurist, Reiseschriftsteller, hatte es so formuliert: Bergmann sei „literarischer Vater des Vaterlandes“. Heute wird man das wohl mit dem Modewort „Narrativ“ bezeichnen. Nur 50 Jahre vor dem Volksfest 1896 wäre ein Ereignis wie dieses nicht denkbar gewesen. Die Wirkungsgeschichte des Joseph Bergmann geht kongruent mit der Entstehung und Festigung eines Landesbewusstseins in Vorarlberg. 
Bergmann war sich seiner Bedeutung bewusst, wie die Äußerung über eine Tischgesellschaft zur Tochter Johanna zeigt: „Wenn alle diese Männer längst vergessen sind, werde ich es nicht sein; denn man wird nie die Geschichte meines engeren Heimathlandes schreiben können ohne meinen Namen zu nennen.“
Das Narrativ Vorarlberg war erstellt, der, der es repräsentiert, wird bewundert und gefeiert. Als Bergmann 1863 mit Sohn Ernst Vorarlberg besuchte, da läuteten zur Begrüßung die Kirchenglocken und es wurden „Pöller gelöst“, an einem Ort heißt es, nehmen wir mal an, es war der Ort seiner Herkunft.
Etwas fehlte noch: die Geschichte in der Geschichte, der mythenumrankte Anfang in ferner Vergangenheit, der traditionsmächtig das Wesen des Zusammenhalts dieses Volkes der Vorarlberger als „immer-schon-dagewesen“ charakterisiert und begründet. Eine Legende, die in der Rückschau immer das Besondere des Landes und seiner Bewohner ins Gedächtnis ruft und das Selbstverständnis bestärkt: also so etwas wie der Rütli-Schwur.
Wie sollte es anders sein: Auch darum hat sich Joseph Bergmann gekümmert. Im August 1871 findet ein großes, dreitägiges Volksfest statt, auf der Bezegg. Am ersten Tag des Festes, am 20. August 1871, wird unter Gesang und Böllerhall die Denksäule, die Bezegg-Sul, enthüllt. Der Text der Inschrift stammte vom Freund Jodok Stülz, Prälat in St. Florian, und lautet: „Zum Andenken. An dieser Stelle stand das hölzerne, im J. 1807 abgebrochene Rathaus des Innerbregenzerwaldes, in welchem der freigewählte Land­ammann und Rath durch Jahrhunderte die Angelegenheiten der Gemeinden nach altem ‚Landsbrauch‘ berathen, beschlossen und verwaltet haben.“
Bergmann erläuterte sein Vorgehen in einem Brief an Friedrich Kenner: „Diese Stätte mahnte mich durch Jahre auf ihr einen Gedächtnißstein zu setzen, Hr. Dombaumeister Schmidt, den ich vor etlichen Jahren das Histor. dieser Bezegg auseinandersetzte, machte mir unentgeltlich eine Zeichnung der Denksäule im goth. Style. Die Zeichnung wurde lithographirt u. die lithogr. Blätter wurden zum Zwecke einer Geldsammlung ver­theilt u. verkauft u. vom Erlöse die 28 Fuß hohe Säule aus Stein gehauen, aufgestellt u. endlich enthüllt.“
Joseph Bergmann war gesundheitlich nicht mehr imstande, selbst nach Vorarl­berg zu kommen. Aber er war präsent, sein Name in aller Munde. Nach Verlesen seines Telegramms wurde ihm „ein bis nach Graz nachdonnerndes Hoch gebracht“. Von einer Wälderrepublik sprechen weder Stülz noch Bergmann. Bergmann war wichtig, im Narrativ der Landesgeschichte keine Leerstelle zu lassen, ein traditionsbildendes Ereignis identifizierbar und symbolhaft in der Landesgeschichte zu verankern. Die Elemente des Narrativs Vorarlberg hat Bergmann weder als erster entdeckt noch erfunden. Er war der Kompositeur, der den Kern vielfältig in Nuancen ausfaltete und als Wissensmonarch vertrat und mit seinem Namen verband. Dass dieses einem Veränderungsprozess unterworfen ist, das ist selbstverständlich, die Welt und damit die Welterfahrung bleiben nicht immergleich. Das „Wir“ ist heute ein anderes.
Seine Leistung als Gründervater wissenschaftlicher Vorarlberg-Forschung war innovativ. In seiner Zeit war er zweifellos bahnbrechend. Korrekturen und Ersetzungen der Forschungsergebnisse durch besseren Zugang zu den Quellen, durch neue Methoden und Erkenntnisse, untersucht mit neuen Interessen, sind ebenso eine Selbstverständlichkeit. 

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.