J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Von Blumen und Bienen

Dezember 2024

Egal ob Tier, Pflanze oder Pilz – das ausgewachsene Individuum verfolgt ein einziges Ziel: Die Weitergabe der Erbsubstanz und damit den Fortbestand der Art als Fortpflanzungsgemeinschaft im angestammten Lebensraum zu sichern. Die dabei eingeschlagenen Strategien sind so vielfältig, wie das Spektrum der Arten. Die überwiegende Zahl der Tiere ist mobil, und die Herausforderung besteht darin, dass Weibchen und Männchen für eine sexuelle Fortpflanzung zusammenfinden. Bei ihnen verhindern Bau und Funktion der Geschlechtsorgane die Befruchtung über Artgrenzen hinweg. Nur in Ausnahmefällen – oft in Extremlebensräumen – sind die Weibchen einer Tierart in der Lage, auch ohne Befruchtung durch ein Männchen Nachkommen in die Welt zu setzen.
Bei den Pflanzen ist die Sache subtiler. Auch hier gibt es eine sexuelle Vermehrung, doch für die Befruchtung sind Vermittler zuständig. Der Wind kann diese Aufgabe übernehmen, indem er Pollen über weite Strecken transportiert. Voraussetzung dafür sind große Pollenmengen und eine gute Erreichbarkeit der weiblichen Organe der Pflanze. Dies gilt als die ursprünglichste Form der Bestäubung. Später jedoch hat die Mithilfe von Tieren eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erhalten. Es sind in erster Linie Insekten, die ihren Beitrag zur Arterhaltung der Pflanzen leisten: Das Bild von Biene und Blüte ist nicht umsonst zum Symbol geworden, um Kindern die Funktionsweise der sexuellen Fortpflanzung zu erklären, ohne dabei die Geschlechtsorgane selbst erwähnen zu müssen. Aber unsere Honigbienen nehmen in der Vielzahl der Bestäuber nur einen sehr kleinen Platz ein. Wildbienen sind hier ebenso Dienstleister wie Fliegen, Ameisen, Wespen, Käfer, Schmetterlinge und Wanzen, ja selbst Säugetiere können diese Aufgabe übernehmen. Im Laufe der Evolution sind sehr komplexe Beziehungen zwischen den Pflanzen und ihren Bestäubern entstanden, die im Extremfall darin gipfeln, dass eine Pflanzenart nur von einer einzigen Insektenart bestäubt werden kann. Stirbt diese aus, so ist auch die Pflanzenart dem Untergang geweiht.
Das Grundprinzip ist dabei immer dasselbe: Die Pflanze muss ihre Bestäuber anlocken. Sie belohnt die Tiere durch überzähligen Pollen und Nektar. Während sich das Insekt labt, wird es mit Pollen beladen. Die Belohnung reicht nie, um das Tier zu sättigen – schließlich muss es ja noch andere Blüten besuchen, um dort die männlichen Pollen an den weiblichen Eianlagen wieder abzustreifen. Neben dem Duft der Belohnung – der nicht selten Sexuallockstoffe der Bestäuber imitiert – gehört die Farbe der Blüten zu jenen Reizen, denen die Insekten erliegen. Aber Achtung, Insekten nehmen Farben völlig anders wahr als wir Menschen. Rot sehen sie nicht, und eine rote Blüte erscheint für sie – in menschliche Vorstellungen übertragen – lediglich als ein schwarzer Fleck. Dafür nehmen sie Licht im Ultraviolett-Bereich wahr, das wiederum dem menschlichen Auge verborgen bleibt. Dennoch ist Rot als Blütenfarbe weit verbreitet und verfehlt nie seine Funktion als Lockfarbe.
Sprechen wir Menschen von einer Blüte, so verstehen wir darunter in erster Linie die Hüllblätter, welche die eigentlichen Geschlechtsorgane der Pflanzen umgeben und schützen. Gleichzeitig sind sie die bunt gefärbten Signalgeber für die Bestäuber. Und doch gibt es Pflanzen, deren Blüten unscheinbar sind und von Insekten kaum wahrgenommen werden. Um den Befruchtungserfolg zu gewährleisten, müssen andere Blätter einspringen, eine spezielle Form der Hochblätter. Dies sind reduzierte Blätter, bei denen nur Teile des Blattes vollständig ausgebildet sind. Ihren Namen verdanken sie der Eigenschaft, oberhalb der regulären Laubblätter zu wachsen, von denen sie sich auch in Form und Farbe unterscheiden. Hochblätter sind meist zu keiner Photosynthese fähig, übernehmen aber als Träger von Farbpigmenten eine wichtige Aufgabe im Organismus der Pflanze. Je unscheinbarer die Blüten gestaltet sind, umso größer und umso auffälliger gefärbt sind die Hochblätter, die anstelle der Blütenhülle die Schaufunktion zur Anlockung der Bestäuber übernehmen. Von uns Menschen aber werden sie nicht selten mit der eigentlichen Blüte verwechselt.
Eine klassische Pflanze mit auffällig großen und farbigen Hochblättern rückt als Zimmerpflanze gerade in der kalten Jahreszeit ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit: Der Weihnachtsstern. Die botanische Systematik stellt ihn zur Gattung Wolfsmilch (Euphorbia) innerhalb der Familie der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae). Zu Recht trägt er den Artbeinamen pulcherrima – die schönste (in grammatikalischer Übereinstimmung mit dem weiblichen Gattungsnamen). In seinem natürlichen Verbreitungsgebiet im Westen Mittelamerika von Mexico bis Guatemala finden sich die verstreuten und oft individuenarmen Vorkommen im Unterwuchs subtropischer Trockenwälder an steilen, felsigen Hängen, oft am Rand kleiner Schluchten. Die ursprüngliche Heimat lässt sich kaum mehr eingrenzen – die Pflanze wurde bereits vor Ankunft der Europäer als Zierpflanze kultiviert und weit verschleppt. Eine deutsche Auswandererfamilie schließlich etablierte Euphorbia pulcherrima Anfang des 20. Jahrhunderts in Kalifornien als „Weihnachtsblume“. Seitdem wird die Pflanze weltweit gehandelt, und es existieren Zuchtformen in den unterschiedlichsten Farbvarianten. Manche Händler schrecken selbst davor nicht zurück, den Hochblättern mit pflanzenverträglichem Lack eine neue, auf natürlichem Weg unmögliche Farbe zu verleihen. Wo die klimatischen Voraussetzungen passen, kann sich der Weihnachtsstern auch in einer neuen Heimat etablieren: Inzwischen sind verwilderte Bestände in fast allen tropischen und subtropischen Regionen der Erde anzutreffen, vereinzelt sogar im Mittelmeerraum. Doch eines liegt bis heute im Dunkeln: Welche Tierart die „schönste Wolfsmilch“ in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet bestäubt, ist weiterhin unbekannt.

 

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