Cornel Dora

* 1963 in St. Gallen, ist Stiftsbibliothekar von St. Gallen und befasst sich mit der christlichen Kulturgeschichte.

Von wegen finster

April 2023

Das Mittelalter von Kolumban und Gallus war hell.

Als Kolumban im Jahr 612 von Bregenz in Richtung Süden aufbrach, blieb mit Gallus sein wohl bester Schüler zurück am Bodensee – krank, wie die Überlieferung berichtet. Er begab sich zur Pflege nach Arbon und brach nach seiner Genesung von dort zu einer Wanderung in den südlich davon gelegenen Wald auf. An einem Wasserfall des Flüsschens Steinach ließ er sich nieder und lebte zunächst allein in der Wildnis. Bekanntlich begegnete er dabei einem Bären.

Entzug der Möglichkeit, eine Gemeinschaft zu bilden
Die Einsamkeit war allerdings erzwungen, denn Kolumban hatte Gallus bei der Trennung verboten, die Messe zu lesen, solange er lebe. Dadurch verhinderte er, dass Gallus eine eigene Gemeinschaft gründen konnte, denn ohne die Möglichkeit, die Messe zu feiern, fehlte dazu das zentrale charismatische Element. Vielleicht hätten sich sonst auch weitere Brüder vom strengen Mönchsvater Kolumban abgekehrt und wären geblieben. Gallus seinerseits war nach Jahrzehnten des strengen Mönchslebens wohl nicht mehr zur Integration in die Gesellschaft fähig, zumal er ja als Ire sozialisiert war. Da bot sich in der Not das Leben allein im Wald als valable Variante an.
Dann starb Kolumban am 23. November 615, und Gallus wurde vom Bann erlöst. Er feierte sofort die Messe und begann, eine Gemeinschaft von sogenannten Zönobiten aufzubauen. Das waren allein in Hütten lebende Brüder, die gemeinsam aßen und den Gottesdienst feierten.

Abt Gallus und die Cambutta
Gallus hatte vom sterbenden Kolumban den bestmöglichen Rückhalt für sein Amt als Abt erhalten, nämlich seinen irischen Abtsstab, die sogenannte Cambutta. Die Mönchsgemeinschaft an der Steinach, aus der sich St. Gallen entwickelte, war das erste dauerhafte Kloster im Bodenseeraum. Das war von weitreichender Bedeutung für die ganze Region, nicht nur institutionell, sondern besonders auch kulturell. Man kann sagen, dass damit kurz nach 600 eine neue Zeit anfing: das Mittelalter.

Farbiges Mittelalter
Aber was war denn dieses Mittelalter? Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat es Schicht um Schicht besser freigelegt, und dabei ist es immer heller und auch farbiger geworden. Es war sicher nicht die finstere Zeit, die wir aus älteren Publikationen, Lehrbüchern und Trickfilmen wie Die Hexe und der Zauberer von Walt Disney (1963) kennen. Auch die Bezeichnung als „Mittelalter“, also als Übergangszeit zwischen der Antike und der Neuzeit, trifft die Sache nicht. Vielmehr handelt es sich um eine eigenständige Epoche mit eindeutiger Prägung. Zudem erscheint ihre Fixierung auf etwa 500 bis 1500 als willkürlich und problematisch. Das wichtigste Merkmal war die spirituelle Ausrichtung auf den christlichen Glauben. Vielleicht geht dieses Zeitalter erst jetzt richtig zu Ende, mit dem rasend schnellen Zerfall der christlichen Kultur und der von ihr geprägten Werte.
Das Mittelalter – angesichts einer fehlenden Alternative bleiben wir trotz aller Bedenken bei diesem Begriff – begann schon in der Spätantike mit dem unerwarteten Aufstieg der christlichen Theologie. Diese gab neue Wertmaßstäbe vor und verankerte diese über die christlichen Gemeinden in der Bevölkerung. Weil sich die Kirche in den Kriegen der Völkerwanderung als einzige einigermaßen funktionierende Struktur bewährte, setzten auch die weltlichen Machthaber auf sie: Konstantin, Karl der Große und die Kaiser.

Spirituelle Fluglehrer
Kolumban und seine Mönchsschar in Bregenz gehörten zu den frühen Aktivisten dieser neuen mittelalterlichen Kultur. Wo immer sie hinkamen wirkten sie gewissermaßen als spirituelle Fluglehrer für die Bevölkerung. Sie faszinierten die Welt mit ihrer Botschaft der Liebe und Hingabe, mit ihrem Leben, das auf viele frei und erfüllt wirken musste. Stärker als die zahlreichen anderen Glaubensangebote der Zeit gab ihre Lehre jedem Menschen eine Seele und damit Würde. Die christliche Heilserzählung, die fortlaufend mit Theologie und Heiligenlegenden ergänzt wurde, verankerte alle Menschen in einem großen von Gott geschaffenen Universum, in dem jedes Leben einen Sinn hatte. So verdrängte das Christentum innert weniger Jahrhunderte alle anderen Sinnsysteme fast vollständig. Die Lebensgeschichten von Kolumban und Gallus führen die gelegentlich mörderischen Konflikte vor Augen, die damit verbunden waren. Kolumban zog deswegen von Bregenz weg, der vielleicht noch dickköpfigere Gallus blieb.

Grundlage Platonismus
Der Hintergrund für diese spirituelle Wende in der Geschichte waren philosophische Strömungen, die sich im 4. Jahrhundert vor Christus in der Lehre des athenischen Philosophen Platon verdichtet und mit Plotin im 3. Jahrhundert nach Christus einen neuen Aufschwung erlebt hatten. Sie vertraten den Primat des Spirituellen. Das Christentum verband das mit der jüdisch geprägten Erwartung eines Gottes, der sein Volk durch einen Messias erlösen wird. Die Erwartung dieses Erlösers, der im Rahmen einer Endzeit und eines Gerichts alles richtigstellen und die Bösen bestrafen würde, gab der Religion eine besondere Dringlichkeit. Allerdings traf diese Endzeit dann nie ein, auch nicht im Jahr 1000, als sich der Papst in der Erwartung des Anbruchs des Gottesreichs Silvester nannte.

Licht, nicht Finsternis
Selbstverständlich passt der Begriff „finster“ in keiner Weise zu dieser Entwicklung. Ganz im Gegenteil verbinden wir Spiritualität in der Regel mit Licht. Wenn wir die Texte lesen, die seit dem 5. Jahrhundert unsere Kultur formten, so sehen wir diesen Primat des Spirituellen allenthalben. Das epikureische Carpe diem von Horaz hat in diesem Weltbild nicht mehr viel Platz. An seine Stelle treten Gedichte wie der Sterbesang des angelsächsischen Gelehrten Beda Venerabilis, in denen die Ausrichtung des hiesigen Lebens auf das Jenseits angemahnt wird, um beim Gericht Gottes bestehen zu können. Allerdings nahmen das endzeitliche Denken und die Ausrichtung auf Jenseits seit dem 11. Jahrhundert wieder ab. Stattdessen wandten sich die Menschen wieder vermehrt dem Materiellen und der Welt zu. Die Philosophie des Aristoteles wurde nun immer wichtiger, denn sie lieferte die intellektuellen Werkzeuge, um diese Welt zu beschreiben und zu verstehen.
In mittelalterlichen Kirchen, besonders in Wallfahrtskirchen, findet sich oft ein Labyrinth, eine meist kreisförmige Zeichnung mit einem Weg, der durch viele Windungen von außen nach innen ins Zentrum führt. Das ursprünglich antike Bild, das auf die Theseussage mit dem Minotaurus und dem Ariadnefaden zurückgeht, wurde im Mittelalter christlich umgedeutet. Es wurde zu einem einfach verständlichen Sinnbild für den Lebensweg aller Menschen. Dieser wurde so zum Pilgerweg, den alle gleich beschreiten: Arme und Reiche, Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Frauen und Männer, Gläubige und Ungläubige. Ein Weg, der unerwartete Windungen hat, bei dem aber niemand entgleisen kann. Er führt unweigerlich zum Ziel, ins Paradies. Die Botschaft davon ist: Am Schluss wird alles gut, ergibt alles Sinn. Kolumban und Gallus führten die Menschen am Bodensee in dieses Labyrinth und damit in ihre neue helle Zeit: das Mittelalter.

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