J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Was Maibowle, Büffelgras-Wodka und Zimtsterne gemeinsam haben

Mai 2023

Eigentlich stimmt der ganze Kalender nicht mehr. Dafür sorgt der Klimawandel. Dass die Bäume erst im Mai ausschlagen, ist längst Geschichte. Und als Bringer des Frühlings hat der Mai schon lange ausgedient – im Mai ist der Frühling schon fast wieder vorbei, ja der Mai stimmt uns bereits auf die Hitze des Sommers ein. Das mit dem „Wonnemonat“ ist ohnehin nur eine Fehlinterpretation. Im Alt­hochdeutschen (8. bis 11. Jahrhundert) sprach man vom „wunnimanod“ oder „winnimanod“. „Winni“ aber bedeutete Weide: Der Mai war und ist der Weidemonat. Der tierische Nachwuchs hat längst das Licht der Welt erblickt und erfreut sich nun auf der Weide an der reichlich gedeihenden Nahrung. Und trotzdem lassen wir uns die Wonnen nicht nehmen. Wir feiern Gartenfeste, und auf diesen war früher ein Getränk geradezu Pflicht: Die Maibowle. Wein und Sekt sind die flüssigen Ausgangsmaterialien. Für das charakteristische Aroma aber sorgt ein unscheinbares Pflänzchen: der Waldmeister, auch Wohlriechendes Labkraut, oder unmissverständlich wissenschaftlich Galium odoratum genannt. Wie schon der Name verrät, müssen wir ihn im Wald suchen, und zwar in den Laubwäldern der gemäßigten Breiten Eurasiens. Auffallendstes Merkmal sind die in Scheinwirteln angeordneten Blätter. Auch an den weißen Blüten lässt sich der Waldmeister leicht erkennen. Diese sind vierzählig radiärsymmetrisch und bilden ansatzweise einen Kelch. Auch der Waldmeister hält sich nicht (mehr) an den „klassischen“ Kalender und an seinen weiteren Populärnamen Maienkraut. Er blüht vom April bis in den Juni. In den kleinen, zwittrigen Blüten werden die männlichen Staubgefäße früher ausgebildet als die weiblichen Geschlechtsorgane, eine Strategie, um Selbstbestäubung nach Möglichkeit hintanzuhalten. Fliegen sind die bevorzugten Bestäuber. Die Früchte sind borstig behaart. Wie Kletten werden sie von Tieren verbreitet. Neben der sexuellen Vermehrung kann sich der Waldmeister auch vegetativ über unterirdisch kriechende, dünne, mehr oder weniger lange Rhizome als Überdauerungsorgane ausbreiten.

Frischer Waldmeister ist geruchsneutral. Wer die grünen Blätter kostet, merkt nichts von ihrem Aroma. Erst wenn er trocknet oder welkt, wird der Aromastoff Cumarin mit seinen angenehmen, vanille- beziehungsweise heuartigen Geruch freigesetzt. Durch die Zerstörung von Pflanzenzellen kommen die Ausgangsstoffe zueinander, die dann gemeinsam in einer chemischen Reaktion das Cumarin erzeugen. Will man also Maibowle ansetzen, so muss man den Waldmeister erst trocknen lassen. Alternativ kann man ihn auch kurz einfrieren. Ein Bund Waldmeister wird nun so in den Wein gehängt, dass die Stiel­enden herausschauen. Sie sollten nicht in den Wein eintauchen, da sonst auch unerwünschte Bitterstoffe abgegeben werden können. Dort verweilt die Pflanze für 30 Minuten. Der aromatisierte Wein wird dann im Verhältnis von 2:1 mit (halbtrockenem) Sekt aufgegossen, bei Bedarf gezuckert und mit Eis gekühlt. Aber Vorsicht: Ein Zuviel des Cumarins kann Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit verursachen, und Zucker in Kombination mit Alkohol ist dann keine große Hilfe – ganz im Gegenteil. Maiwein wurde erstmals im Jahre 854 im Kloster Prüm (Eifel-Ardennen, nahe der Grenze zu Belgien) als medizinisches Getränk zur Stärkung von Herz und Leber verabreicht. Neben dem Waldmeister wurden damals auch Blätter der schwarzen Johannisbeere und der Gundelrebe beigefügt.

Der Waldmeister ist freilich nicht die einzige Pflanze, die Cumarin enthält. Der Pflanzenstoff wurde erstmals 1813 aus den Samen des Tonkabohnenbaums isoliert. Dessen Holz wird auch als Cumarú oder Brasilianisches Teakholz bezeichnet, und es war namensgebend für den Inhaltsstoff. Cumarin findet sich auch in manchen Süßgräsern, wie dem Gewöhnlichen Ruchgras und dem Duftenden Marien­gras (und damit in aromatisiertem Wodka), sowie in der Steinweichsel, in Datteln und in den Zimt-Sorten Cassiazimt, indonesischer Zimt und vietnamesischer Zimt. 1820 wurde Cumarin als eigenständige Substanz erkannt und 1846 gelang es, die richtige Zusammensetzung zu ermitteln und gleichzeitig eine narkotische Wirkung zu belegen. 1868 wurde es erstmals synthetisiert und ab 1876 für die Parfümerzeugung vermarktet. Das 1881 vorgestellte und auf Cumarin basierte Parfüm Fougère Royale („königlicher Farn“) von House of Houbigant war sehr erfolgreich. Weil Cumarin den Geschmack der echten Vanille imitiert, wird es seit Anfang des 20. Jahrhunderts als „mexikanische Vanille“ bezeichnet und als Ersatz für die Gewürzvanille verwendet. Doch in den USA wurde Cumarin als Aromastoff 1954 verboten, nachdem in Tierversuchen toxische Wirkungen nachgewiesen werden konnten. Europa ist hier weniger restriktiv. Zwar darf reines Cumarin hierzulande den Lebensmitteln nicht zugesetzt werden. Ist es aber von Natur aus Bestandteil von Gewürzen beziehungsweise Lebensmittelzutaten, so ist es innerhalb gewisser Höchstgrenzen erlaubt. Auch in der Kosmetikindustrie darf der Duftstoff unter Wahrung strikter Grenzen verwendet werden. Doch was bewirkt ein Zuviel? Neben den erwähnten Kopfschmerzen, Erbrechen, Schwindel und Schlafsucht können noch höhere Dosen zu zentraler Lähmung, Atemstillstand und Koma führen. Im Tierversuch wurden auch Leber- und Nierenschädigungen beobachtet. Doch einen eindeutigen Beleg für die angebliche gesundheitsschädigende Wirkung bei normalem Gebrauch cumarinhaltiger Gewürze gibt es nicht. Lediglich bei Kindern wird zur Vorsicht bei zimthaltigen Speisen geraten. Bei Versuchen an Ratten aber trat die gesundheitsschädigende Wirkung erst bei extremer Überdosierung auf. Oder anders: Um unerwünschte Nebenwirkungen zu erfahren, müssten wir schon mehrere Kilo Zimtsterne mit literweise Maibowle und Büffelgras-Wodka hinunterspülen. Und dann ereilt uns die Alkoholvergiftung, noch bevor das
Cumarin seine toxische Wirkung entfalten kann.

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