Martin Rümmele

* 1970 in Hohenems, ist mehrfach ausgezeichneter Gesundheitsbereich- und Wirtschaftsjournalist und Verleger. Er lebt und arbeitet in Wien und Kärnten und ist Autor mehrere kritischer Gesundheitsbücher unter anderem „Zukunft Gesundheit“, „Medizin vom Fließband“ und „Wir denken Gesundheit neu“. 

Was uns krank macht

Dezember 2023

Übergewicht, Diabetes, Herzkreislauf, Krebs, Burn out und Rücken: Wie unser Lebensstil uns krank macht, was uns das kostet und wie man gegensteuern könnte. Denn trotz neuer Therapien werden wir immer kränker.

Es sei „die wahrscheinlich größte Gesundheitsreform der vergangenen 20 Jahre“ lobte Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) den jüngsten Finanzausgleich und die parallel dazu abgeschlossenen Reformen. Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) hatte auf Druck der Ärztekammer zwar noch in einigen Bereichen zurückgesteckt, allerdings vor allem beim Ausbau der niedergelassenen Versorgung einen lange Jahre umstrittenen Punkt durchgebracht. 
Tatsächlich hat die Reform allerdings eine Lücke: sie setzt primär in der Krankheitsversorgung an. Dabei hatte selbst Rauch im Laufe der Reformverhandlungen die „Fokussierung auf die klassische Heilbehandlung“ kritisiert, Präventionen werden „in vielen Bereichen“ viel zu wenig umgesetzt. Wenn die geplante Gesundheitsreform nicht „auf den Boden gebracht werde“, dann werde das System nach fünf Jahren mit Mehrkosten in der Höhe von sieben Milliarden Euro konfrontiert sein, rechnete der Gesundheitsminister Rauch noch im Budgetausschuss des Nationalrates vor. Denn die Ausgaben für die Versorgung steigen, weil die Bevölkerung älter wird, weil neue medizinische Therapien teuer werden und vor allem, weil sich der Gesundheitszustand insgesamt verschlechtert. 
Doch das Budget für Prävention wird zwar von 64 Millionen Euro im Jahr 2019 auf 198,1 Millionen Euro angehoben, allerdings sind das mit 6,1 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben des Bundes exakt gleich viel, wie im Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Erst vor dem Sommer forderte der Rechnungshof in einem Bericht verbindliche Maßnahmen der Regierung ein, um die Zahl der gesunden Lebensjahre in der österreichischen Bevölkerung zu erhöhen. Dabei sollte bis zum Jahr 2032 jeder Mensch in Österreich zwei Lebensjahre mehr in Gesundheit verbringen. Das beschloss der Ministerrat 2012 als eines von zehn „Gesundheitszielen Österreich“. Doch tatsächlich hat sich die Gesundheitssitua­tion verschlechtert. So hatte man laut Statistik Austria im Jahr 2014 im Alter von 65 Jahren durchschnittlich noch mit 11,35 gesunden Lebensjahren zu rechnen. 2019 war dieser Wert auf 9,75 gesunde Lebensjahre gesunken.
Während im 19. Jahrhundert noch 80 Prozent aller Menschen an Infektionskrankheiten starben, waren es 1930 knapp 50 Prozent und 1980 nur noch ein Prozent. Waren es vor 100 Jahren noch Cholera, Tuberkulose und Pocken, die aufgrund der Verbesserung der medizinischen Versorgung und der Entwicklung von Impfstoffen als Haupttodesursache überwunden worden sind, sind es heute Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, psychische Erkrankungen sowie Muskel- und Skelettprobleme. Und die nehmen allesamt zu. Rund 80 Prozent der Gesundheitskosten gehen auf chronische Zivilisationskrankheiten – die Wissenschaft spricht von nicht übertragbaren Krankheiten (= non-communicable diseases – NCDs) – zurück.
In Österreich leidet bereits ein Drittel der heimischen Bevölkerung über 15 Jahren an einer chronischen Erkrankung. Interessant dabei sind regionale Unterschiede, das zeigt der Austrian Health Report 2022 – eine repräsentative Studie zum Gesundheitsbefinden – durchgeführt vom IFES-Institut. Demnach leiden in Vorarlberg 45 Prozent der Menschen an chronischen Erkrankungen, gefolgt von den Nieder- und Oberösterreichern (ex aequo 44 Prozent). In Tirol hingegen leiden „nur“ 32 Prozent der Befragten unter einer dauerhaften Krankheit bzw. einem chronischen Gesundheitsproblem. Das Problem dabei: alle derartigen Daten basieren auf Befragungen. Ob die Antworten stimmen, wird faktisch nicht geprüft. Generell könnten auch Zivilisationskrankheiten mit verschiedenen Maßnahmen, wie der Erhöhung der Gesundheitskompetenz, Präventionsmaßnahmen, Bildung und einer Verbesserung der sozialen Ungleichheiten bekämpft werden. Doch das ist im Auftrag der Krankenkassen und im Gesundheitssystem insgesamt nicht vorgesehen. Sie sollen primär Therapien finanzieren.
Doch wo ansetzen? Und wie? Um das zu beantworten, lohnt sich zuerst die Frage, welche Zivilisationskrankheiten überhaupt wie stark verbreitet sind und was sie verursacht. Eine Möglichkeit dafür bietet der jährlich von den Sozialversicherungen, der Wirtschaftskammer und der Arbeiterkammer erstellte „Fehlzeitenreport“. Er listet die Ursachen für Krankenstände und deren Dauer auf und basiert damit durchaus auf Fakten. Nummer Eins sind Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes. Sie machten im Corona-Jahr 2021 in Österreich 14,7 Prozent der Krankenstandsfälle und 21,9 Prozent der Krankenstandstage aus. Auffällig ist die lange Dauer pro Krankenstandsfall von durchschnittlich 15,3 Tagen. 
Das deckt sich auch mit anderen Daten, wie der alle fünf Jahre durchgeführten Gesundheitsbefragung des Gesundheitsministeriums. Dort gaben immerhin 26 Prozent der Menschen an, in den vergangenen zwölf Monaten, zumindest einmal an chronischen Kreuzschmerzen oder anderen Rückenleiden gelitten zu haben. Auch hier ist das Platz Eins. Rund 85 Prozent der Bevölkerung haben irgendwann im Laufe ihres Lebens zumindest einmal Probleme mit dem Rücken. Einer der Gründe: Bis zu drei Viertel der österreichischen Bevölkerung lebt heute schon in Ballungsräumen. Fast 95 Prozent der Zeit verbringen die Menschen in geschlossenen Räumen – wenn man Verkehrsmittel mitrechnet. Ein Großteil dieser Zeit wird zudem sitzend verbracht. Die Folge ist in vielen Fällen ein Bewegungsmangel. Und der führt oft zu gesundheitlichen Problemen. Anders formuliert: Sitzen ist das neue Rauchen.
Der Bewegungsmangel macht allerdings auch andere Gesundheitsprobleme. Er führt gepaart mit falscher Ernährung letztlich zu Übergewicht. Das und Fettleibigkeit (Adipositas) erhöhen das Risiko vieler nicht-übertragbarer Krankheiten. Dazu zählen beispielsweise Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, Diabetes mellitus Typ 2, chronische Atemwegserkrankungen und Krebs. Adipositas ist vor allem in Industrieländern stark im Steigen. In Österreich kann man das etwa an einem 15-Jahres-Vergleich bei jungen Männern sehen, die beim Bundesheer zur Stellung auf ihre gesundheitliche Tauglichkeit untersucht werden. Zwischen 2003 und 2018 ist die Anzahl der adipösen Jungmänner auf mehr als zehn Prozent gestiegen. Auch immer mehr Schülerinnen und Schüler in Österreich sind übergewichtig oder adipös. Das haben zuletzt die im Rahmen der von der WHO durchgeführten HBSC (Health Behaviour in School-aged-Children)-Studie veröffentlichten Zahlen gezeigt: 2022 waren rund 25 Prozent der Burschen und rund 17 Prozent der Mädchen über elf Jahren an Österreichs Schulen übergewichtig, 2010 waren es noch 19 beziehungsweise 12 Prozent. Die Studie zeigt noch etwas anderes: Kinder und Jugendliche in Österreich sind besonders stark von Bewegungsmangel betroffen. Etwa 80 Prozent der 11- bis 17-Jährigen in Österreich bewegen sich nicht genug.
„Kinder haben viel weniger Bewegung wie früher. Es gibt zwar Turnstunden in der Schule, das ist aber zu wenig für die benötigte Wochenzeit an Bewegung. Es hat auch nicht jeder einen Garten und Sportvereine sind für viele Familien nicht mehr leistbar“, bestätigt Alexandra Rümmele-Waibel, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde in Hohenems und Vizepräsidentin der Vorarlberger Ärztekammer. Zudem verstärke der zunehmende Medienkonsum bei Kindern – Fernsehen, Computer, Handy – den Bewegungsmangel. „Das sieht man schon in der Volksschule.“ In Vorarlberg sei deshalb im Herbst zusammen mit der Österreichischen Gesundheitskasse ÖGK das Programm „Easy Kids“ gestartet, bei dem durch intensive Schulung die Gesundheitskompetenz gestärkt werden soll. Rümmele-Waibel: „Das ist vielversprechend, aber auch sehr zeitintensiv für die Familie. Und oft sind auch beide Elternteile berufstätig.“ 
Verstärkt werde das durch die Inflation: „Man muss auch sehen, was frisches Obst und Gemüse kostet. Eine Familie, die auf jeden Cent schauen muss, kann sich das nicht leisten“, rechnet die Ärztin vor. Die HBSC-Studie bestätigt das: Essen in der fünften Schulstufe noch 54 bis 60 Prozent der Kinder täglich Obst, sind es in der elften Schulstufe bei den Burschen gerade noch 29 Prozent. Ähnlich die Situation bei Lehrlingen: bei den Burschen essen gerade einmal 13 Prozent täglich Obst und/oder Gemüse. 
Übergewicht und Bewegungsmangel sind wiederum die Hauptgründe für Diabetes Mellitus Typ 2 und Bluthochdruck, Schlaganfälle und Herzinfarkte. Hierzulande betrifft Diabetes laut Österreichischer Diabetes Gesellschaft (ÖDG) mehr als 800.000 Menschen. Die Kosten für die Behandlung liegen aktuell in Österreich bei drei Milliarden Euro – bei Gesundheitsausgaben von insgesamt 50 Milliarden. Eines der Probleme: viele Diabetes-Erkrankungen sind unentdeckt und werden erst spät erkannt. Wird die Erkrankung aber nicht rechtzeitig behandelt, entwickelt sich eine Nierenfunktionsstörung und die Niere kann ihrer Aufgabe, das Blut zu reinigen, nicht mehr nachkommen. In Österreich kämpfen bis zu 900.000 Menschen mit einem stillen Leiden, das ihre Nieren betrifft: Nierenschwäche, auch bekannt als Niereninsuffizienz.
Fachleute schätzten zudem, dass in Österreich etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung LDL-Cholesterinwerte über deren Zielwerten gemäß der European Society of Cardiology aufweist. Rund eine Millionen Menschen werden mit einem Hoch- oder Höchstrisiko geschätzt. Die hypercholesterinämie-assoziierten Gesamtkosten werden auf rund 1,2 Milliarden Euro geschätzt. Zudem fehlten dem Arbeitsmarkt im Jahr 2019 in etwa 4000 Erwerbstätige durch hypercholesterinämie-assoziierte Erkrankungen. 
Aufgrund ihrer steigenden Zahl nehmen Adipositas und ihre Folgen wie Bluthochdruck, erhöhte Blutfett- und Blutzuckerwerte sowie Diabetes mellitus Typ 2 zu. Und das wiederum bedingt erhöhte Herz-Kreislauferkrankungen. In Österreich hat ungefähr jeder vierte Mensch einen zu hohen Blutdruck, schätzt das Gesundheitsministerium. In der alle fünf Jahre durchgeführten Gesundheitsbefragung gaben 21,8 Prozent der Menschen an, innerhalb von zwölf Monaten an Bluthochdruck gelitten zu haben. 18,5 Prozent gaben erhöhte Cholesterinwerte; 3,2 Prozent eine Koronare Herzkrankheit und 1,7 Prozent chronische Beschwerden nach einem überstandenen Herzinfarkt an. Rund 20 Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben entfallen auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zeigt eine aktuelle EU-Studie. „In diesen Fällen sind oft medikamentöse Therapien nötig, um Schäden für das Herz-Kreislauf-System zu vermeiden“, betont Christian Hengstenberg, Leiter der Universitätsklinik für Innere Medizin II und der Klinischen Abteilung für Kardiologie der MedUni Wien. 
Auch das berühmt-berüchtigte „eine Achterl in Ehren pro Tag“ erhöht bereits den Blutdruck. Eine eben erst in den USA erschienene italienische Studie widerlegt den angeblich die Blutgefäße „entspannenden“ Effekt von Alkohol. Selbst geringe konsumierte Mengen können eine Hypertonie fördern. Und hier liegt Österreich im Spitzenfeld: Das zeigt der aktuelle umfassende OECD-Gesundheitsbericht „Health at a Glance“. Dort befindet sich Österreich (ex aequo mit Estland) mit einem Pro-Kopf-Konsum von 11,1 Litern reinem Alkohol pro Jahr unter den sechs Ländern mit dem größten Konsum. Nur in Bulgarien, Tschechien, Litauen und Lettland wurde mehr getrunken. 11,1 Liter pro Jahr klingen jetzt nicht viel. Das ist nicht einmal ein Liter pro Monat. „Reiner Alkohol“ bedeutet allerdings 100-prozentigen Alkohol – und den trinkt natürlich niemand. Es ist eine Recheneinheit. Ein Liter 100-prozentiger Alkohol entspricht 20 Litern Bier mit einem Alkoholgehalt von 5 Prozent. 11,1 Liter entsprechen also 222 Liter Bier pro Jahr und Kopf. 
Auch beim Anteil von Raucherinnen und Rauchern liegt Österreich mit rund 21 Prozent über dem OECD-Schnitt, der bei einem Wert von 16 Prozent liegt. Rauchen, Alkohol und Übergewicht sind wiederum auch Hauptfaktoren für die Entstehung von Krebserkrankungen. In Österreich erkranken jährlich etwa 42.000 Menschen an Krebs. Bei der Hälfte aller Erkrankten wurde ein Darm-, Lungen-, Brust- oder Prostatakrebs diagnostiziert, rechnet der Krebsreport von Statistik Austria und Krebshilfe vor.
Angesichts des stagnierenden Anteils für Präventionsausgaben im Gesundheitsbudget der Regierung, drängen Fachleute auf Umstellungen im Gesundheitswesen und einem stärkeren Fokus auf die Vermeidung von Erkrankungen. „Ein modernes, effizientes und zukunftsorientiertes Gesundheitssystem basiert auf der Vorsorge-Transformation. Prävention ist entscheidend – für das System und jeden Einzelnen“, sagt Peter Lehner, Vorsitzender der Konferenz der Sozialversicherungsträger: „Wir müssen nicht nur für die entsprechenden Rahmenbedingungen sorgen, sondern wir brauchen Gesundheitskompetenz, Eigeninitiative und Eigenverantwortung.

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