J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Wespen manipulieren das Wachstum von Blättern

Juni 2024

Beim nächtlichen Warten auf Schmetterlinge am „Leuchtturm“ bleibt immer genügend Zeit, auch die Umgebung in Augenschein zu nehmen. Ob Asseln, Spinnentiere oder Käfer, sie alle müssen erfasst werden, will man die Tierwelt an der Beobachtungsstelle dokumentieren. Diese Krabbler leben am Boden, versteckt unter dem abgefallenen Laub des Vorjahrs. Auf dem Laub aber kann man noch andere Dinge erkennen, Fraßspuren von Schmetterlingsraupen und Fliegenmaden, oder die Spuren von Pflanzenwespen. Und dann gibt es da noch so merkwürdige kugelige Gebilde an verwelkten Ahornblättern. Ein Foto ist schnell gemacht, doch es führt die automatische Bilderkennung an ihre Leistungsgrenze: Mit hundertprozentiger Sicherheit handle es sich um Gallen der Eichenblattwespe, meinte die künstliche Intelligenz. Das Ergebnis konnte nur falsch sein, aber es war ein wertvoller Hinweis, wo weiter zu suchen ist. Während an Eichen mindestens 80 Prozent aller heimischen Gallwespenarten ihre Spuren hinterlassen, wird Ahorn von genau einer Art als Wirtspflanze genutzt. Die kugeligen „Kinderstuben“ der Ahorngallwespe (Pediaspis aceris) sehen zwar den Eichengallen zum Verwechseln ähnlich, lassen sich aber über die Wirtspflanze eindeutig ihrem Verursacher zuordnen. Die Gallen des Vorjahrs sind – wie die verwelkten Blätter, auf denen sie sitzen – unansehnlich braun. Frische, farbige Gallen sucht man am besten an den Blättern junger Bäume in Augenhöhe. Auf der Blattoberseite zeigen sie sich als leuchtend rote Verfärbung. Erst wenn man das Blatt umdreht, werden die runden, grünen bis roten Gebilde sichtbar.
Aber was sind eigentlich Gallen? Eine beträchtliche Zahl an Insektenarten ernährt sich zumindest in einem Lebensstadium von Pflanzen. Manche bevorzugen eine einzige Futterpflanze, andere sind weniger wählerisch. Larven von Fliegen und kleinen Nachtfaltern fressen innerhalb des Blattes und lassen die Außenwände unversehrt. Unter ihnen sind sie vor Fressfeinden geschützt. Nicht selten ist die Kombination aus Fraßmuster und Blattart für die Minierer artdiagnostisch. Raupen von größeren Faltern und Larven von Pflanzenwespen verzehren gleich das ganze Blatt. Gallwespen und Gallmilben aber haben eine andere Strategie entwickelt. Sie stechen ihre Eier ins Blatt. Dabei geben sie hormonell wirkende Stoffe ab, die das Wachstumsprogramm der Pflanze manipulieren. Die Pflanze reagiert mit Wucherungen an der Einstichstelle. Wie dies im Detail funktioniert, ist weiterhin unbekannt. Dass die abgelegten Eier selbst das Wuchern der Gallen auslösen, gilt aber als unwahrscheinlich. Eine Galle besitzt meist eine harte Hülle, ihr Inneres aber besteht aus einem weichen Gewebe. Die aus dem Ei geschlüpfte Larve nutzt dieses als Nahrungsvorrat. Sie lebt dabei in einer kleinen Kammer, in der sie sich auch verpuppt. Nach dem Schlupf frisst die Gallwespe ein kreisförmiges Loch und durchbricht so die Hülle zur Außenwelt.
Die Ahorngallwespe hat einen sehr merkwürdigen Fortpflanzungszyklus. Wie bei etlichen anderen Gallwespenarten auch, wechselt eine sexuelle Generation mit einer asexuellen. Im Herbst nach der Paarung legen die befruchteten Weibchen ihre Eier an die Wurzeln ausschließlich des Bergahorns. Unter der Erde – und damit vor Frost geschützt – entwickeln sich 3 bis 10 Zentimeter große, traubenartige Komplexe als Überwinterungsquartiere, die Wurzelgallen. In ihnen verbringen die Larven gleich zwei Winter. Im zeitigen Frühjahr schlüpfen ausschließlich Weibchen. Diese werden nicht befruchtet, sondern vermehren sich parthenogenetisch ohne Mithilfe eines Männchens („Jungfernzeugung“). Sie sind es, die ihre Eier auf den Blättern von nun mehreren Ahornarten platzieren. In den auffälligen Gallen entwickelt sich dann die sexuelle Generation mit Weibchen und Männchen. Ihr steht ungleich weniger Zeit zur Reifung zur Verfügung: Bereits im Sommer, noch bevor der Baum seine Blätter abwirft, müssen die Tiere schlüpfen, damit sie sich rechtzeitig vor dem Winter wieder paaren können. Damit umfasst ein vollständiger Fortpflanzungszyklus zwei ganze Jahre.
Dies wäre der Idealfall. Aber eine kleine Erzwespenart mit Namen Dichatomus acerinus parasitiert die kugeligen Blattgallen und legt in ihnen jeweils ein Ei ab. Durch den „Untermieter“ (Inquiline) verwandeln sich die glatten Kugeln zu massiven, holzigen Gebilden mit zipfelartigen Fortsätzen. Die Larve der Ahorngallwespe verliert dadurch ihre Nahrungsgrundlage, und möglicherweise wird sie auch durch das nachträgliche, übermäßige Wachstum der Galle erdrückt. Aber es geht noch etwas komplexer. In wärmebegünstigten Regionen nördlich der Alpen – zum Beispiel am Oberrhein nördlich von Basel – konnte sich in den letzten Jahren der kleine Ahornrüssler (Curculio vicetinus) etablieren. Dieser vermutlich ursprünglich im asiatischen Raum beheimatete Käfer benötigt für seine Fortpflanzung Gallen der Ahorngallwespe Pediaspis aceris, die von der Erzwespe Dichatomus acerinus als Inquiline befallen und verändert worden sind. So dient die Wucherung am Blatt des Bergahorns gleich drei unterschiedlichen Arten als „Babystube“. Ob der Ahornrüssler allerdings bereits in Vorarlberg angekommen ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Möglich wäre es, denn wärmeliebende Tierarten, die sich am Oberrhein etablieren konnten, finden immer häufiger den Weg den Hochrhein entlang Richtung Bodensee und weiter ins Alpenrheintal. Es bleibt spannend, welche Überraschungen die Natur in Zukunft für uns bereithält.

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