Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Die Schule der Zukunft

November 2015

Österreichweite Stagnation, Bewegung in Vorarlberg – die Landespolitik arbeitet an der gemeinsamen Schule, auch gegen Widerstände in Vorarlberg. Drei Mittelschulen gehen derweil einen neuen Weg, inspiriert von einer preisgekrönten deutschen Schule. Markus Hengstschläger und Richard David Precht, Referenten beim Bildungsforum am 11. November, sagen, wie sie sich die Schule der Zukunft vorstellen – und warum im österreichischen Bildungssystem ein unglaublicher Modernisierungsrückstand herrscht.

Der Film „Der Club der toten Dichter“ ist insgesamt sehenswert. Aber eine Szene ist wohl unvergessen – und zwar jene, in der der Lehrer John Keating auf sein Pult steigt und die Schüler auffordert, es ihm gleichzutun, um Neues zu wagen, neue Perspektiven zu entdecken. Die Geschichte endet tragisch. John Keating, der von Robin Williams gespielte Lehrer, scheitert an den Widerständen des Systems, das sich über viele Jahrzehnte manifestiert hat und veränderungsresistent ist. Und in dieser Hinsicht ist „Der Club der toten Dichter“ auch eine Beschreibung der hiesigen bildungspolitischen Realitäten. Denn Veränderung im Schulsystem ist nicht erwünscht, nach wie vor nicht, und Lehrer und Schüler dürfen sich nur in stark abgegrenzten Bereichen bewegen – obwohl Versäumnisse längst in aller Schärfe dokumentiert sind und internationale Schüler-Leistungstests Dramatisches zeigen. Auch wenn es hinlänglich bekannt ist, soll es wiederholt sein: Ein Fünftel der österreichischen Schulabgänger kann nicht sinnerfassend lesen und kaum rechnen.

„Ein unglaublicher Rückstand“

Den Anforderungen von Gesellschaft und Wirtschaft wird das österreichische Schulsystem nicht mehr gerecht. Aber wie sollte es auch? Wesentliche Teile des in Österreich auch heute noch praktizierten Unterrichts stammen aus dem 18. und 19 Jahrhundert. Stunden- und Jahrgangseinteilung, Notensystem und Fächerkanon, auch die Zweigliedrigkeit des Schulsystems sind nur einige der Relikte aus dieser Zeit. In der unter Maria Theresia in Kraft getretenen Allgemeinen Schulordnung wurde verfügt, dass sämtliche Schüler einer Klasse dasselbe „zu sehen, zu hören, zu denken und zu tun“ hätten. Diese Philosophie liegt dem österreichischen Schulwesen auch heute noch zugrunde. „Im Bildungssystem“, klagt Philosoph Richard David Precht, „herrscht ein unglaublicher Modernisierungsrückstand.“

Eine zielgerichtete bildungspolitische Debatte müsste genau an dieser Stelle ansetzen. Überkommene Traditionen sind über Bord zu werfen, diese damals verankerte und in Fächer portionierte Verteilung des Wissens beispielsweise. Lehrpläne sind zu entrümpeln, die Anforderungen der heutigen Zeit zu definieren. Neue, zeitgemäße Fragen müssten gestellt und beantwortet werden, etwa ob Österreichs Schülern überhaupt das beigebracht wird, was in der heutigen Welt von Belang ist und was man auf dem Weg in ein erfolgreiches Leben braucht. Es hat eine inhaltliche Debatte stattzufinden, für jede einzelne Schulform – und das, bevor man sich in sinnlosen Strukturdebatten ergeht. Würden sich Österreichs Politiker mit der selben Verve einer inhaltlichen Diskussion widmen wie der Frage, welchen Namen die Schule der Zukunft bekommen soll, wäre schon vieles gewonnen. Wenn der Genetiker Markus Hengstschläger über die Schule der Zukunft spricht, dann sagt er: „Eine gute Schule hat nicht allen dasselbe beizubringen. Eine gute Schule muss die jeweilige Stärke eines Kindes erkennen und entsprechend fördern.“ Klar. Auf dem Arbeitsmarkt sind später individuelle Fähigkeiten gefragt. Precht spricht davon, dass die Revolution der Digitalisierung längst schon begonnen habe: „Aber die Schule bleibt stehen.“ Von Stefan Thomas Hopmann, Universitätsprofessor für Bildungswissenschaften in Wien, stammt der Satz: „Im Wesentlichen organisieren wir Schule immer noch wie zu Maria Theresias Zeiten – als geschlossene Anstalt, in der Staatsbedienstete und Schulpflichtige Dienst nach Vorschrift leisten sollen.“ Längst fällige Reformen bleiben aus und alte Lehrpläne in Kraft. Überalterte Strukturen werden verteidigt, Bundespolitik und Gewerkschaften verharren im Stillstand, Veränderung wird der Ideologie geopfert. Und wer da Engagement zeigt oder Reformen einmahnt, dem ergeht es bisweilen, wie es John Keating ergangen ist. Jean Anouilh, der französische Dramatiker, hat einmal geschrieben: „Es muss das Leben ungemein beruhigen, wenn man weiß, dass man beim geringsten Anzeichen von Initiative sofort gehenkt wird.“

Vorarlberg? Gute Ansätze

Umso beachtenswerter ist, was sich in den vergangenen Monaten in Vorarlberg getan hat. Die hiesige bildungspolitische Landschaft ist in Bewegung gekommen – auf Landesebene mit dem Bekenntnis zur landesweiten Errichtung der gemeinsamen Schule, im Unterland mit dem Engagement der Verantwortlichen in den Mittelschulen Hard-Markt, Wolfurt und Höchst. Inspiriert von der preisgekrönten IGS Göttingen, kommen in bestimmten Klassen dieser drei Schulen bereits neue pädagogische Konzepte zum Tragen. In Wolfurt, Hard und Höchst hat man den klassischen Frontalunterricht gegen Unterricht in Tischgruppen eingetauscht, in Wolfurt werden Lernentwicklungsberichte verfasst, in Hard bestimmte Themen auch jahrgangsübergreifend unterrichtet, Eltern verstärkt eingebunden. Zwar haben die Schulen nicht komplett umgestellt. Aber in den Klassen, in denen die Neuerungen zum Tragen kommen, sind Schüler, Eltern und Lehrer begeistert. Heterogenität wird begrüßt, Individualisierung großgeschrieben, und doch auf gemeinsames Lernen in anderer Form gesetzt und Schulpädagogik damit im Rahmen des Möglichen neu definiert. Was ist eigentlich so schlecht an dem Passus der Allgemeinen Schulordnung, wonach alle Schüler einer Klasse dasselbe „zu sehen, zu hören, zu denken und zu tun“ hätten? Hengstschläger sagt: „Nehmen wir ein Kind, das meinetwegen in fünf Fächern vier Nicht genügend und ein Sehr gut hat. Dann wird das Kind daheim und in der Schule hören, dass es in dem Sehr-gut-Fach nichts mehr tun muss, aber in den Fächern lernen soll, in denen es einen Fünfer hat.“ Und was ist die Folge? Das Kind werde sich nur noch mit seinen Schwächen beschäftigen und seine Stärken vernachlässigen. „Infolge­dessen wird das Kind am Ende auch in dem Fach, in dem es ursprünglich ein Sehr gut hatte, nur noch Durchschnitt sein.“ Natürlich brauche es ein Grundwissen, einen Grundstock an Bildung: „Aber wir konzentrieren uns nur auf das Ausmerzen der Schwächen. Und nicht darauf, die Stärken zu stärken.“

Vorbild Göttingen

Wolfurt, Hard-Markt, Höchst – drei Mittelschulen haben sich auf den Weg gemacht, setzen inhaltliche Neuerungen um, unterstützt von der Wirtschaftskammer, wissenschaftlich begleitet von der Universität Göttingen. Eine gute Schule müsse sich an ihrem Standort entwickeln, mit ihren jeweiligen Gegebenheiten, mit engagierten Lehrern, sagt der Wolfurter Direktor Norbert Moosbrugger. Christian Grabher, Direktor der Mittelschule Hard-Markt, erklärt: „Eine innovative Schule entsteht. Wir nutzen die vorhandenen Spielräume.“ Hard kommt dem Vorbild Göttingen übrigens in noch einer Weise nach: Der anstehende Neubau des Schulzentrums, in dem künftig die Sechs- bis 14-Jährigen der Volks- und Mittelschule Markt unter einem Dach unterrichtet werden sollen, wird von den Anforderungen einer Schule der Zukunft geprägt sein. „Die Gemeinde Hard hat uns ein pädagogisches Konzept erstellen lassen, auf dessen Basis die Ausschreibung für den Architekturwettbewerb erfolgt ist.“ Genauso entstand in den 1970er-Jahren auch die IGS Göttingen. In Niedersachsen ist noch etwas bemerkenswert: Dort wurde keine Schulform abgeschafft. Dort wurde mit der IGS nur eine neue Schulform zugelassen. Die IGS setzte sich als bessere Schule durch. Nächstes Jahr wird es in Göttingen keine Haupt- und keine Realschulen mehr geben, ein bis zwei Gymnasien werden schließen – mangels Nachfrage.

Verschlossene Türen

In Vorarlberg hat sich die Landespolitik auf das Bekenntnis festgelegt, in acht bis zehn Jahren im Land die gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen einführen zu wollen, auf Basis eines zweijährigen Forschungsprojekts. Bis Jahresende soll ein Stufenplan zur schrittweisen Umsetzung vorliegen, sollen rechtliche, finanzielle und organisatorische Fragen geklärt sein. Landesrätin Bernadette Mennel spricht von einem wichtigen Vorbereitungsprozess. Doch die Debatte über die Inhalte der neuen Schule – laut dem Forschungsbericht etwa können sich Lehrende auf eine Pädagogik der Individualisierung einstellen – wird bislang nur intern, nicht aber öffentlich geführt. Erst jüngst informierte Mennel die Bildungssprecher der Parteien über den Stand der Dinge – in einer streng vertraulichen Sitzung, hinter verschlossenen Türen. Was politisch verständlich ist, ist in der öffentlichen Wahrnehmung ein Problem. Mennel sagt: „Mir ist jedes Kind ein unglaubliches Anliegen, ich möchte, dass jedes Kind bestmöglich gefördert wird.“ Die Landesrätin spricht von einer „späteren Bildungswegentscheidung“ und einer „gemeinsamen Schule mit innerer Differenzierung und Individualisierung“.

Inhalte kommunizieren!

Klar ist, dass mit der gemeinsamen Schule die antiquierte und sozial schädliche frühe Selektion der Kinder überwunden wird. Klar scheint auch zu sein, dass die gemeinsame Schule als Ganztagsschule geführt werden wird. Aber was soll an der neuen Schule wie gelehrt werden?  Inhalte wurden bis dato nicht kommuniziert. Es gibt keine öffentliche inhaltliche Diskussion über die Schule der Zukunft. Und das ist falsch. Auch unter der Annahme inhaltlicher Verbesserungen gilt: Je mehr bekannt würde, was die zukünftige Schule sein soll, umso größer würde vermutlich das Verständnis für den neuen Weg. Dringend wäre auch eine für den Wirtschaftsstandort Vorarlberg entscheidende Frage zu klären: Wie will man verhindern, dass die gemeinsame Schule der Wirtschaft die so notwendigen Lehrlinge entzieht? Eine weitere Akademisierung der Gesellschaft, davor warnt beispielsweise der Schweizer Ökonom Rudolf Strahm, hätte gravierende negative Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Gesellschaft. Die europäischen Länder mit der höchsten Akademisierungsrate haben gleichzeitig auch die höchsten Jugendarbeitslosigkeitsraten.

Türschild? Unwichtig

Doch die politische Diskussion beschränkt sich darauf, was auf dem Türschild der neuen Schule stehen soll. „Wie das Ding heißt, ist doch vollkommen unerheblich. Wichtig ist, was dort unterrichtet wird – und wie dort unterrichtet wird“, sagt Hengstschläger salopp. Dringend wäre zu definieren, wie man in der neuen Schule die Fehler der alten Schule vermeiden will. Eine öffentliche inhaltliche Debatte wäre hilfreich, zumal die Vorarlberger ÖVP ja nicht nur die Zustimmung ihrer eigenen Bundespartei brauchen wird, sondern sich auch in Vorarlberg Kritikern aus den eigenen Reihen stellen muss. Denn da propagiert die Initiative „Pro Gymnasium“, angeführt vom ehemaligen ÖVP-Landesrat Rainer Gögele, den Erhalt der AHS als Langform und macht mobil gegen die gemeinsame Schule. „Dass das nicht funktioniert, wissen wir seit Jahrzehnten“, wird Gögele im Internet zitiert. Es ist eben ein ideologisch vermintes Gelände. Als im Nationalrat jüngst nach dem Stand der Dinge gefragt wurde, teilte Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek, an sich ja eine Befürworterin der gemeinsamen Schule, mit, Vorarlberg solle ein Modell vorlegen. „Ich warte darauf, und dann werden wir das beraten.“ Klar. Dabei gäbe es einen Mittelweg – jene drei Mittelschulen in Wolfurt, Hard und Höchst mit Nachdruck und rasch auf ihrem neuen Weg zu fördern, ihnen größtmögliche Autonomie zu gewähren und damit Wettbewerb zuzulassen. Das ist mit Sicherheit effizienter, als auf Wien zu setzen.

 

Interview: Markus Hengstschläger
Genetiker, Universitätsprofessor, Schriftsteller – Autor „Die Durchschnittsfalle“

Warum produziert das Bildungswesen Durchschnitt?
Weil wir uns auf das Ausmerzen der Schwächen konzentrieren und den Kindern nicht genügend Zeit lassen, die Stärken zu stärken. Österreich hat ein unglaublich effizientes System entwickelt, den Kindern zu sagen: Hängt euch dort rein, wo ihr euch nicht auskennt. Da kann nur Durchschnitt herauskommen.
 
Was müsste die Schule der Zukunft machen?
Etwas, was es in Österreich bisher nicht gibt. Ich nenne das den aktiven Verzicht auf mehr als unbedingt notwendig bei den jeweiligen Schwächen, um sich voll auf seine Stärken konzentrieren zu können. Unser Schulsystem muss individueller werden. Es braucht ein Talent-Scouting. Und es braucht bessere Möglichkeiten, junge Menschen zu motivieren.
 
Sind Sie für die gemeinsame Schule?
Dieser Begriff ist völlig unklar. International gesehen wird dieser Name für ganz verschiedene Sachen verwendet. Im Übrigen ist es vollkommen unerheblich, wie das Ding heißt. Der springende Punkt ist, was in dieser Schule unterrichtet wird und wie dort unterrichtet wird. Österreich muss sich nicht damit befassen, ob die Schule der Zukunft nun Gesamtschule heißt oder nicht – Österreich muss sich mit der Frage beschäftigen, was in dieser Schule passieren soll.

 

Interview: Bernadette Mennel, Schul-Landesrätin

Die Landespolitik hat sich auf die gemeinsame Schule festgelegt, braucht zur Umsetzung allerdings auch die Zustimmung des Bundes …
Ja. Für eine rechtliche Umsetzung benötigen wir den Bund. Ob die Einrichtung einer Schule der 10- bis 14-Jährigen landesweit möglich ist, diese Entscheidung obliegt dem Bund.

Also könnte der Bund selbst ein fertig ausgearbeitetes Modell kippen?
Ich bin zuversichtlich, dass auch der Bund davon überzeugt werden kann, dass eine Weiterentwicklung der Schule der 10- bis 14-Jährigen wichtig ist. Wir haben der Ministerin das Forschungsprojekt präsentiert, auch im Beisein aller Landesschulratspräsidenten, und da ist es sehr positiv bewertet worden. Wir müssen beim Bund aber weiterhin Überzeugungsarbeit leisten, damit er die rechtlichen Voraussetzungen schafft. Ich hoffe, dass wir so viele überzeugen, dass es die notwendigen Mehrheiten gibt.

Klingt schwierig …
Für viele Fragen ist der Bund zuständig, umso mehr braucht es dort Reformkräfte – und Mut zu Reformen. Es braucht Mut zu einer Bildungsreform! Das ist das Bohren harter Bretter, ein steter Appell, dass es Veränderungen braucht und dass sich nicht diejenigen durchsetzen, die alles bewahren wollen. Ich habe schon das Gefühl, dass einiges aufbricht. Viele sagen, dass sich was tun muss. Aber es gibt natürlich auch Innovationsresistente. Und klar ist: Hätten wir im Land mehr Kompetenzen, wäre vieles einfacher. Aber, was sehr erfreulich ist:  Kein Bundesland hat sich so auf den Weg gemacht wie Vorarlberg.
Wir sind das innovativste Bundesland!
Die gemeinsame Schule wird eine spätere Bildungswegentscheidung bringen, eine gemeinsame Schule mit innerer Differenzierung und Individualisierung. Mir ist jedes Kind ein unglaubliches Anliegen und ich möchte, dass jedes Kind bestmöglich gefördert wird.

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