Jörg Maria Ortwein

Kreativität als Bildungsfaktor

Mai 2017

Anlässlich der Jubiläumsveranstaltung zur Gründung der Universität Konstanz vor 50 Jahren erklärt der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretsch­mann in seiner Jubiläumsrede im Audimax der Universität, dass die Voraussetzungen für Kreativität und Innovation in einer Kultur der Kreativität zu finden sind. Auf die Bedeutung von Kreativität, beispielsweise in Problemlösungsprozessen, weist auch der Erfinder des PISA-Tests, Andreas Schleicher, seines Zeichens Direktor für Bildung in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), hin. Er vergisst jedoch nicht darauf hinzuweisen, dass musische und künstlerische Fähigkeiten in allen Ausgaben des PISA-Tests seit 2001 nicht berücksichtigt wurden.

Dass insbesondere die deutschsprachigen Staaten in diesen Tests im internationalen Vergleich nicht besonders gut abschnitten, führte mit dazu, dass die Rufe nach Fokussierung auf die MINT-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, an den Schulen immer lauter wurden. Hinzu kommt, dass insbesondere für Industriebetriebe die schulische Vorbildung ihrer zukünftigen Mitarbeiter in diesen Fächern eine besondere Bedeutung hat. So kann in Deutschland beobachtet werden, dass die Industrie versucht, unmittelbar ihren Einfluss auf Lehrpläne an Schulen geltend zu machen.

Dies alles führt derzeit in der Bildungslandschaft dazu, dass sich das schulische Bildungsangebot zunehmend auf die Verwertbarkeit von Handlungswissen für das künftige Berufsleben konzentriert und Fächer wie Musik oder Kunst zunehmend den MINT-Angeboten in der Schule weichen müssen. Obwohl reflexive und kreative Fähigkeiten zwar nicht messbar sind, aber das eigentliche Neuerungspotenzial und damit den eigentlichen geistigen Rohstoff für die Entwicklung mitteleuropäischer Gesellschaften beinhalten, steht es beispielsweise um den Musik­unterricht in allgemeinbildenden Schulen in allen deutschsprachigen Ländern – vorsichtig ausgedrückt – nicht besonders gut.

Manche großen Unternehmen haben diese Problematik erkannt und suchen geeignete Wege, um ihr Unternehmen mit diesen Entwicklungen in Einklang zu bringen. So bildet der Bertelsmann-Konzern in Deutschland gezielt Geisteswissenschaftler zu eigenen Führungskräften aus, da es aus Sicht der Unternehmensleitung gerade diese Gruppe von Universitätsabsolventen ist, die eine überdurchschnittliche Leidenschaft für die Sache und die Fähigkeit zur Problemstrukturierung und Problemlösung mitbringt.

Dennoch zeigt sich, dass die Forderung nach MINT und die Allmacht der Pisa-Tests zu einer zunehmenden Verengung des Bildungsbegriffs führen, in dem Kreativität zu einer Randerscheinung wird. Wie der Titel „Programme for International Student Assessment“ schon zeigt, geht es in den PISA-Tests primär um das Messen von Bildung. Aber wie soll künstlerisches oder kreatives Lernen an Schulen gemessen werden? Die Kritik an der Zielsetzung, aber auch Kritik an der Methodik, statistische Mängel sowie Zweifel an der interkulturellen Vergleichbarkeit und hier insbesondere auch das Problem von adäquaten Übersetzungen der Testbögen hat mittlerweile zu vielen akademischen Diskursen geführt. Trotzdem ist die Gewichtung der Ergebnisse aus den PISA-Tests für strategische Schul- und Bildungsentscheidungen nicht überhörbar.
Es muss die Antwort auf das Spannungsfeld MINT versus Kunst- und Musikunterricht auf das bevorstehende Leben als Erwachsener nicht so eindeutig ausfallen, wie es die Zeile „We learned more from a three-minute record than we ever did at school“ des US-amerikanischen Musikers Bruce Springsteen in seinem Song No Surrender aus dem Jahr 1974 vermuten lassen könnte. Auch sind die Voraussetzungen für kreatives und musisches Lernen in Vorarlberg bei Weitem nicht mit anderen Regionen vergleichbar, hat doch allein die musikalische Bildung in unseren Breitengraden einen sehr hohen Stellenwert. Die Zahl der 15.000 Kinder und Jugendlichen, die an Vorarlberger Musikschulen ein Instrument lernen oder sich mit ihrer eigenen Stimme beschäftigen, liegt weit über dem österreichischen Schnitt. Die Entwicklung zu ganztägigen Schulformen führt dazu, dass weitere gesellschaftliche Kreise für die musikalische Bildung erschlossen werden können. Es werden schon heute über 1600 Schüler in Kooperationsprojekten zwischen Musikschulen und allgemeinbildenden Schulen – und hier insbesondere auf der Ebene der Volksschulen – unterrichtet.

Für die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Vorarlberg sind gut aufgestellte Bildungs- und Kulturmöglichkeiten ein zentraler Faktor. Hierzu zählt aber nicht zuletzt auch die Breite der angebotenen Bildungsmöglichkeiten. Welche Bedeutung musikalische Aspekte als Innovations- und Integrationsfaktoren für Unternehmen in der Bodenseeregion haben, untersucht derzeit das Vorarlberger Landeskonservatorium zusammen mit der Fachhochschule St. Gallen und der Zürcher Hochschule der Künste in einem Forschungsprojekt der Internationalen Bodenseehochschule.

Aber selbst wenn alle Bildungsverantwortlichen um einen verantwortungsbewussten Ausgleich zwischen MINT und Kunst- beziehungsweise Musikunterricht an den Schulen bemüht sind, könnte in der derzeitigen Ausbildungssituation von Lehrern der Sekundarstufe in Vorarlberg ein brisantes Moment liegen. Mit der Reform der Lehrerbildung in Österreich wurde die gesamte Sekundarausbildung in die Verantwortung der Universitäten übergeben. Die bisherige universitäre Ausbildung von Musik- und Kunstlehrern konnte schon bislang kaum die Gymnasien ausreichend mit Nachwuchskräften ausstatten. Mit dem Wegfall der Fächer Bildnerische Erziehung und Musikerziehung aus dem Angebot der Pädagogischen Hochschulen ist insbesondere für Vorarlberg, das über keine eigene Universität verfügt, ein Vakuum absehbar, das durch die bevorstehende Pensionierungssituation noch verschärft werden dürfte.

Um hier noch rechtzeitig Lösungen zu finden, sind Weichenstellungen und Kooperationen zwischen Bildungsinstitutionen in Vorarlberg und den zuständigen Universitäten auf Augenhöhe notwendig. Es darf nicht den Entwicklungsstrategien der Universitäten überlassen bleiben, ob Kreativität fördernde Bildungsangebote als ebenso wichtige Faktoren wie die Lernangebote aus dem Bereich MINT für den Wirtschaftsstandort Vorarlberg weiterhin angeboten werden oder mangels Nachwuchs aufgegeben werden müssen. Leider kam es in Vorarlberg bislang zu keiner Universitätsgründung, die wie in Konstanz gebührend gefeiert werden könnte. Die Herausforderungen für die Vorarlberger Bildungslandschaft dürften aber mit Blick auf Kreativität und Innovation auch mit einer Universität im Lande nicht kleiner sein.

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