Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Man sieht das Offensichtliche – und versteht das Wesentliche nicht“

November 2017

Bestsellerautor Gunter Dueck (65) sagt im Interview mit „Thema Vorarlberg“, dass Bildung in Zeiten der Digitalisierung dringend neu gedacht werden müsse: „Auf den Menschen werden ganz andere Herausforderungen zukommen, als nur das große Einmaleins zu können.“ Der Mathematiker über Kreativität, richtiges Lernen – und einen alten Kult, der als Synonym für viele der heutigen Debatten steht. Dueck ist einer der Referenten des Bildungsforums am 7. November im Festspielhaus Bregenz.

Sie gehen in Ihrem aktuellen Buch „Flachsinn“ auch auf den Cargo-Kult ein. Was ist das denn für ein Kult, Herr Dueck?

Dieser Kult stammt aus dem US-amerikanisch-japanischen Krieg. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Amerikaner auf Melanesien, auf diesen kleinen Inseln im Pazifik, für ihre Cargo-Flugzeuge Landebahnen und Holztürme als Behelfstower errichtet. Die Ureinwohner standen staunend neben den Landebahnen, sie hielten die ankommenden Flugzeuge für etwas Göttliches und sagten sich, dass die weißen Menschen sehr mächtige Ahnen haben mussten: Denn jedes Mal, wenn ein Amerikaner den Holzturm bestieg und dort geheimnisvolle Worte sprach – also offenkundig zu den Ahnen betete – kam ein Flugzeug und brachte Nachschub. Aus dieser Beobachtung heraus entstanden die Cargo-Kulte: Nachdem die Amerikaner wieder weg waren, errichteten die Ureinwohner ebenfalls Landebahnen und Holztürme und beteten von dort aus zu ihren Ahnen, Flugzeuge mit Verpflegung zu schicken. Das wurde für Jahre zur Religion in Melanesien. In neuerer Zeit verwendet man den Begriff Cargo-Kult, um zu beschreiben, dass man zwar das Offensichtliche sieht, also die Landebahnen und die Türme, das Wesentliche aber nicht versteht …

Soll heißen, dass Menschen Sachen imitieren, die sie im Kern gar nicht verstanden haben?

Ja. Und es gibt besonders in der heutigen Politik ganz viele Maßnahmen, die ich als Cargo-Kult zu ächten versuche. Ständig werden neue Projekte, Erfindungen, Ideen präsentiert. Früher sagte man, dass da immer wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird; aber all diese dumm einfachen Erwägungen halten sich keine Sekunde mit der Reflexion auf, in diesem Fall über Bildung. Da heißt es dann beispielsweise nur, dass die Anzahl der Schuljahre geändert werden müsste, von neun auf acht und wieder zurück, und alles würde besser. Als würde die Bildung durch solche kosmetischen Korrekturen zeitgemäßer! Nur über die Frage als solche, was wir im nächsten Jahrzehnt eigentlich an Bildung brauchen, will keiner nachdenken! Nein, man macht lieber am Lehrplan herum und ändert da und dort ein bisschen und verkauft das Ganze den Menschen dann als Leuchtturmprojekt. Meiner Meinung nach sollte man diese Projekte gleich schon in Holzturm-Projekte umbenennen, dann weiß man wenigstens, was sie sind: Nichts anderes als Cargo-Kulte!

Ergo sind Bildungspolitiker – im übertragenen Sinn und zynisch gefragt – die Ureinwohner, die staunend versuchen, nachzuahmen, was sie nicht verstanden haben?

Sie haben die Landebahnen und Türme noch nicht einmal gesehen! Und das ist ja noch schlimmer! Man hat ja noch nicht einmal neu nachgedacht, was Bildung jetzt eigentlich sein soll. Zur Erinnerung: Bevor er als Attaché nach Wien ging, hatte Wilhelm von Humboldt in seiner kurzen Zeit als Minister um 1809 in Preußen ein wirklich gutes Bildungssystem aufgebaut. Humboldt hatte nachgedacht, was der Staat Preußen eigentlich an Bildung braucht, um vernünftig funktionieren zu können. Und daraus ist dann das Schulsystem entstanden, das erst in den 1960er-Jahren wieder neu gedacht wurde. Damals hatte man mehr Leute ins Studium bringen wollen, man baute viele neue Universitäten und hat die Bildung um den Preis des Praxisbezuges verwissenschaftlicht, um einen guten Einstieg in ein Studium zu erleichtern. Das brachte große Umwälzungen. Und heute? Heute sollten wir wieder nachdenken, welche Bildung wir haben wollen. Im Zuge der Digitalisierung eröffnen sich ganz neue Berufsfelder, und auf den Menschen kommen ganz andere Herausforderungen zu, als nur das große Einmaleins zu können.

Was sollte der junge Mensch denn lernen? Außer dem großen Einmaleins?

Wollen Sie Beispiele? Nachhaltiges Denken, langfristiges Denken, strategisches Denken, Empathie, soziale Intelligenz, Verantwortungsübernahme, einen Sinn für Professionalität bei der Arbeit – also all das, was im ganzen Bildungssystem nicht vorkommt. Das wird nicht den Kindern, auch nicht den Jugendlichen beigebracht. Wo und wie lernt man beispielsweise, wie man mit Menschen und Konflikten klarkommt? Man gibt die Kinder im Kindergarten ab, dort wird ihnen nicht viel mehr gesagt als „sei brav und benimm dich anständig“ und dann verlässt man, verkürzt gesagt, die Uni als Doktor mit 28 Jahren – und soll plötzlich Projekte leiten und sich mit anderen Leuten zusammenstreiten. Man soll also auf einmal etwas können, was man nie gelernt hat, was einem nie beigebracht wurde. Da ist die Bildung doch irgendwie falsch, oder?

Sie sagten in einem Vortrag: „Die junge Generation braucht auch die Fähigkeit, das Wichtige und Ernsthafte zu erkennen, ohne dass es vorgegeben ist.“

Wir haben durch die Digitalisierung einen Bruchpunkt in der Geschichte: Vor dem Jahr 2000 musste Wissen in Büchern erlesen werden, heute ist alles im Internet verfügbar. Da muss man ganz anders zurechtkommen, zumal man auch eines dringend thematisieren sollte: Ungeheuer viel von dem, was öffentlich gesagt wird, ist eigentlich nur Marketing. Alle möglichen Leute behaupten alle möglichen wahnwitzigen Sachen, die Produkte können schon alles und die Visionen werden sofort wahr. Ja, und wenn ich Vorträge zum angeblich neuesten Stand in Big Data oder Künstlicher Intelligenz halten soll und sage: „Bleibt mal auf dem Teppich, so weit ist die Mathematik noch gar nicht“, dann heißt es: „Oh, wie langweilig!“ Für den normalen Menschen ist es unmöglich, den aktuell möglichen Stand der Technik herauszubekommen, weil eben so viel von allem Marketing ist. Auch Politiker machen Marketing für ihre Cargo-Kulte; der eine fordert dies, der andere fordert das, man nimmt sich irgendein Thema, behauptet, dass es ganz einfache Lösungen gäbe, dass etwa das bedingungslose Grundeinkommen die Welt rettet, und versteift sich drauf. Und bei näherem Betrachten entdeckt man, dass da nur wieder ein neuer Cargo-Kult entstanden ist; über das eigentliche Thema kann man unter Umständen gar nicht mehr diskutieren.

Und das Schulsystem bleibt starr, während sich rundherum alles in rasender Geschwindigkeit ändert …

Es ändert sich nichts im System, weil immer irgendwo nur die Oberfläche diskutiert wird. Ein Beispiel: Es ist relativ bekannt, dass sich Schulleistungen verbessern, wenn die Klassen kleiner sind – weil die Kinder dann mehr Aufmerksamkeit bekommen. Das ist Common Sense. Ich habe dazu jetzt eine Studie gelesen: Da hat man kleine Schulen in Bayern und in Österreich betrachtet und untersucht, ob die Schüler wirklich besser sind, wenn sie nur zu sechst oder zu siebt in der Klasse sind. Und die Antwort war, dass es keinen Unterschied gebe zu größeren Klassen. Weil, und das ist der Punkt, die Lehrer in kleinen und in großen Klassen gleich unterrichtet haben! Die Reduktion der Klassengröße alleine ist also auch nur wieder ein Cargo-Kult – weil sie alleine nichts bringt. Die Reduktion brächte erst dann etwas, wenn der Lehrer sich auch die Zeit nehmen würde, auf jeden einzelnen Schüler einzugehen! Dazu müsste ich aber die Lehrmethode umstellen, also das ganze Paket ändern. Einfach nur sagen, die Klassengröße wird – beispielsweise – von 20 auf 15 reduziert und man bleibt dann beim gewohnten Unterricht, das verbessert gar nichts. Und dann ist es auch kein Wunder, dass man dann nach einer bestimmten Zeit sagt „Das bringt nichts, gehen wir wieder auf 20 zurück“ – und so geht es immer hin und her. Wie ich zuvor sagte: Es wird irgendwo immer nur die Oberfläche diskutiert.

John Hattie, der neuseeländische Bildungsforscher, sagt, dass letztlich nur der gute Lehrer über Erfolg oder Misserfolg der Schüler entscheide.

Natürlich! Man muss gute Lehrer haben, die einzeln auf die Kinder eingehen. Schauen Sie, um ein Beispiel aus einer anderen Welt zu geben, nur auf Jupp Heynckes und Bayern München. Da kommt der alte Trainer zurück, diese Lichtgestalt, und die Spieler haben wieder alle Lust am Fußball. Aber es gibt auch Unterschiede im gesellschaftlichen Umgang: In Skandinavien gilt es als Ehre, Lehrer sein zu dürfen; das ist dort ein ehrenwerter, in der Gesellschaft sehr anerkannter Beruf, der daher von den Besten ausgeübt wird – während bei uns die Besten eines Jahrganges nun nicht unbedingt Lehrer werden wollen. Bei uns heißt es ja eher, dass derjenige Lehrer wird, dem andere Wege verschlossen bleiben, das ist die gängige Meinung …

Zumal es, wie Sie im Buch feststellen, in der Gesellschaft auch kaum noch Autoritäten gibt.

Ja, das ändert sich überall. Und die Digitalisierung tut ihr Übriges dazu. Ein junger Mensch, der auf diesem Gebiet einigermaßen fit ist, ist schon relativ erschüttert, was ältere Menschen da alles nicht können, auch im beruflichen Alltag. Es gibt Rechtsanwaltskanzleien, die noch nach Faxnummern fragen. Es gibt den dokumentierten Fall, dass in einer Steuerprüfungskanzlei Leute die Akten mit der Schere vernichten mussten. Die hatten noch nicht einmal einen Aktenvernichter! Ja? Das sind natürlich skurrile Beispiele, aber es gibt eine ältere Generation, die nicht loslassen will und die sich über die vielen Bücher freut, in denen steht, dass Internet dumm macht. Was soll denn das? Wir kommen jetzt in die neue Welt und müssen deshalb auch mal fragen und feststellen, was wir in dieser neuen Welt brauchen. Wie sieht da Bildung aus? Im Übrigen ist es auch nur wieder so ein vorgeschobenes Pseudoproblem, zu sagen, man sollte Programmieren als Fach einführen; das sagt sich so leicht, aber das Problem ist ein anderes: Was schafft man denn vom Alten ab, wenn man das Neue will? Wenn man im Wandel ein neues Fach haben will, muss man ein altes abschaffen oder zumindest einschränken, weil der Schüler ja auch nur seine bestimmten Wochenstunden haben darf. Also, brauchen wir noch fünf Stunden Latein? Doch darüber wird nicht diskutiert. Da heißt es sofort: Wir geben vom Alten nichts her! Alles muss bleiben, wie es ist!

Apropos Unterricht …

Ich habe ein halbes Jahr mikroskopiert, heute kann ich hochauflösende Bilder auf dem Bildschirm superzoomen, da sehe ich die Bakterien auch. Derselbe Erkenntnisgewinn ohne Mikroskop in fünf Minuten. Es muss einem klar sein, dass in der heutigen Zeit bestimmte Sachen auf den Schüler wahnsinnig langweilig wirken – und er deswegen nichts davon behalten wird. Weil es ihn auch nicht interessiert! Man sollte dringend die Fragen suchen, die ein junger Mensch mit 15 Jahren in der heutigen Zeit für sich selbst stellt! Und diese Fragen sollte man im Unterricht beantworten und nicht so etwas Altes, das der junge Mensch ganz befremdlich findet. Man weiß ja, dass Kinder alles wunderbar schnell lernen. Wenn sie sich dafür interessieren. Dann kann ich doch den Unterricht auch einmal anders aufziehen und sagen, wir fangen mal mit dem an, was die Kinder eben am meisten interessiert – und vernetzen es dann. Wieso fängt man den Biologie­unterricht mit Amöben an? Und nicht mit Dinosauriern? Wieso lässt man Kinder Diagramme von den Monsunwinden aufzeichnen, wenn ein YouTube-Film das Ganze viel anschaulicher erklären könnte? Wieso zeigt man den 30-jährigen Krieg auf einer Wandkarte, wenn es gute Fernseh-Dokumentationen gibt? Mit den neuen Technologien können Sachen erklärt werden, die im Frontalunterricht nie erklärt werden könnten. Vieles wirkt auf die Kinder heute wie Vergangenheit. Lasst uns doch Zeit und Raum gewinnen!

Sie sagten in einem Vortrag auch, dass die meisten Kinder ihre Kreativität auf dem Weg zur Matura verlieren …

95 Prozent der kleinen Kinder sind sehr kreativ, aber nur noch fünf Prozent der 20-Jährigen. Es gibt da einen weltweit durchgeführten Kreativitätstest, bei dem Kindern eine Büroklammer mit der Aufforderung gezeigt wird, in fünf Minuten möglichst 100 Verwendungsmöglichkeiten für diese Büroklammer zu nennen. Für aufgeweckte Kinder zwischen fünf und sieben Jahren ist das kein Problem. Die bekommen glänzende Augen, sind begeistert, antworten umgehend – während die 20-Jährigen abwinken und keine Lust mehr haben, sich Antworten zu überlegen. Sie sind zu müde, um nachzudenken. Das gibt auch die Stimmung in Unternehmen wieder, wenn es heißt, jetzt sprechen wir mal über die Zukunft. Kinder würden strahlend ihr Gehirn schweifen lassen, die Erwachsenen aber verdrehen alle die Augen und sagen sich, jetzt will der Chef schon wieder eine Innovation …

Welches Fazit ließe sich denn in Sachen Bildung ziehen?

Die Digitalisierung ist ein Einschnitt in der Menschheit, derart scharf, wie es einst der Buchdruck war. Also sollten wir Bildung dringend neu denken. Wir brauchen ein neues Konzept – ein neues Konzept! Nicht wieder einfach einen neuen Cargo-Kult.

Und wie wichtig sind da Veranstaltungsformate wie das Bildungsforum in Bregenz?

Hier treffen sich Leute, die tiefer interessiert sind und sich wirkliche Sorgen machen. Hier entsteht, wenn es gut läuft, gemeinsamer Mut zum Anpacken. Ich habe gerade heute Morgen einen Brief von einem Lehrer bekommen, der Bio tatsächlich mit Dinosauriern anfing. Das läuft super! Solche Erfahrungen müssen sich ausbreiten und festsetzen. Im Netz steht ja überall, was man tun könnte, aber der Austausch ist wichtig, um nach und nach die Kultur und vor allem das gemeinsame Denken zu verändern, das sich in der Bildung leider mehr mit der Festlegung von Konventionen als mit Erkenntnissen beschäftigt.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person
Gunter Dueck geboren am 9. Dezember 1951 in Hildesheim, ist Mathematiker und Autor weltanschaulich-philosophischer Sachbücher. Nach der Habilitation 1981 war Dueck fünf Jahre Professor für Mathematik an der Universität Bielefeld, 1987 wechselte er an das Wissenschaftliche Zentrum der IBM in Heidelberg. Bis August 2011 war er Chief Technology Officer (CTO) der IBM Deutschland. Dueck, in Pension, ist heute freischaffend als Business-Angel, Speaker und Autor tätig, mehrere seiner Bücher wurden Bestseller, zuletzt erschienen: „Schwarmdumm. So blöd sind wir nur gemeinsam“, 2015 und aktuell „Flachsinn. Ich habe Hirn, ich will hier raus“, 2017, beide Campus. Dueck lebt mit seiner Frau in Waldhilsbach bei Heidelberg und hat zwei Kinder. www.omnisophie.com

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