Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Das Comeback der lieben Grüße

Mai 2016

Seit seiner Studentenzeit schreibt Gerald Matt Postkarten an sich selbst, die inzwischen zu einer umfangreichen Sammlung, zu einer Art Reisetagebuch mit kurzen Anekdoten und Erlebnissen angewachsen sind. Matt interessiert sich auch für die Geschichte der Postkarte und ist fest vom Comeback dieses ein wenig aus der Mode gekommenen Kommunikationsmittels überzeugt.
Denn für ihn manifestiert sich in der Postkarte ein poetischer Widerstand zur rasenden Kommunikation unserer Tage. Voltaire sah bereits voraus: „Die Post ist die Trösterin des Lebens, denn sie verwandelt Abwesende in Gegenwärtige.“

Ich schreibe mir seit meiner Studienzeit von jeder Reise eine Postkarte und freue mich, wenn ich sie nach meiner Rückkehr in Händen halte. Inzwischen hat sich eine Art postalisches Tagebuch angesammelt, und gerne lese ich gelegentlich in meiner Sammlung. Kurze, im Telegrammstil formulierte Botschaften lassen einmal die Hitze einer Bootsfahrt den Senegalfluss hinauf wiederkehren, ein andermal den heftigen, nahezu handgreiflich werdenden Streit meines Freundes, des Fotokünstlers Paul Albert Leitner, mit Grenzbeamten am Flughafen von Havanna um die Einfuhr von im Marschgepäck mitgeführten Tiroler Kaminwurzen in die sozialistische Republik Kuba wieder aufleben, oder mich die Begeisterung bei der erstmaligen Ansicht der vollendeten Art-Deco-Architektur des stillgelegten Bahnhofs von Cincinnati wieder empfinden. Und mit dieser für manche etwas seltsamen Leidenschaft bin ich immer weniger allein. Die Postkarte erlebt gerade in Zeiten hektischer und immaterieller Kommunikation und allgegenwärtiger Erreichbarkeit durch Mails und SMS ein Comeback. Viele Menschen erfreuen sich schlichtweg wieder daran, dass ihre Lieben oder Freunde sich die Mühe machten, eine hübsche Postkarte zu kaufen, sie mit einer Botschaft oder auch nur mit Grüßen zu versehen, und dies in persönlicher Handschrift, um sie dann in einen Postkasten oder gar bis zur nächstgelegenen Post zu bringen. War sie für meine Generation auch als Allerweltsgrüße und touristische Pflichtübung für zu Hause gebliebene Tanten und Onkel verschrien, schätzen junge Menschen heute wieder ihre persönliche Note und ihre nostalgische Qualität und Anmutung.

Die Postkarte ist mittlerweile über 150 Jahre alt – erstmals in den USA 1861 zugelassen –, und sie hat ihren Charakter bewahrt. Auch heute noch ist sie meist rechteckig und aus Karton und als Ansichtskarte mit einem Foto versehen. Als eine offen lesbare Botschaft wurde ihre Einführung anfangs noch (in Preußen) wegen sittlicher und auch politischer Bedenken abgelehnt. Österreich-Ungarn zeigte sich da weltoffener und führte sie 1869 als „Correspondenzpostkarte“ ein. Zuerst noch selten genutzt, konnte zur Jahrhundertwende ein regelrechter Boom mit dem Versenden von Ansichtskarten verzeichnet werden. Im deutsch-französischen Krieg 1870/71 hatte sie erstmals Hochkonjunktur, Millionen von Postkarten wurden verschickt. Die jungen Männer wollten Lebenszeichen von der Front nach Hause schicken und manche Postkarte blieb die letzte Erinnerung an einen gefallenen Lieben.
Dass Postkarten auch zu Propagandazwecken verwendet wurden, belegen heroisch abgebildeten Soldaten beigegebene Texte wie „Jedem Russ’ ein Schuss“ oder bebilderte zwischenmenschliche Handlungsanweisungen, die jungen französischen Mädchen einen Landsmann ans Herz legen und gleichzeitig eindringlich raten, von einem deutschen Mann und Feind die Finger zu lassen. Die Postkarte hatte jedoch bald auch in nachfolgenden Friedenszeiten Konjunktur.

Die Postkarte aus exotischen Urlaubsdestinationen, die in Nachkriegs- und Wirtschaftswunderjahren noch Italien und Spanien hießen, galt als eindrücklicher Beweis des wirtschaftlichen Erfolges. Und wer nicht reisen konnte, bat in die Ferne schweifende Freunde, die mitgegebenen und vorgeschriebenen Postkarten aufzugeben, um so wenigstens den Anschein von Urlaubsglück und Wohlstand zu wahren.

Begann das goldene Zeitalter der Ansichtskarte nach dem ersten Weltkrieg – allein in Deutschland wurden jährlich mehr als 950 Millionen Postkarten verschickt –, endete es mit dem Internetzeitalter. In den vergangenen Jahren fiel in Deutschland das Postkartenaufkommen auf unter 30 Millionen.

Schien der Niedergang der Postkarte in Zeiten schneller Informationsübertragung im Internet unausweichlich, sagten manche sogar ihr baldiges Ende voraus, werden Postkarten heute wieder als Zeichen persönlicher Aufmerksamkeit, als Andenken und Sammelstück geschätzt.

Das Erforschen von Postkarten ist nicht nur eigenes Wissenschaftsgebiet geworden, um die Postkarten hat sich längst ein florierender Sammlermarkt entwickelt. Konnte man noch in den 1960er-Jahren vor 1900 produzierte Lithokarten für einen Pappenstiel von ein paar Schillingen kaufen, kosten diese heute oft zwischen 50 und 100 Euro. In den späten 1970er- respektive frühen 1980er-Jahren wurden seltene, alte Postkarten immer mehr zum Ziel sammlerischer Begierde, für die Sammler inzwischen Höchstpreise zahlen. Die bislang wohl teuerste und auch älteste Postkarte der Welt versteigerte ein Londoner Auktionshaus 2002 für 31.000 britische Pfund (zum damaligen Kurs rund 50.000 Euro). Es handelte sich um eine handgemalte, humoristische Ansichtskarte aus dem Jahr 1840, mit der ersten Briefmarke versehen, der britischen Penny Black. Ansichtskartensammler nennen sich etwas großspurig Philokartisten und sammeln alte Litho-Karten, Landschaftsansichten, Kunstkarten, Propagandakarten, Motivkarten, Kitschkarten, Karten von den Weltkriegen, „Gruß aus …“-Karten, Judaica, erotische Karten und vieles mehr. Auch ein Sammelgebiet, welches die Philatelie mit der Philokartie verbinde ist das Thema „Postvermerke“. Hier sind Postkarten gemeint, die einen zusätzlichen Vermerk wie „Nachträglich entwertet“, ”Nachgebühr“, „Empfänger unbekannt“ oder „unbekannt verzogen“, „Annahme verweigert“, „Zurück (Retour) zum Absender“, „Absender unbekannt“ oder die Angabe einer falschen Postleitzahl oder eine unkorrekte beziehungsweise fehlerhafte Anschrift aufweisen.

Doch nicht nur Sammler haben die Postkarte für sich entdeckt, sie wurde in den 1970er-Jahren auch zum künstlerischen Objekt. Mailart, die Kunst auf und um die Postkarte, wurde von Starkünstlern wie Ben Vautier oder Wolf Vostell genutzt, um ihre Ideen und Konzepte über den Postweg – abseits der Kommerzialisierung und des Kunstbetriebs – zu verbreiten und dabei auch künstlerische Netzwerke aufzubauen.

Bekannt ist der künstlerische Postkartenverkehr zwischen Werner Schwab, früh verstorbenes Enfant terrible des Theater-und Literaturbetriebs, und dem Künstler Janos Erdody, die sich über ein Jahrzehnt, von 1978 bis 1990, Ansichtskarten mit Gedichten, Zeichnungen und Abfallmaterial von Einkaufszetteln über Kadaverteile bis zu ihren Röntgenbildern zusandten. Das „Post machen“ diente den beiden gleichzeitig als fortlaufende Kommunikation sowie als interaktive Kunstproduktion. Die Gesamtheit der Bilder, Objekte und Texte kann heute als wertvoller persönlicher künstlerischer und politischer Kommentar der beiden Künstler verstanden werden. Wer noch mehr über Postkarten erfahren möchte, dem seien aus der zahlreich hierzu erschienenen Literatur die Bücher „Postkarte genügt“ oder „Viele Grüße – eine Kunstgeschichte der Postkarte“ empfohlen. Am besten wäre es jedoch, einfach wieder einmal eine Postkarte zu verschicken. Das Porto für eine Inlandsgrußkarte kostet 68 Cent, ein günstiges Vergnügen.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.