Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Dass die Welt eine andere geworden ist“

November 2022

Stephan Lessenich (57), Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung, sagt im Interview, dass die Normalität brüchig geworden ist: „Lange Zeit verdrängt, ist die Erkenntnis der Abhängigkeiten heute für viele ein Schock.“ Ein Gespräch mit dem deutschen Soziologen über die Erschütterung einstiger Gewissheiten, über jahrzehntealte Illusionen – und „eine Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht tragen kann.“

 

Herr Lessenich, Sie schreiben, dass das Gefühl, die Welt sei aus dem Lot, heute nicht mehr nur einzelnen Gruppen oder nur einer bestimmten Generation vorbehalten sei …Dieses Gefühl ist zum Lebensgefühl einer ganzen Gesellschaft geworden. Die Krisen der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte, von der Finanz- und Wirtschaftskrise bis hin zu den Migrationsbewegungen, haben die gesellschaftlichen Vorstellungen von Stabilität und Einheit zwar bereits zu hinterfragen begonnen. Aber Corona war der Wendepunkt. 

Der Wendepunkt?
Corona war der Eindringling in eine rückwirkend als heil wahrgenommene Welt. Die Pandemie war die erste Krise, die in unseren Breiten gesamtgesellschaftlich wirksam war. Sie hat in ihrem frühen Stadium den Alltag eines jeden Einzelnen verändert und war damit die erste kollektive Erfahrung auch in Zentraleuropa, dass die Welt eine andere geworden ist. Und diese Erschütterung einstiger Gewissheiten wird fortgesetzt, mit dem Krieg in der Ukraine und in dessen Folge mit der Energiekrise, die für diesen Winter vorhergesagt wird. Noch nicht real, aber bereits als real empfunden, wird auch diese Krise einen weiteren, tiefen Eingriff in die alltägliche Lebensführung darstellen. Breite gesellschaftliche Schichten merken, dass die Zukunft eine ganz andere sein wird. 

Die Normalität hat, wie Sie sagen, Risse bekommen.
Ja. Die Normalität ist brüchig geworden.

Schlagartig?
Nein. Die Risse waren vorher schon da, sie sind durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine jetzt nur in Zentraleuropa sichtbarer geworden. An den europäischen Peripherien, etwa in Griechenland oder in Spanien, ist die Normalität schon vor fünfzehn Jahren erschüttert worden. Und wenn man den Blick weltgesellschaftlich weitet, dann kommt man sehr schnell zum Ergebnis, dass die Normalität, so wie wir sie verstanden haben, in vielen Weltgegenden entweder nie existiert hat – oder zumindest schon lange nicht mehr existiert. Nur in Zentraleuropa konnte oder wollte man diese Risse lange Zeit nicht sehen, diese Risse, die nun auch bei uns zu Konflikten in der Gesellschaft führen werden und die sich in der näheren Zukunft nicht mehr kitten lassen.

Hat man sich zu lange auf einer – zentraleuropäischen – Insel der Seligen gewähnt?
Angesichts des Wirtschafts- und Wohlstandswunders nach dem Zweiten Weltkrieg, der guten Versorgungsposition von Durchschnittshaushalten, der ausgebauten Infrastruktur und den individuellen Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten, hat man sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den reichen Industrienationen des Westens nicht nur wie auf einer Insel der Glückseligen gefühlt, man war tatsächlich auf einer Insel der Seligen. Man wähnte sich im Zentrum der Welt. Und übersah oder ignorierte, dass von diesem Zentrum nicht nur gute Dinge ausgingen. Erst heute sieht man in aller Deutlichkeit, in welchem Ausmaß diese Insel der Seligen beispielsweise davon abhängt, dass ständig Energie in sie reingepumpt wird, über Öl- oder Gas- Pipelines. Erst jetzt merken wir kollektiv, dass unsere Art und Weise des Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens eben doch nicht voraussetzungslos ist. Erst jetzt merkt diese Gesellschaft, dass sie nicht nur ökonomisch, sondern auch in vielen anderen Hinsichten auf Pump gelebt hat. Lange Zeit verdrängt, ist die Erkenntnis dieser Abhängigkeiten, dieser Voraussetzungen heute für viele ein Schock. Das vermeintlich Normale wird erst dann gesellschaftlich ein Thema, wenn es im Entschwinden begriffen ist.

Sie sprechen ja von einer Gesellschaft, die von der Vorstellung anderer Vorstellungen ganz traumatisiert sei.
Die Gesellschaften des Westens haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in kollektiven Lebensvollzügen eingerichtet, die es unnötig gemacht haben, andere Modi des Zusammenlebens auch nur zu denken. Nach Jahren des zunehmenden Wachstums, des zunehmenden Wohlstands, der zunehmenden Teilhabemöglichkeiten für viele und der zunehmenden Handlungsoptionen für Einzelne sind andere Formen der Vergesellschaftung in den Vorstellungswelten der Menschen in immer weitere Ferne gerückt. 

Ein Beispiel? 
Man denkt angesichts der Energieversorgungssituation jetzt nicht etwa die Energiewende radikaler, man fragt sich nur: Woher bekommen wir denn jetzt unser Erdgas? Es sind die Vorstellungen des Anderen regelrecht ausgetrocknet …

Auch jetzt? Auch in dieser Situation?
Ja. Es ist eine Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht tragen kann. Selbst jetzt, wo man eigentlich nicht mehr ignorieren kann, dass die Welt eine andere geworden ist, werden weiterhin lediglich oberflächliche Diagnosen gestellt. Wie beispielsweise jene, der zentrale Fehler sei gewesen, dass man sich energiepolitisch von einem autokratischen Regime abhängig gemacht habe. Es geht in diesem Verständnis nur um Autokratien, die von unserem Energiehunger profitieren, es geht nicht um unseren Energiehunger selbst. Man sagt sich, man müsse lediglich einen demokratischen Staat finden, von dem man Erdgas und Erdöl beziehen könne, dann sei alles wieder gut, dann könne man weitermachen, wie bisher. Die ehrliche Diagnose wird erst gar nicht gewagt.

Und wie würde diese ehrliche Diagnose lauten?
Wie sie lauten würde? Wir müssen das Energieregime unserer Gesellschaften radikal herunterfahren und dann auf einem deutlich niedrigeren Niveau auf erneuerbare Energieträger oder andere Energieformen umstellen.

Dennoch treibt die Menschen, auch das ist ein Zitat aus Ihrem Buch, „die Sehnsucht nach Wiederherstellung des Alten und Gewohnten“.
Ja. Wobei es aus einer psychologischen, gar psychoanalytischen Perspektive verständlich ist, dass man am Liebgewonnenen, Sicherheit-Gebenden, Stabilität-Erhaltenden festhalten möchte. Und wenn der Mensch denkt, dass all das, was passiert, lediglich eine vor­übergehende Erschütterung einstiger Gewissheiten ist, dann ist die Reaktion, zum Gewohnten zurückzuwollen, umso nachvollziehbarer. Allerdings lautet die schlechte Nachricht: Das Alte weicht dem Neuen. Unweigerlich. 

Soll heißen?
Es kann keine Rückkehr zu dieser Normalität geben. Und die sich daraus ergebenden Konflikte können weder stillgestellt noch geheilt werden, indem man einfach die Geldschatullen öffnet, wie in unseren Ländern, wie in Deutschland, wo man für die Abfederung der steigenden Energiepreise binnen kürzester Zeit mal einfach 200 Milliarden Euro aus dem Boden stampft. Es ist der Versuch, das Alte mit dem Scheckbuch wiederherstellen zu wollen, aber das lässt sich nicht ewig fortführen. Wir werden trotz dieser massiven Geldzufuhren in den nächsten Jahren Verteilungskonflikte erleben, die in ihrer Intensität bei uns in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr üblich waren. Wir werden knallharte materielle Verteilungskonflikte erleben, auf Arbeitsmärkten, auf Energiemärkten, zwischen Ländern, zwischen sozialen Klassen. Wir müssten jetzt nach neuen Regeln und Regelmäßigkeiten suchen, sind aber nur dabei, die alten in die Zukunft zu retten. Das ist nicht sehr aussichtsreich.

Das heißt, salopp gesprochen, dass in Ihren Augen die Regierungen momentan lediglich die Stühle auf der Titanic neu streichen?
Ja. Das glaube ich. Das Orchester auf der Titanic spielt laut und immer lauter, in einem verzweifelten Versuch, die bereits erreichte Schieflage des Schiffs zu übertönen. 

Ihr Appell: Wir sind aufgefordert, die Macht der Illusion zu brechen!
Machen wir doch endlich die Augen auf: Wie kann es beispielsweise sein, dass sich die Bemühungen um die Rettung des Weltklimas wie auch die Aktivitäten zu dessen Zerstörung gleichzeitig auf einem historischen Allzeithoch befinden? Wir leben in den reichen Gesellschaften des Westens seit Jahrzehnten kollektiv in einer großen Illusion, aber langsam platzt die Blase. Dass das niemand wahrhaben möchte, das ist ja völlig klar. Weil wir alle Profiteure dieser Illusion sind. Wir sind Profiteure der Illusion, wir könnten die Art und Weise, wie wir unsere Gesellschaften eingerichtet haben, in alle Ewigkeit fortsetzen. Wir sind Profiteure der Illusion, wir könnten alles, was uns in der Welt nicht passt, was uns stört, einfach außen vorhalten. Wir müssten dieser Illusion eine neue Imagination entgegensetzen. Aber das ist eines der Hauptprobleme der Gegenwart: Wir wollen gar keine andere Form der Gesellschaft denken, wir wollen uns eine Gesellschaft, die nur von den Voraussetzungen zehrt, die sie selbst herstellt, gar nicht vorstellen.

Ihre Diagnose der Gegenwart, sie klingt sehr pessimistisch.
Zugegeben: Wenn man mich so reden hört, könnte man meinen, das sei eine defätistische Position. Aber man müsste den wahren, den kruden Verhältnissen, die jetzt so sichtbar geworden sind, Kreatives entgegensetzen. Wir müssten kollektiv kreativ werden, demokratisch, in diesem Gemeinwesen, um die Gesellschaft der Zukunft gemeinsam zu gestalten und konkrete Schritte auf dem Weg dorthin zu definieren. Wir müssten offen reden. Wir müssten überhaupt mehr reden in dieser Gesellschaft.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person
Stephan Lessenich, *1965 in Stuttgart, ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Instituts für Sozialforschung. Von Lessenich sind mehrere Bücher erschienen, unter anderem „Grenzen der Demokratie“, Reclam, 2019 sowie „Neben uns die Sintflut“, Hanser, 2016.

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