Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„In der Dunkelheit entstehen gefährliche Dynamiken“

April 2016

Warum Belgien? Terrorismusforscher Franz Eder (36) im „Thema Vorarlberg“-Interview über Spuren des Terrors, die in den Brüsseler Stadtteil Molenbeek führen, über rechtsfreie Räume unmittelbar neben dem Brüsseler Zentrum und das Versagen belgischer Behörden. Die 260 Radikalen, die in Österreich unter Beobachtung stehen, fürchtet er nicht: „Die Gefährlicheren sind diejenigen, die man gar nicht beobachten kann.“

Warum führen derart viele terroristische Spuren nach Belgien, nach Brüssel?

Ich muss zunächst eines festhalten: Politiker und Medien nennen den Islamischen Staat als Drahtzieher und Organisator der Anschläge, erwecken damit aber das falsche Bild, der IS plane in Syrien diese Anschläge und lasse sie in Europa ausführen. Nun bekennt sich der IS zwar zu diesen Anschlägen und der eine oder andere Attentäter war auch in Syrien, um Kontakte zu knüpfen oder sich ausbilden zu lassen. Bei den Attentätern von Paris und Brüssel handelt es sich aber um Personen, die sich in Europa selbst radikalisiert haben. Diese Terroristen wurden nicht von oben angeworben. Und diese Feststellung ist deswegen so wichtig, weil damit auch klar wird, dass sich die Schuld nicht abschieben lässt. Es beweist nur die Versäumnisse europäischen Staaten. Und Brüssel ist ein Ort, an dem sich diese Versäumnisse in einem besonderen Ausmaß manifestiert haben – dort hat sich eine kritische Masse von Akteuren gegenseitig radikalisiert …

… im Stadtteil Molenbeek, der mittlerweile als Brutstätte des Terrorismus gilt.

In diesem Bezirk, der direkt an das Brüsseler Zentrum angrenzt, ist ein idealer Nährboden für die Art von Terrorismus entstanden, die wir in den vergangenen Monaten und Jahren in Europa erleben mussten. 95.000 Menschen überwiegend migrantischer Herkunft und islamischen Glaubens leben in diesem einstigen Arbeiterviertel, dicht gedrängt auf 5,89 Quadratkilometern Fläche, und mit hohen sozialen Verwerfungen: Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 40 Prozent, vor allem Jugendliche fühlen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Sie sehen für sich selbst keine Perspektive, keine Chance, keine Zukunft, fühlen sich vom „weißen“ Belgien ausgegrenzt. Hass mündet dort vielfach in einer Radikalisierung. In Molenbeek Radikalisierte haben die Anschläge begangen.

Es gibt auch in anderen europäischen Städten Bezirke mit großen sozialen Verwerfungen. Das erklärt also nicht, warum gerade Molenbeek im Zentrum des Terrors steht.

Es ist auch letztlich nicht zu erklären. In deutschen Städten, in Berlin beispielsweise oder in Nordrhein-Westfalen, gibt es Viertel, die ähnliche große soziale Verwerfungen aufweisen. Und trotzdem ist es in Deutschland noch zu keinem vergleichbaren Anschlag gekommen. Manche Erklärungsversuche laufen darauf hinaus, dass die Zuwanderung in Deutschland stärker von Türken und Kurden und weniger von Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten geprägt war, die wiederum anfälliger für Radikalisierungen seien. Ich halte nicht viel von dieser Erklärung. Wir haben bisher keine Antwort auf diese Frage. Denn die Feststellung, warum Sicherheitsbehörden derart überfordert sind, ist ein entscheidender Punkt: Es lässt sich nicht sagen, warum sich der eine radikalisiert und der andere nicht. Es lässt sich nicht eingrenzen, es lässt sich an keinen Parametern festmachen.

Molenbeek war allerdings lange Zeit ein rechtsfreier Raum, eine sogenannte No-go-Area, in die sich die belgische Polizei in der Nacht gar nicht hineingetraut hat. Paris-Attentäter Salah Abdeslam konnte sich dort verstecken, Jugendliche attackierten die Polizei bei dessen Verhaftung …

Auch wenn dort gewiss nicht alle gutheißen, was Abdeslam gemacht hat, hat sich in diesem Viertel das Gefühl manifestiert, dass der Staat als Verkörperung der weißen Belgier gegen die eigene Gruppierung vorgeht, gegen die, die von woanders kommen und anderen Glaubens sind. Und dass Molenbeek überhaupt zu solch einer No-go-Area werden konnte, dokumentiert ein vollkommenes Versagen des belgischen Staates und seiner Sicherheitsbehörden. Politik und Behörden waren froh, das Problem räumlich abgrenzen zu können und nichts tun zu müssen. Man überließ die Bewohner des Viertels mit all ihren Problemen und Verwerfungen sich selbst. Und so entstand ein rechtsfreier, ein von Kriminalität geprägter Raum, in dem sich Salah Abdeslam und die anderen frei bewegen konnten. Wenn dem Ganzen nicht endlich in einer langfristigen Perspektive begegnet wird, nicht nur mit mehr Polizei, sondern endlich auch mit Strukturen vor Ort, werden wir in zehn Jahren noch über das gleiche Problem sprechen müssen. Der Staat, und das gilt nicht nur für Molenbeek, muss endlich wieder das Ohr an der Gesellschaft und ihren Pro­blemen haben – vor allem im sozialen Bereich: Der Staat muss die Probleme der Jugendlichen in solchen Problemvierteln endlich verstehen lernen. Da ist es derzeit vollkommen dunkel. Und in der Dunkelheit können diese gefährlichen Dynamiken erst entstehen …

Welche Rolle spielt der radikale Islam in Molenbeek?

Ein französischer Terrorexperte hat gesagt, wir würden derzeit nicht die Radikalisierung des Islams erleben, sondern die Islamisierung der Radikalen. Die Religion wird da nur als verschobene Ideologie, als Vorwand verwendet, um das radikale Handeln zu rechtfertigen. Die BBC meldete ja, dass die Gruppierung um Salah Abdeslam in einer Gruppe von Menschen gelebt hat, die regelmäßig Alkohol getrunken und Drogen genommen haben und auf Partys gegangen sind – also ein Verhalten an den Tag gelebt haben, das mit dem radikalen Islam nicht in Einklang zu bringen ist. Da sieht man, dass diese angebliche Verbindung zwischen Religion und Terrorismus gar nicht so groß ist, wie immer wieder berichtet wird.

Wie hoch ist eigentlich das Risiko, dass sich unter den Flüchtlingen Attentäter verbergen?

Dieses Risiko kann es immer geben, gar keine Frage – da es aus Sicht des IS oder aus Sicht anderer terroristischer Organisationen durchaus logisch wäre, die Gelegenheit zu nutzen, um Leute unerkannt nach Europa zu bringen. Auszuschließen ist das also nicht. Aber das viel größere Problem geht von Leuten aus, die nicht von außen kommen, sondern bei uns aufgewachsen sind und sich hier, in Europa, radikalisiert haben. Die Attentäter von Paris, die Attentäter von Brüssel sind in Europa aufgewachsen, die sind nicht importiert worden, um Anschläge durchzuführen. Und wenn wir das nicht akzeptieren wollen, werden wir dieses Problem nicht in den Griff bekommen. Auch wenn es fast unmöglich ist, diese Menschen zu erkennen, die sich hier in Europa radikalisiert haben, müssen wir uns trotzdem davor hüten, ganze Gruppen zu stigmatisieren – denn durch die Stigmatisierung erhöhen wir nur deren Radikalisierungspotenzial. Und die Gefahr von Anschlägen steigt.

Die USA haben seit dem 11. September 2001, mit eiserner Hand und unter Verletzung von Menschenrechten, ein System der relativen Sicherheit geschaffen. Ist das denn der einzig gangbare Weg?

Ich würde da sehr aufpassen mit den USA. Denn weitgehend unbekannt ist in Europa, dass sich in den USA im Gegenzug die Radikalisierung von rechts sukzessive erhöht hat. Das ist kein islamistischer Terrorismus, aber einer, der genauso brutal vorgeht, von bewaffneten Gruppen, die den Staat ebenfalls nicht mehr anerkennen. Im Übrigen gibt es einen großen Unterschied zwischen den USA und Europa: Die US-Amerikaner sind in Sachen Integration weitaus erfolgreicher als die Europäer. Die funktioniert dort besser. In den USA fühlen sich viele Migranten nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Und deswegen fehlt der Nährboden für Radikalisierung. Europa hat dagegen nicht so sehr das Problem, Terrorismus zu importieren – wir erzeugen unseren Terrorismus selber.

Wie muss Europa reagieren? Wie kann Europa reagieren?

Vermeintliche Experten haben in den vergangenen Tagen immer wieder gesagt, Europa befinde sich im Krieg. Lassen sie mich eines sagen: Das ist kein Krieg. Es ist schlimm, dass über 30 Menschen bei einem Terroranschlag sterben, aber Krieg bedeutet Flächenbombardements, Folter, Massenvergewaltigung und tägliche, stündliche Todesopfer. Deswegen können wir auf die Terroranschläge auch nicht mit kriegerischen Maßnahmen reagieren. Und mit der Erhöhung von Sicherheitsmaßnahmen lässt sich das Ganze auch nicht verhindern: Natürlich müssen die europäischen Sicherheitsbehörden besser zusammenarbeiten. Aber die Gefahr geht von Menschen aus, die gar nicht am Radar der Sicherheitsbehörden aufscheinen. Das ist ja gerade das Gefährliche. In Österreich, heißt es, sind derzeit 260 Personen unter permanenter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Ich mache mir um diese 260 keine Sorgen. Das ist der innerste Kern, den man recht gut kontrollieren kann. Ich mache mir Sorgen um jene, die außerhalb dieses Kreises stehen und von denen wir nicht das Geringste wissen. Die, die man gar nicht beobachten kann, das sind die Gefährlicheren! Wenn sie sich entschließen, in den innersten Kreis der Radikalisierten vorzudringen, tun sie dies meist mit Terroranschlägen. Und dann ist es zu spät.

Und was kann man da tun?

Einer der Brüsseler Attentäter war aus der Türkei ausgewiesen worden. Nicht wegen Terrorismus, wegen Kleinkriminalität! Was sollen die Behörden da tun? Auf Verdacht hin jeden Kleinkriminellen beobachten? Nur weil jemand kleinkriminell ist, heißt das ja noch lange nicht, dass er ein potenzieller Terrorist sein könnte. Wir können Leute nicht beobachten, die im Vorfeld nicht einschlägig aufgefallen sind. Wie soll denn das gehen?

Peter Gridling, der oberste österreichische Terrorismusbekämpfer, hat vor Kurzem erst gesagt: „Es gibt Grenzen. Mehr können wir nicht tun.“ Genau so ist es. Auch wenn sich das kein Politiker zu sagen traut, müssen wir leider eines akzeptieren, so bitter und schmerzlich das auch ist: Wenn wir in einer freien Gesellschaft leben wollen, sind wir mit solchen Gefahren konfrontiert, vor allem in einer globalisierten Welt. Wir in Europa waren das bislang nur nicht gewohnt, weil wir lange Zeit auf einem Kontinent der Seligen lebten. Menschen in allen anderen Teilen der Welt sind einem viel höheren Sicherheitsrisiko ausgesetzt; die Gefahr ist zu einem Teil ihres Lebens geworden.

Akzeptieren muss man das nicht. Es braucht eine striktere Sicherheitspolitik.

Ich bitte Sie, mich nicht falsch zu verstehen. Es braucht Überwachungs­instrumente, richterlich kontrollierte natürlich. Wir brauchen bessere Sicherheitssysteme, die genau diese Themen berücksichtigen. Das steht gar nicht zur Diskussion. Die Frage ist eine andere: Wie weit wollen wir gehen? Die Franzosen und die Belgier sind extrem weit gegangen. Frankreich hat den Ausnahmezustand ausgerufen, mehrfach verlängert, Bürgerrechte außer Kraft gesetzt. Hat das etwas geholfen? Nein. Es hat nicht geholfen. Die Rechnung „Je mehr Freiheiten wir aufgeben, desto mehr Sicherheit gewinnen wir“ stimmt nicht. Sie geht nicht auf. Der Ansatz muss ein ganz anderer sein: Europas Staaten sagen bereits seit den Anschlägen von Madrid (2004) und London (2005), man müsse etwas ändern. Und nichts wird getan. Man muss endlich die sozialen Ursachen bekämpfen, die Staaten müssen akzeptieren, dass Europa da ein sehr großes Problem hat. Entweder setzen wir uns mit diesem Problem auseinander. Oder eben nicht. Nur müssen wir dann alle mit den Konsequenzen leben.

Fürchten Sie um die Zukunft?

Wir müssen uns auf eine Zeit einstellen, in der Anschläge in Europa immer wieder möglich sind – und in der es immer wieder Anschläge geben wird. Es wäre äußerst naiv, zu glauben, die Anschläge von Brüssel seien die letzten gewesen.
 
Vielen Dank für das Gespräch!

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