
„Ein gewisses Quantum an Widerspruchsgeist“
Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl (60) hat dem Thema Trotz einen Essay gewidmet. Trotz sei eine zwiespältige Eigenschaft, sagt die Wienerin im Interview: „Er kann imponieren und irritieren.“ Ein Gespräch über literarische und reale Archetypen des Trotzes, über Antigone, Kohlhaas und Nawalny – und die Anregung der Publizistin, doch auch im öffentlichen Diskurs einmal Mut zur abweichenden Meinung zu haben.
Frau Strigl, würden Sie von sich selbst sagen, dass Sie ein trotziger Mensch sind?
Ich bin eher trotzig als mit allem gleich einverstanden. Ich bin grundsätzlich skeptisch, wenn Einverständnis vorausgesetzt wird und Einwände als nicht zulässig erachtet werden.
Ist denn Trotz etwas Gutes? Oder etwas Schlechtes?
Das ist die Kardinalfrage. Wir verbinden mit dem Begriff heute zwar eher den Trotz eines Kleinkindes, das seine Grenzen austestet, und nicht das Verhalten eines Erwachsenen. Dennoch haben wir Sympathie für die Vorstellung, einer Übermacht oder einem Mächtigen zu trotzen, und wir haben auch Respekt vor Menschen, die dazu bereit sind. Trotz ist eine zwiespältige Eigenschaft. Der Trotzige kann im Recht sein oder sich nur im Recht glauben. Trotz kann imponieren. Und er kann irritieren.
Imponieren und irritieren?
Es imponiert uns, wenn jemand etwas riskiert, seine Stellung, seine Reputation oder sein Geld, um einer seiner Meinung nach richtigen Position zum Durchbruch zu verhelfen. Trotz ist in diesem Sinn auch eine Form der Zivilcourage, auch einmal Nein zu sagen, wenn alle anderen Ja sagen. Aber Trotz kann auch irritieren: Wenn man aus reinem Widerspruchsgeist handelt, ohne Argumente für seinen Standpunkt zu haben. Und sich weiter und weiter in seinem Trotz radikalisiert und Mittel einsetzt, die längst in keinem Verhältnis mehr zu einem eigentlich geringfügigen Anlass stehen.
Ihr Essay ist reich an historischen und literarischen Figuren, die Widerständen trotzen. Maria Haim war eine zeithistorische Gestalt, die Nein sagte, als alle anderen Ja sagten.
Maria Haim ist in der Tat eine sehr interessante Figur. Sie war bei der Abstimmung am 13. März 1938 die einzige in ihrer Gemeinde Altaussee, die gegen den Anschluss an Hitler-Deutschland stimmte. 1225 sagten Ja. Nur Maria nicht, eine 21-jährige Bauernmagd. Und weil es erstens keine geheime Wahl war und zweitens ein kleiner Ort, fanden die Dorf-Nazis bald heraus, wer mit Nein gestimmt hatte. Man hat ihr das übel genommen, sie wurde als einfältig und schwachsinnig diffamiert. Aber geschehen ist ihr nichts. Sie war bis zu ihrem Tode in den 1980er Jahren in Altaussee bekannt als die Einzige, die mit Nein gestimmt hatte. Sie hat sich mit dieser Tat aus der Masse herausgehoben.
Sie schreiben, dass der literarische Lieblingsheld Ihrer Kindheit Michael Kohlhaas war …
Das kam daher, dass meine Eltern mich so genannt haben. Ich muss also schon als Kind in innerfamiliären Auseinandersetzungen zum Trotz geneigt haben (lacht). Erst als ich Kleists Novelle gelesen habe, habe ich verstanden, was meine Eltern gemeint haben. Danach war mir aber schon als Kind klar, dass Kohlhaas nicht wirklich ein Vorbild sein kann. Er ist kein ungebrochener Liebling, kein reiner Sympathieträger. Weil er eben diese Grenze von noch vernünftigem, nachvollziehbarem Widerstand gegen eine korrupte Obrigkeit an einem gewissen Punkt überschreitet. Und da wird es in meinen Augen problematisch.
Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde.
Kohlhaas setzt sich ins Unrecht, und zwar auf massive Art und Weise, als er nach dem Tod seiner Frau mit einem Haufen von Bewaffneten brandschatzend und mordend durch das Land zieht. Er handelt in Rage, er steigert sich in einen Wahn. Die Maßlosigkeit in der Durchsetzung seiner Interessen ist der Makel des Protagonisten. Und dieser Makel ist nicht zu tilgen. Trotz allem ist Kohlhaas, für den es im 16. Jahrhundert mit Hans Kohlhase übrigens ein historisches Vorbild gab, ein Archetyp des Trotzes.
Sie beschreiben weitere Archetypen des Trotzes, etwa den Wilderer, den Desperado, aber auch den Dissidenten. Findet sich denn in dieser Figur des Dissidenten Trotz in seiner gerechtesten Form?
Der Dissident ist der ehrenwerte Abweichler vom vorgegebenen Pfad. Er bekennt in einem autoritären Regime aus dem Untergrund heraus oder in einer schwierigen Opposition Farbe. Aber nicht, weil er sich selbst Gerechtigkeit verschaffen oder nur sein Mütchen an einer ungerechten Obrigkeit kühlen will, sondern weil er für die Gemeinschaft oder für die Nation eine Verbesserung einfordert. Und das unter großem persönlichem Einsatz und meistens auch einer großen Opferbereitschaft. In der Literatur wäre Antigone als Vorbild zu nennen, die sich nicht aus persönlichen Motiven gegen den Tyrannen von Theben auflehnt, sondern deswegen, weil der Herrscher die Gesetze der Götter bricht und ihr verbietet, ihren Bruder zu bestatten. Antigone, aber auch real existierende Dissidenten lehnten und lehnen sich auch heute im Namen eines höheren Gesetzes oder eines höheren moralischen Anspruchs auf.
Sie beschreiben auch einen Fall, der der Öffentlichkeit gut bekannt ist: Jenen des Alexej Nawalny, des russischen Dissidenten …
Nawalny war ja schon in Sicherheit. Nachdem er offensichtlich auf Putins Befehl vergiftet worden war, hatten ihm Ärzte in der Berliner Charité das Leben gerettet. Aber kaum war er wieder auf den Beinen, reiste er zurück nach Russland, in die Höhle des Löwen, sehenden Auges, eigentlich in ein selbstmörderisches Unternehmen. Er hat auch gar kein Hehl daraus gemacht, dass er in Russland seinen politischen Kampf fortsetzen will. Er war ein Idealist.
Können Sie, nachdem Sie sich intensiv mit der Geschichte und den verschiedenen Ausprägungen des Trotzes beschäftigt haben, nachvollziehen, warum Nawalny wieder nach Russland zurückkehrte? In seinen sicheren Tod? Tat er dies aus reinem Trotz?
Für mich könnte ich das nicht nachvollziehen. Aber aus seiner Warte schon. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon lange Jahre gegen das System Putin gekämpft, er war als Bürgermeister-Kandidat in Moskau angetreten, hatte viele Verfahren überstanden. Er ging zurück, obwohl er wusste, dass die Zeiten für Menschen mit abweichenden Meinungen immer härter wurden. Man hatte ihn ja gefragt, warum er das mache, und er hat geantwortet, dass er nicht untertauchen, sondern zurück nach Russland wolle und damit seinen Idealen treu bleiben. Es hat einen Hauch von Märtyrertum, dass er seinen eigenen Tod damit einkalkuliert hat. Und er hat ja auch, nachdem er 2021 ins Lager gekommen ist, über Gefolgsleute weiter gegen Putin agitiert. Man muss sich vorstellen: Er sitzt in einem sibirischen Lager, ist allen Schikanen und Foltermethoden ausgesetzt und erhebt weiterhin seine Stimme. In sein Notizbuch schrieb er, er sei sich sicher, dass er in der Lagerhaft vergiftet werde. Und so dürfte es ja gekommen sein, auch wenn Russland Untersuchungen zu seiner Todesursache vereitelt hat.
Kann man sagen, dass sich da der Kreis schließt, zwischen Kohlhaas und Nawalny? Sie wissen beide um das Ende, sie wissen beide, wo sie ihr Trotz hinführen wird.
Anders als Kohlhaas hat Nawalny keinen bewaffneten Kampf geführt. Und anders als Kohlhaas wollte Nawalny auch nicht für sich selbst Recht bekommen; er hatte von Beginn an nur Russland und das Gemeinwesen im Sinn gehabt. Aber die Todesverachtung, das einmal als richtig Erkannte bis zur letzten Konsequenz durchzufechten, das verbindet sie. Und es verbindet sie auch, dass sie beide hundertprozentig davon überzeugt waren, dass ihr Gegner nicht nur das Falsche tut, sondern geradezu das Böse verkörpert, dass sie in ihrem Kampf also auf der richtigen Seite stehen.
Kann eigentlich immer nur der Machtlose trotzig sein?
Ja, allein von der Definition her. Wenn man selbst die Macht hat, muss man ja niemandem mehr trotzen. Das Kind trotzt seinen Eltern, der Schüler dem Lehrer, der Machtlose dem Mächtigen. Trotz bedeutet, jemandem standzuhalten, gegen etwas aufzubegehren und eine gewisse moralische Standfestigkeit zu haben. Und dazu braucht es eine Gegenkraft, die einem überlegen ist. Und wenn sich nun ein Machthaber trotzig gibt, dann spielt er eine Rolle, die ihm eigentlich nicht zukommt.
Sie sprechen von Trump.
Ja. Seine Attitüde des Trotzigen ist eine angemaßte Rolle, die ja überhaupt nicht den tatsächlichen Machtverhältnissen in den USA entspricht. Trump gefällt sich nur als nicht konventionell Agierender; meiner Meinung nach steckt in seinem Gehabe sehr viel Kindisches oder Pubertäres. Jemanden zur Hölle zu schicken, das ist ja nicht unbedingt die Sprache eines Erwachsenen.
Wenn wir jetzt mal von Trump absehen, von diesem Ausnahmefall in jeder Richtung: Nutzt oder schadet Trotz einem Menschen? Lässt sich das überhaupt sagen?
Das ist jetzt auch wieder eine Gratwanderung. In meinem Essay denke ich ja nur über Trotz nach, das ist kein Lebenshilfe-Ratgeber. Aber es gibt allgemeine Erfahrungen. Und die lauten, dass es sich nicht unbedingt günstig auf einen selbst auswirkt, wenn man zu allem Ja sagt. Damit gewinnt man keinen Respekt, weder in der Schule noch später im Beruf. Ein gewisses Quantum an Widerspruchsgeist und eine gewisse Bereitschaft, sich notfalls zu widersetzen, stärkt die eigene Position. Aber: Man muss sich auch immer über die Schulter schauen und versuchen, zu sich selbst eine gesunde Distanz zu wahren. Ist das noch vernünftig, was ich da mache? Oder widerspreche ich nur, weil ich aufzeigen will, dass es mich auch noch gibt? Der Weg, zu einem lächerlichen Querulanten zu werden, ist relativ kurz.
Sie schreiben ja an einer Stelle, aber dort ist das auf den Schriftsteller Handke gemünzt, dass man manchmal in einem trotzigen Menschen auch eine tragische Figur erkennt.
Handke hatte sich in seinem Feldzug, in dem er Gerechtigkeit für Serbien einforderte, an einem gewissen Punkt von der Vernunft abgekoppelt und damit seinem Ruf als Dichter geschadet. Sein Impuls zu Beginn war noch nachvollziehbar, weil die europäische Presse tatsächlich sehr einseitig berichtet und den NATO-Angriff auf Belgrad überhaupt nicht problematisiert hat. Aber danach trug Handke sozusagen Scheuklappen, er wollte nichts mehr wahrnehmen, was nicht in sein Weltbild passte, auch nicht das Massaker in Srebrenica. Auch verbale Gewalt ist etwas, was gegen den Menschen zurückschlägt.
Wollen Sie aus Ihrer Sicht ein Fazit ziehen?
Ein Fazit? (überlegt) Ein bisschen mehr Trotz wäre nicht nur in meinem Metier, also in der Literatur und Literaturkritik wünschenswert, sondern überhaupt im öffentlichen Diskurs. Im Sinne einer abweichenden Meinung. Es gibt ja auch in den sozialen Medien einen Meinungsdruck, wobei ich damit keine bestimmte politische Richtung meine, sondern ein gewisses Mainstreamdenken. Und da einmal auszuscheren und zu sagen, ich sehe das nicht so, obwohl alle anderen derselben gegenteiligen Meinung sind, das fände ich durchaus reizvoll. Denn in einem demokratischen Gemeinwesen stellt es schon eine gewisse Würze dar, wenn sich nicht alles über einen Kamm scheren lässt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person
Daniela Strigl, * 1964 in Wien, ist Literaturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin und Publizistin. Seit 2007 lehrt Strigl als Privatdozentin an der Universität Wien Neuere deutsche Literatur, seit 2022 ist sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Strigl gehört auch der Jury des Tractatus-Preises an. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, aktuell von ihr erschienen: „Zum Trotz. Erkundung einer zwiespältigen Eigenschaft“, Residenz Verlag, Salzburg, 2025.






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