Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Versuche eines richtigen Lebens

Oktober 2025

Der renommierte Soziologe Ferdinand Sutterlüty porträtiert in seinem Buch „Widerstehen. Versuche eines richtigen Lebens im falschen“ Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeiten in ihrem sozialen Umfeld zur Wehr setzen. Die Gründe dafür sind höchst unterschiedlich, doch diese widerständigen Menschen eint eines: Sie beklagen gesellschaftliche Missstände nicht nur, sondern kämpfen auch gegen sie an. Ein Gespräch über die vielen, die schweigen, und über die Frage, warum manche nicht aushalten können, was andere aushalten.

Für sein Buch „Widerstehen“ hat Ferdinand Sutterlüty mehrere Personen interviewt, die dem Soziologen berichten, mit welchen Widrigkeiten sie im Alltag zu kämpfen haben, und wie sie sich dagegen wehren. Zur Einleitung des untenstehenden Interviews soll eine dieser Personen kurz vorgestellt werden, eine Putzfrau namens Iwona.

Die gebürtige Polin Iwona, Jahrgang 1963, beginnt für eine Reinigungsfirma in deutschen Hotels zu arbeiten. Dort erfahren sie und ihre Kollegen – allesamt Migranten – Schikanen, Demütigungen, Ungerechtigkeiten. Im ersten Hotel arbeitet sie tagelang ohne Bezahlung zur Probe. Dann bekommt sie pro gemachtem Hotelzimmer 1,80 Euro. Im nächsten Hotel wird sie um ihren Lohn geprellt. In einem weiteren Hotel dürfen Putzkräfte keine Pause machen. Sie haben ständig Hunger, der Koch aber wirft alles weg, was vom Buffet übriggeblieben ist, und sagt: „Das ist zu gut für euch. Für eure Mägen ist das nichts. Nein!“ Sie erlebt, wie die Hausdame eines Hotels zu einem schwarzen Mädchen „Du Affe!“ sagt. Sie muss unter Tische kriechen, um Tischbeine zu polieren, zerreißt sich dabei regelmäßig ihre Hosen, und bittet deswegen das Hotel, einen Wischmopp zu kaufen. Sie bekommt zur Antwort: „Nein, das kostet Geld.“ Die Fahrzeit eingerechnet, arbeitet sie 16 Stunden am Tag. Doch Iwona beginnt sich zu wehren, sie studiert die Rechtslage, wendet sich an die Gewerkschaft, sie kämpft und erzwingt Verbesserungen für sich und ihre eingeschüchterten Kolleginnen. Das hat Folgen: Sie wird gekündigt. Heute arbeitet sie in einer anderen Branche, engagiert sich aber auch dort unvermindert für die Recht- und Stimmlosen. Iwona sagt: „Ich bin zornig wegen vieler Dinge.“

Herr Professor Sutterlüty, es schockiert, was Iwona im Rahmen ihrer Arbeit in Deutschland passiert.
Ja, es ist schockierend. Die Personen, die ich für mein Buch befragt habe, bewegen sich zumeist durch soziale Räume, die durch eklatante Ungleichheiten geprägt sind. Die damit verbundenen Ungerechtigkeiten aus der Perspektive handelnder Menschen aufzuzeigen, war eines der Ziele des Buches. Iwona hat einen sehr klaren Blick auf die Ungerechtigkeiten in ihrem Umfeld. Aus meiner Sicht jedenfalls ist es sehr beeindruckend, welch findige Mittel sie anwendet, um im Hotel für sich, aber vor allem für ihre Kolleginnen und Kollegen, die aus allen möglichen Ländern kommen, einzustehen und bessere Bedingungen für sie zu erwirken.

Iwona wehrt sich. Zugleich sagt sie Ihnen: „Aber niemand hat den Mund aufgemacht. Niemand!“ Warum hat denn außer ihr niemand den Mund aufgemacht?
Das ist eine sehr gute, aber schwer zu beantwortende Frage. Iwona sagt, sie sei immer schon so gewesen. Bereits als Kind. Sie hat mir von einer Episode aus ihrer Kindheit berichtet, die in dasselbe Muster fällt. Bei ihr lässt sich sehr gut nachvollziehen, dass sie gar nicht anders kann.
Die Schriftstellerin Monika Maron sagte jüngst der NZZ: „Wenn es eng wurde im Leben, habe ich mich befreit, manchmal auch ziemlich rücksichtslos. Woher man das hat, weiß man ja nicht. Warum man nicht aushalten kann, was andere aushalten.“
Das ist eine sehr tiefgehende Frage. Allerdings scheint sie mir so komplex zu sein, dass es darauf nicht die eine befriedigende Antwort gibt. Wir Soziologen glauben nicht daran, dass man alles psychologisch erklären kann, sondern dass sich vieles aus sozialen Umständen ergibt. Das Leben ist in gewisser Weise ein pfadabhängiger Prozess. Da ist nichts von vornherein determiniert. Man sieht das ja auch daran, dass sich Geschwister, die in demselben familiären Umfeld aufwachsen, oftmals völlig unterschiedlich entwickeln. Das hat sicherlich mit der Familiendynamik zu tun, aber eben auch sehr viel mit den Erfahrungen, die im Laufe des Lebens gemacht werden. Aber es gibt einen ganz entscheidenden Punkt: die Selbstbindung. Wenn ich eine Interpretation der sozialen Welt entwickelt habe und mein eigenes Handeln an meiner Vorstellung eines guten Lebens ausrichte, dann hat das einen bindenden Effekt. Dieser Effekt der Selbstbindung ist sehr wichtig, wenn man verstehen möchte, warum manche nicht aushalten, was andere aushalten. Iwonas Interpretation ihrer Arbeitswelt und ihre Selbstbindung an menschenwürdige Sozialstandards sind die Gründe, weshalb sie subjektiv gar nicht den Eindruck hat, aus einer Wahlentscheidung heraus zu handeln.

In Ihrem Buch kommen neben Iwona weitere Menschen zu Wort, die von ihren „alltäglichen Widerstandspraktiken“ berichten. Sie halten auch nicht aus, was andere aushalten.
Iwona kann nicht tatenlos zuschauen, wie ihre wehrlosen Kollegen in deutschen Hotels um ihren Lohn betrogen und gedemütigt werden. Der Seenotretter hält die grausamen Folgen des europäischen Migrationsregimes im Mittelmeer nicht aus; der Lehrer wehrt sich im Sinne seiner Schüler gegen das bevormundend Autoritäre im Schulsystem. Das Bergbauernpaar steht für seine Auffassung einer nachhaltigen und gemeinwirtschaftlichen Landwirtschaft ein. Es ist jeweils unterschiedlich, was diese – und die anderen von mir porträtierten – Menschen nicht aushalten. Aber sie alle haben eine spezielle Diagnose der sozialen Welt; das für sie nicht Aushaltbare resultiert aus den Missständen, die sie in ihrem sozialen Umfeld wahrnehmen.

Sie schreiben, die Widerständigkeit dieser doch höchst unterschiedlichen Menschen beruhe darauf, dass sie die gesellschaftlichen Zustände, in denen sie leben, zutiefst ablehnen.
Ja, das kann ich gerne so stehenlassen. Aber es eint sie noch etwas, und das ist ein sehr markanter Punkt all dieser Figuren: Sie finden nicht nur dieses oder jenes falsch, sondern sie handeln auch. Wir wissen doch alle, wie viele Menschen sagen, mit Blick auf die soziale Lage und den ökologischen Zustand der Welt müsste man eigentlich dieses oder jenes tun oder lassen, und dann bleibt doch alles beim Alten. Bei den von mir porträtierten Personen folgt aus der Erkenntnis auch ein Handeln.

Wobei alle in der Konsequenz gesellschaftliche Außenseiter geworden sind.
Zumindest manche von ihnen haben sich freiwillig dafür entschieden oder sie nehmen das Außenseiterdasein zumindest mit vollem Bewusstsein in Kauf. Das macht ihr widerständiges Handeln und ihre spezifische Lebensform umso beeindruckender. Sie verzichten auf die Anerkennung, die man dafür bekommt, ein konventionelles Leben zu führen und alles zu haben, was andere Menschen auch haben. Meinem Eindruck nach erzeugt die vorhin angesprochene Selbstbindung – also: sich selbst an eine Idee des Richtigen zu binden und die eigene Lebensführung danach auszurichten – bei diesen Menschen allerdings auch ein Konsistenzgefühl. Sie gehören eben nicht zu jenen, die nur kritisieren und dann doch nichts ändern. Deswegen sind sie, bei allen Konflikten, die das Leben natürlich immer bietet, mit sich selbst im Reinen.

Warum machen viele Menschen den Mund auch angesichts gravierender Ungerechtigkeiten nicht auf?
Ich denke, eine Antwort darauf ist, dass viele schlicht und ergreifend einverstanden sind. Viele sind beispielsweise damit einverstanden, wie Migranten und Geflüchtete bei uns behandelt werden, oder sie denken sogar, dass das europäische Migrationsregime noch schärfer sein sollte. Augen zu, und was auf dem Mittelmeer passiert, interessiert sie nicht weiter. Das scheint mir einer der Gründe zu sein, warum so viele Leute schweigen.

Alle, die schweigen, sollen einverstanden sein? Es ist doch so, dass Menschen auch aus berechtigter Furcht vor Konsequenzen schweigen. Manche gewiss auch aus Feigheit.
Auch das, ja. Man ist schließlich für andere Menschen verantwortlich, das eigene Einkommen ist für die Familie oder wen auch immer von Bedeutung. Von der Widerständigkeit eines Menschen sind auch andere in seinem Umfeld oft betroffen. Widerständigkeit zeitigt Folgen. Widerständige riskieren, vor dem bisweilen harten Gericht der Konvention abgeurteilt zu werden. Ihre Widerständigkeit kostet sie etwas: Sie stehen ganz existenziell für ihre Auffassung ein – mit Konsequenzen, die auch andere in Mitleidenschaft ziehen können.

Ein anderes Beispiel aus Ihrem Buch. Ein Ehepaar bewirtschaftet einen Bauernhof, die beiden haben sich der Subsistenzwirtschaft verschrieben, er ist mit anderen Bauern der Umgebung oft uneins und sie sagt Ihnen im Interview: „Er liebt den Widerstand, er braucht ihn sogar, sonst geht es ihm nicht gut.“ Es gibt also auch solche Menschen.
Sicher. Die Bergbäuerin sagt über ihren Mann, was Sie zitiert haben, allerdings lachend. Das Bauernpaar spricht von sozialer Subsistenz. Die beiden führen ein Leben, in dem die lokale Umwelt alles bieten muss, was notwendig ist, auch in sozialer Hinsicht. Sie sind einer bäuerlichen und gemeinwohlorientierten, nicht einer industriellen und gewinnorientierten Form der Landwirtschaft verpflichtet. Deswegen sind sie manchmal uneins mit den anderen Bauern, mit denen sie gemeinsam eine Alpe bewirtschaften. Während die anderen die Alpe mit viel Maschinen- und Futtermitteleinsatz betreiben wollen, will der Bergbauer die viel ökologischere Handarbeit und das Gemeinwirtschaftliche erhalten. Er kämpft für den sozialen Zusammenhalt und er wehrt sich gegen die Industrialisierung der Landwirtschaft. Deswegen kommt es zu Konflikten, die mir aber keineswegs bösartig erscheinen.

Nun haben allerdings nicht alle Menschen, die sich empören, auch wirklich Anlass dazu. Sehen Sie denn auch eine Zunahme bloßen Querulantentums?
Oh ja. Da haben sie absolut recht. Ich kann nur zustimmen und das dann noch doppelt unterstreichen. Alle Welt möchte auf einmal widerständig sein. Als ich vor Jahren auf einer größeren Veranstaltung in Vorarlberg und dann auch an anderen Orten Österreichs war, ist mir in den Diskussionen aufgefallen, dass sehr viele Menschen an der aktuellen Politik kein gutes Haar mehr lassen. Dass sie alles in Grund und Boden kritisieren und sich überhaupt keine Vorstellung davon machen, was es bedeutet, heutzutage Politik zu gestalten. Diese negativistische Haltung des demokratischen Souveräns, diese Pauschalverurteilungen, dieses Hyperkritische – all das ist zu einem enormen Problem, zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung geworden: Wenn die Menschen sagen, dass alles schlimmer wird, dann wird tatsächlich alles schlimmer. Ich lehre in Frankfurt und bin der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule stark verbunden. Aber man muss aufpassen, wie man kritisiert. Denn wer gegen alles und jeden aufbegehrt, verliert jedes Differenzierungsvermögen. Mir ist das ein Rätsel.

Ein Rätsel? Inwiefern?
Es gibt arme Menschen, die viel zu wenig haben, keine Frage. Aber den meisten Menschen in Deutschland, in Österreich, in Mitteleuropa geht es materiell sehr gut. Wir leben in einem unglaublichen Wohlstand, den wir uns eigentlich gar nicht leisten können. Und trotzdem ist alle Welt unzufrieden. Diese nur schwer verständliche Unzufriedenheit, dieses Gegen-alles-Sein ist das Rätsel und eine der großen Fragen unserer Zeit. Wenn man sich empört, sollte man sich schon über das Richtige empören. Dafür lassen sich dann auch Gründe anführen. Iwona wehrt sich gegen eine Situation der Ungerechtigkeit oder sogar des geduldeten Rechtsbruchs. Ich wüsste gar nicht, wie man die von ihr geschilderten Zustände normativ anders einschätzen sollte, als dass sie zutiefst kritikwürdig sind.

Sie variieren Theodor W. Adornos Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Der Untertitel Ihres Buches lautet: „Versuche eines richtigen Lebens im falschen“.
Vielleicht hätte ich Adorno für mein Buch gar nicht gebraucht, mir schien der Untertitel „Versuche eines richtigen Lebens im falschen“ aber sehr passend zu sein. Die Figuren in meinem Buch sind in der Tat der Auffassung, dass sie und wir alle im falschen Leben unterwegs sind, in irgendeiner Form. Deswegen versuchen sie, das Richtige dagegenzusetzen. Allerdings kann man in einer Welt, die falsch ist, nicht sauber bleiben. Deswegen sind es auch nur Versuche eines richtigen Lebens. Eines möchte ich noch sagen: Mein Buch ist ganz und gar unpädagogisch. Darauf lege ich Wert. Ich möchte wirklich niemandem sagen, wie er oder sie leben sollte und was nun das richtige Leben wäre. Nur finde ich die porträtierten Personen sehr inspirierend. In ihrem Spiegel kann man sich selbst betrachten. Sie konfrontieren einen mit ihren jeweiligen Geschichten auf unaufdringliche Weise mit ihrer eigenen Lebensführung, für die sie eine möglicherweise exemplarische Gestalt gefunden haben.

Zu begreifen, was wirklich falsch ist, und sich dagegen zu wehren, das unterscheidet die Wenigen von den Vielen. Kann so ein Fazit lauten?
Das ist, finde ich, zwar keine erfreuliche Nachricht, aber ein passendes Schlusswort.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Ferdinand Sutterlüty 
* 1962 in Egg, ist Professor für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Gewalt- und Kriminalsoziologie, neue Autoritarismen und Praktiken des Widerstands. Von Sutterlüty sind mehrere Bücher erschienen.

Land_Gespräche Hittisau

Ferdinand Sutterlüty ist einer der Referenten, die sich am Samstag, dem 18. Oktober, im Rahmen der Land_Gespräche Hittisau folgendem Thema widmen: „Wohlstand – wie weiter? Worauf es in Zukunft ankommt.“ Wie kam es zu diesem Thema? Den Veranstaltern zufolge „erfreut sich die große Mehrheit der Gesellschaft – auch in den Landgemeinden – eines nie gekannten materiellen Wohlstands. Trotzdem steigt die Unzufriedenheit unter den Bewohnern im Dorf.“ Warum das so ist, und was sich dagegen tun lässt, darüber sprechen an diesem 18. Oktober neben Sutterlüty unter anderem auch Verhaltensökonom Matthias Sutter, Philosoph Ludwig Hasler und die Expertin für Sozialkapital Kriemhild Büchel-Kapeller sowie weitere Experten.

Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung aber erforderlich – unter 05513-6209-250 oder tourismus@hittisau.at.
Die Veranstaltung findet von 13.30 bis 18.00 Uhr im Ritter-von-Bergmann-Saal in Hittisau statt. Weitere Informationen unter www.hittisau.at/kultur

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