Guntram Bechtold

Projektmanager bei der Online-Marketing-Agentur StarsMedia. Die Agentur entwickelt Marketing für Online-Produkte.

Der Tagesanbruch einer neuen digitalen Ära

Juni 2021

Draußen ist es dunkel, die Zeit verfliegt. Schon wieder sind 60 Sekunden rum, und das nächste TikTok Video erscheint auf meinem Smartphone. Nein, ich habe keine Sorge, nicht mehr loszukommen. Es ist nicht der Endorphin-Flash eines Likes, die Spannung eines frechen Kommentars oder die Neuigkeit einer relevanten Nachricht. Es ist vielmehr der praktische Nutzen der einzelnen Clips. Es ist spielerisches Lernen, das mich immer wieder dazu motiviert, noch ein Video anzusehen.
Von Tipps, wie man an einer Tankstelle richtig einkauft, über praktische Beziehungstipps bis hin zu Hacks, die ich selbst an meinem Smartphone ausprobieren kann, ist alles dabei. Ein Clip folgt dem nächsten. Aber was hat TikTok anders gemacht als YouTube, Facebook und Instagram? TikTok ist eine Plattform der neuen Art. Wenn man von Facebook zu Instagram wechselt, merkt man schon einen Unterschied. Statt Schulfreunden zu folgen, findet man auf Instagram eine vertikale Kartierung mit Themen und bei LinkedIn geht es noch einen Schritt weiter mit der fachlichen Sortierung, die zu meinem Beruf passt. 
Unternehmerisch funktionieren die Systeme ebenfalls denkbar anders. Wenn auf Facebook Posting und Werbung einigermaßen unterscheidbar sind – hat man auf Instagram das Gefühl, so gut wie ausschließlich Content zu entdecken. Das Gegenteil ist der Fall. 90 Prozent der Werbeerlöse von Facebook werden heute schon auf Instagram generiert und nur noch zehn Prozent kommen vom Kernprodukt. Kaum ein Unternehmen macht so viel digital Umsatz wie der Konzern von Zuckerberg. Noch verrückter ist es bei Microsofts LinkedIn. Hier wird fast ausschließlich mit dem Zugang der Headhunter Suche verdient – aber das ist ein anderes Thema. 

Das leise Ende der digitalen Steinzeit

Diese Logiken sind alle verständlich – und genau aus diesem Grund vermutlich auch fast schon wieder als „digitale Steinzeit“ zu bezeichnen. Denn der große Unterschied zwischen all diesen erfolgreichen Plattformen und Systemen der neuen Generation wie TikTok sind die fast übermächtig wirkenden Artificial-Intelligence-Kerne – die im Hintergrund die Fäden ziehen und Netzwerke bauen. Vernetzungen, die wir früher bei Facebook mühsam persönlich aufgebaut haben, konnte man bei Instagram durch den Einsatz von Hashtags erreichen. TikTok nimmt uns die Vernetzungsarbeit fast vollständig aus der Hand. 
Die führenden TechnikerInnen dieser innovativen Software Plattformen sind Macher. Sie haben gelernt, wie Big Data erfolgreich eingesetzt werden kann. Sie erkannten, dass es Probleme gibt, die Maschinen besser lösen können als Menschen. Beispielsweise Routing und Netzwerkaufbau. Kombiniert mit Realtime-tracking, Data-fusion und starken Inhalten hat ByteDance so das schnellst wachsende Social Network unserer Zeit geschaffen.
Anhand von verhaltensökonomischen Prinzipien, die automatisiert über Echtzeit gesteuerte Sensoren Daten in die TikTok Cloud saugen, findet das globale Netzwerk zielgenau Angebote für meine Interessen, matcht meine Absichten und spiegelt meinen Charakter. Die automatischen Feeds zeigen genau die Videos an, die mich aktuell bewegen und filtern die verbleibenden 99 Prozent – also alles, was mich langweilen würde. Und so entsteht ein hoch personalisierter Strom an Informationen, die genau meiner Stimmung und meinen Interessen, meinen Bedürfnissen entsprechen. Immer wieder neu, immer wieder anders und alles in Echtzeit.
Eine begeisternde, entmündigende und fast beängstigende Spiegelung meiner inneren Welt. Wie sich unsere Welt entwickeln wird, wenn Maschinen das tun, was sie schon heute am besten können – Ähnlichkeiten und Unterschiede finden – Beziehungen aufbauen, Gedanken auslösen, Informationen und Emotionen einsammeln, Daten strukturieren und Netzwerke schaffen? Das Ergebnis kann man heute nur schwer abschätzen. Was aber definitiv der Fall ist: Die Art, wie unsere Welt funktioniert, wird sich in den kommenden Jahren immer wieder grundlegend verändern. Oder wie Scott Cook sagt: „Wir befinden uns noch in den ersten Minuten des ersten Tages der Internet-Revolution.“
Wir dürfen motiviert, gespannt und engagiert sein, welche Chancen, Herausforderungen und Potenziale noch entstehen, wenn durch digitale Netzwerke unsere globale Gesellschaft und unsere Wirtschaft immer mehr zu einem Kollektiv verschmelzen.

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