
Die Gesellschaft der Angst
Heinz Bude, vom „Spiegel“ zu einem der wirkungsmächtigsten Soziologen Deutschlands geadelt, im Interview mit „Thema Vorarlberg“ über den Kosmos der Angst, eine neue proletarische Schicht und die Generation der 40-Jährigen, die keine Entscheidungen mehr treffen mag.
Die Gesellschaft ist im Wandel – Familienstrukturen definieren sich neu, traditionelle Parteibindungen ändern sich, Konflikte entstehen. Die heutige Zeit, Herr Bude, muss für einen Soziologen doch eine äußerst interessante sein, oder?
Ja, unbedingt. Zeiten, in denen man sich die Augen reibt, wie sich unser Zusammenleben ändert, und gleichzeitig von der Politik zu hören ist, dass es keine Alternative gebe, sind Zeiten für die Soziologie.
Ihre Diagnose ist allerdings eine unangenehme. Sie sagen in Ihrem neuen Buch, dass Angst die Gesellschaft beherrscht.
Das ist vielleicht eine zu starke Formulierung. Ich würde es so sagen: Die Gesellschaft lässt sich auch als ein Kosmos der Angst beschreiben. Sie finden Angst im Bereich der persönlichen Beziehungen, als Beziehungsangst oder Bindungsverlustangst. Sie finden Angst in Organisationen, wo sich die Menschen lieber verstecken, als den Mund aufzumachen. Sie finden Angst um den eigenen Rang als Statuspanik – und sie finden Angst im Blick auf die internationalen Finanzmärkte als Angst vor einem nächsten großen Crash. Angst tritt einem in sämtlichen Bezügen unserer Gesellschaft entgegen.
Woher kommt diese Angst, soziologisch erklärt?
Die Welt, aus der die allermeisten von uns kommen und von der die allermeisten noch träumen, ist eine Welt der breiten Mitte der Gesellschaft, eine Welt, in der man bestimmte soziale Rechte, ein gewisses Einkommen und einen ähnlichen Lebenszuschnitt hatte. Diese Welt, wie wir sie kennen, geht vorüber, in etwas Neues, Unbekanntes, noch Undefinierbares. Wir wissen nicht, in welche neue soziale Welt wir uns hineinbewegen, in welche Explosion von Unterschieden und Ungleichheiten. Die Menschen haben für diesen unbekannten Kontinent keinen Begriff. Aus dieser Begrifflosigkeit resultiert die Angst, in eine Welt zu geraten, die nicht mehr die eigene ist. Bei sich zu Hause fremd zu werden. Österreicher und Deutsche sehen beispielsweise, dass sich in anderen Ländern, in Großbritannien oder in den USA, Gesellschaften ohne Mitte etablieren. Da findet man einen großen Bereich von Privilegierten und einen noch größeren Bereich von Unterprivilegierten, mit dazwischen schmelzenden Zonen der Mitte. Und es ist möglich, dass auch wir eine solche Gesellschaft bekommen werden, die ohne eine ausgleichende, verankernde Mitte auskommen kann.
Ist die Angst, die Sie beschreiben, also ausschließlich eine Angst der gesellschaftlichen Mitte?
Nein. Die Mitte ist ein Herd der Angst. Aber es gibt auch, und das ist eine zentrale Erkenntnis meiner Forschungen, eine neue Form der Proletarität in unserer Gesellschaft – eine proletarische Struktur, die nicht mit der Industrie verbunden ist, sondern mit der Dienstleistung. Das sind Menschen, die als Paketzusteller arbeiten oder in der Gebäudereinigung, die in der Transportbranche tätig sind oder in der Pflege. Bei diesen Arten von Tätigkeiten handelt es sich um körperlich anstrengende, mental herausfordernde Tätigkeiten, die den Menschen viel abverlangen, auch an Arbeitszeit, bei schlechter Bezahlung von vielleicht 1000 Euro netto im Monat. Das noch Beängstigendere ist aber, dass in diesen Bereichen keine Aufstiegsmöglichkeiten existieren. Ich sage es salopp: Wenn Sie Gebäudereiniger sind, dann können Sie nicht Obergebäudereiniger werden.
Soll heißen?
Wenn Sie in einem solchen Job festsitzen, dann bleiben Sie Ihr ganzes Leben fest, ohne irgendeine Möglichkeit, nach vorne oder hinauf zu kommen. Das sind die Milieus der Statusfatalität in unserer Gesellschaft. Und diese neue Art des Proletarischen ist im Unterschied zum alten Industrieproletariat dadurch gekennzeichnet, dass es vermehrt weiblich ist und viele ethnische Zuflüsse hat. Dieser Bus, in dem Leute aus dem Dienstleistungsproletariat sitzen, bleibt immer gefüllt, mit Arbeitsmigranten, mit Einwanderern, mit ehemaligen Flüchtlingen, auch mit Illegalen. Daran ändert sich nichts. In diesem Bus herrscht die Angst, dass man die Kraft verliert. Pakete kann man vielleicht 20 Jahren lang austragen, im besten Fall. Da sitzen einem die Jungen und Fitten im Nacken. Wer alt erscheint, wird aussortiert und bekommt so viel Rente, wie wenn er nie gearbeitet hätte.
Zynisch spricht man da von Wohlstandsverlierern.
Ich würde nicht von Wohlstandsverlierern, sondern von einer neuen proletarischen Schicht ohne Zukunftsperspektive sprechen. Das sind in Deutschland immerhin 12 bis 14 Prozent der Beschäftigten! Das sind auch nicht eigentliche Verlierer des Wohlstands. Denn diese Leute werden benötigt: Finanziell gut ausgestattete Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind, sind auf diese neuen Dienstleistungsjobs angewiesen. Die brauchen Leute, die ihnen im Haushalt zur Hand gehen oder ihnen bei den neuen Formen des Konsums, des E-Commerce, die Dinge nach Hause bringen, und sie brauchen Leute, die für ihre pflegebedürftigen Familienangehörigen da sind. Es hat sich ein Kranz neuer proletarischer Schichten um jene gebildet, denen es relativ gut geht. Diese Schicht wird bleiben. Mit einem wesentlichen Unterschied zu dem Proletariat, das wir alle kannten: Das Industrieproletariat hatte noch die Zukunft der Arbeiterbewegung und damit den Glauben, am Ende vorne zu stehen. Aber für das Dienstleistungsproletariat gibt es keine Mission, die ihm kollektiv die Botschaft geben könnte, dass es ihnen auch nur irgendwann einmal besser gehen könnte.
Der Leistungsdruck umfasst allerdings alle Gesellschaftsschichten.
Der Leistungsdruck nimmt eindeutig zu. Noch vor 20 Jahren haben Soziologen geglaubt, der Arbeitsgesellschaft gehe die Arbeit aus. Davon kann heute überhaupt keine Rede mehr sein. Wir leben in einer Hyperarbeitsgesellschaft. Die Mehrfachbeschäftigung nimmt nicht nur unten in der Gesellschaft zu, sie nimmt auch oben zu. Leute arbeiten immer mehr. Und sie arbeiten vor allem immer intensiver. Die Idee der Fabrik ohne Mauern ist in unserer Gesellschaft angekommen, vor allem im Bereich der Hochproduktivitätsökonomie.
Bitte um Beispiele.
Nehmen Sie all diese hoch anspruchsvollen Jobs, beispielsweise im Werkzeugmaschinenbau, in der Feinmechanik, in der Chemieindustrie. Industriesoziologen sprechen von einer Art Kompetenzrevolution, die in der Ökonomie stattgefunden hat und die den Leuten immer mehr abverlangt. Auch hat sich die Steuerung in den Unternehmen verändert. Man spricht da vom Modell der indirekten Steuerung. Das bedeutet, dass der Laden dann gut läuft, wenn jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin das Gefühl haben, dass sie für das Unternehmen den Markt im Blick haben und im Dienste des Unternehmens selbst direkt dem Markt ausgesetzt sind. Der Unternehmer muss diesen Angestellten nicht mehr sagen, was sie zu tun haben. Das wissen die von selbst. Und die Summe daraus – mehr und intensivere Arbeit plus die Bereitschaft, sich veränderten Entwicklungen ständig neu stellen zu müssen – ist eine Ökologie der Angst. Weil sich der Einzelne fragt: Was passiert mit mir, wenn ich ausrutsche? Wer hilft mir wieder hoch? Und wohin falle ich eigentlich, wenn ich in einen Zustand der Erschöpfung komme? Burn-out ist nicht nur ein Modethema. Es ist eine Realität der Hyperarbeitsgesellschaften von heute.
Halt! Es muss ja nicht zwangsläufig etwas Schlechtes sein, wenn sich Arbeitnehmer mit den Zielen der Arbeitgeber identifizieren. Verantwortungsvolle Jobs ermöglichen auch ein eigenständiges Arbeiten.
Ja, natürlich. Aber es ist auch eine Doppelbödigkeit. Ist die Arbeit herausfordernd, bringt sie mehr Anerkennung und damit auch mehr Sinnhaftigkeit für den Einzelnen. Aber sie ist dann auch anstrengender. Und wenn sie mit 50 Jahren merken, dass sie noch bis 65 höchste Leistung bringen müssen und dass es kein Senioritätsrecht gibt, wonach sie die Kugel auch einmal ein bisschen langsamer rollen lassen können, dann heißt das, dass lebenslanges Lernen nicht nur eine positive Herausforderung, sondern auch eine Drohung ist.
Der Mensch ist, auch wenn es banal klingen mag, also in einem Hamsterrad gefangen.
Weite Teile in unserer Gesellschaft würden sagen, das stimmt, das trifft auf meine Situation zu. Man kann dieses Bild sogar noch steigern: Wenn Sie heute junge Familien fragen, wie sie ihre Situation einschätzen, dann sagen drei Viertel der Befragten, dass Elternschaft heute komplizierter und anstrengender ist, als es noch bei ihren Eltern der Fall war. Und wenn man sie fragt, woher das kommt, geben sie zur Antwort: Das liegt an uns selbst. Das liegt nicht an der Politik, die einem nicht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht – daran glauben die jungen Familien schon gar nicht mehr. Vielmehr wissen die jungen Eltern, dass ihre Ansprüche an sich selbst und an ihre Elternschaft größer geworden sind, die Ansprüche, dass man gleichzeitig Familie haben und auch noch ein beruflich erfülltes Leben führen will. Es ist diese Komplexität von Selbstverwirklichungsansprüchen! Die Daseinslast des Lebens beschäftigt heutzutage nicht mehr nur virtuose Philosophen – sie beschäftigt die Alltagswelt.
Sie schreiben, dass sich die Generation der 35- bis 45-Jährigen vor allem dadurch auszeichne, sich nicht festlegen zu wollen – aus Angst, einen Fehler zu machen.
Ich nenne das die „Generation null Fehler“. Sie wollen vor allem keine Fehler in Bezug auf sich selbst machen, sie haben Angst, aus der Fülle der Möglichkeiten eine falsche zu wählen. Wer sich für etwas entscheidet, entscheidet sich gleichzeitig auch gegen etwas. Man will aber die Fülle des Lebens durch die Fülle der Möglichkeiten erleben und nicht als jemand herauskommen, der nicht verstanden hat, was gerade im Augenblick gefordert ist. Das ist die Idee des optionserhaltenden Individuums, die Idee des flexiblen und geschmeidigen Charakters, die Idee des anschlussfähigen Menschen. Sich festzulegen wie einst Michael Kohlhaas, das wäre das Schlimmste für diese Generation.
Nennen Sie die 40-Jährigen eine Generation der Opportunisten?
Da zögere ich etwas. Die Menschen dieser Generation sind von ihrem Bewusstsein her eigentlich keine Opportunisten. Sie wollen ihre Fahne nicht nach dem Wind hängen. Sie sind klug. Eher zu klug. Eher würde ich von der Last durch Klugheit sprechen. Also sich nur ja nicht durch einen Enthusiasmus zu etwas verführen lassen, was man später bereuen könnte. Sondern jeder Enttäuschung vorwegsein glauben zu können. Man will sich selber bewahren und nicht als jemand auffallen, der nicht verstanden hat, wie sich die Welt dauernd ändert, und Moral zeigt, weil er die Welt nicht mehr versteht.
Ist die Zeit der Moralisten vorbei?
Die Zeit der Moralisten ist in dieser Hinsicht vorbei. Ich kann das auch verstehen: Moral als Ersatz für Einsicht nervt. Die Angst, die sagt, „du musst dein Leben selbst führen“, dieses Zittern vor den eigenen Möglichkeiten kann die Moral vor dem Moralismus retten.
Vielen Dank für das Gespräch!
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